Die türkische Regierung übernimmt die Kontrolle über die größte regierungskritische Zeitung des Landes und versetzt den oppositionellen Medien damit einen weiteren schweren Schlag. Die Zeitung „Zaman“ (Zeit) werde nach einem entsprechenden Gerichtsbeschluss vom Freitag unter die Aufsicht einer staatlichen Treuhandverwaltung gestellt, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu.
Die Chefredakteurin des englischsprachigen „Zaman“-Schwesterblattes „Today's Zaman“, Sevgi Akarcesme, sagte der Deutschen Presse-Agentur in Istanbul am Telefon: „Das ist das Ende der Pressefreiheit in der Türkei, und das verstößt gegen unsere Verfassung.“ Es gebe keine Rechtsstaatlichkeit in der Türkei mehr. „Die Regierung hat unsere Zeitung konfisziert“, klagte Akarcesme.
„Zaman“ steht der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen nahe, der im US-Exil lebt. Gülen war einst ein Verbündeter des islamisch-konservativen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, hat sich mit ihm aber überworfen. Gülens „Hizmet“-Bewegung ist in der Türkei inzwischen zur Terrororganisation erklärt worden. Die Bewegung ist auch in Deutschland aktiv und betreibt hier vor allem Schulen und Bildungseinrichtungen.
Erdogan wirft Gülen, mit dessen Hilfe er an die Macht gekommen war, vor, „parallele Strukturen“ – also einen Staat im Staate – in der Türkei mit dem Ziel gegründet zu haben, Erdogan zu entmachten. Ein offizieller Grund für den Gerichtsbeschluss wurde zunächst nicht bekannt. Erdogan bezichtigt Gülen, ein Agent der CIA zu sein.
Der Parlamentsabgeordnete Emrullah Isler von der Regierungspartei teilte über Twitter mit, die Übernahme durch Treuhänder sei „ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die parallele Struktur“. Weiter schrieb er: „Sie zahlen den Preis für ihren Verrat gegenüber dem Staat und dem Volk.“
Der Deutsche Journalisten-Verband kritisierte die Entscheidung des Gerichts, „Zaman“ unter Treuhandverwaltung zu stellen. „Damit werden die letzten Reste der Pressefreiheit in der Türkei ausgehebelt“, sagte der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall.
Regierung und Justiz sind in den vergangenen Monaten gegen mehrere kritische Medien vorgegangen, von denen nicht alle der Gülen-Bewegung nahestehen. Die Gülen-nahe Zeitung „Bugün“ wurde im vergangenen Jahr unter Treuhandverwaltung gestellt und auf Regierungskurs gebracht.
Der Chefredakteur der unabhängigen kritischen Zeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar, und der Hauptstadtbüroleiter Erdem Gül waren im November in Untersuchungshaft genommen worden. Das Verfassungsgericht hatte vergangene Woche die Freilassung Dündars und Güls verfügt, denen aber weiterhin lebenslange Haft droht. Erdogan hatte den Beschluss des Obersten Gerichts mit den Worten kritisiert: „Ich sage es offen und klar, ich akzeptiere das nicht und füge mich der Entscheidung nicht, ich respektiere sie auch nicht.“
Der Prozess gegen Dündar und Gül soll am 25. März beginnen. Ihnen wird unter anderem Spionage und Geheimnisverrat vorgeworfen. Das Verfassungsgericht sah das Recht auf Meinungsfreiheit und die Persönlichkeitsrechte Dündars und Güls verletzt.
Erdogan hat die Pressefreiheit in der Türkei längst radikal ausgehöhlt. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen liegt die Türkei auf Platz 149 von 180 Staaten. „Zaman“ hatte nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr eine Auflage von rund 850.000 Stück (Stand März 2015). Sie war damals die auflagenstärkste Zeitung der Türkei. Aus der EU hat es zu dieser Entwicklung bisher keine Proteste gegeben.
Die Entwicklung ist für Angela Merkel sehr problematisch: Sie will in wenigen Tagen mit der Türkei einen Deal schließen, damit die Türkei die Flüchtlinge von der EU abhält. Man kann davon ausgehen, dass in einem Land, in dem derart rabiat gegen ein Presseorgan vorgegangen wird, die Menschenrechte auch sonst nicht geachtet werden – eine eminente Gefahr für alle Flüchtlinge und Migranten, die in das Land abgeschoben werden.
Die Redaktion wendet sich in einem dramatischen Appell an die Öffentlichkeit in Europa. In dem Appell, den die deutsche Gülen-Website dtj veröffentlicht, heiß es:
Im Vorfeld der Parlamentswahlen vom 1. November 2015 wurde die Bugün-Kanaltürk-Gruppe unter Zwangsverwaltung gestellt. Sie war eine der wenigen verbliebenen Sendegruppen, bei der sich die Opposition äußern konnte. Die Zwangsverwalter haben das Unternehmen innerhalb weniger Monate vorsätzlich ruiniert, sodass zwei Zeitungen und zwei Sender schließen mussten.
Und das alles, obwohl die türkische Verfassung, internationales Recht und internationale Vereinbarungen, ohne Wenn und Aber die Pressefreiheit, also die Garantie des Rechtes auf Informationsempfang, unter Schutz stellen. Die Türkei hat diese Vereinbarungen unterzeichnet und sich damit eigentlich verpflichtet, sie einzuhalten.
Paragraf 26 der Verfassung garantiert die Meinungsfreiheit und die Paragraphen 28 und 30 stellen die Pressefreiheit unter Schutz. In Paragraph 30, der zugleich das Recht auf Unternehmertum und Investition garantiert, heißt es: „Druckereien, die nach dem Gesetz als Medienunternehmen gegründet wurden, und weitere zugehörige Einrichtungen und Instrumente der Medienarbeit können nicht unter dem Vorwand, sie seien Werkzeuge oder Instrumente, mit denen Straftaten begangen werden, an ihrem Betrieb gehindert oder beschlagnahmt werden.“ Auch an Paragraph 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention ist die türkische Justiz gebunden.
Wir sind als Zaman die auflagenstärkste Zeitung der Türkei und seit über zwei Jahren Repressionen ausgesetzt; unsere Journalisten bekommen keine Akkreditierungen, Steuerfahnder prüfen andauernd unsere Unterlagen, unsere Anzeigenkunden werden bedroht und unsere Leser erpresst. Und nun soll auch unser Medienhaus unter Zwangsverwaltung gestellt werden.
Das alles sind Zeichen dafür, dass die Türkei in der Liga der demokratischen Länder auf die Abstiegsplätze zurückgefallen ist. Das erfüllt uns mit großer Sorge.
Der Ausweg aus diesem Alptraum ist die Rückkehr zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Hiermit teilen wir unserem Volk, allen Intellektuellen, die von der Demokratie überzeugt sind, sowie der freien und zivilisierten Welt unsere Sorge mit.