Mit Steffi Graf wollte sich Angelique Kerber nach ihrem erstmaligen Final-Einzug in Wimbledon noch lange nicht vergleichen. Doch mit einem weiteren Meisterstück über ihre finale Melbourne-Kontrahentin Serena Williams wäre die 28-Jährige die erste Deutsche seit der Tennis-Legende 1996, die in London triumphiert und sich in der Historie des Rasenturniers verewigen würde. Gleichzeitig würde die Kielerin mit einem Erfolg am Samstag über die Schwester ihrer Halbfinal-Gegnerin Venus Williams eine Bestmarke ihres Idols verteidigen. «Steffi ist ein Champion. Sie hat alles gewonnen, was man gewinnen kann. Ich muss meinen eigenen Weg gehen», sagte Kerber.
Gewinnt Serena Williams die Revanche für das Endspiel in Australien und damit ihren 22. Grand-Slam-Titel, zieht sie mit Graf gleich. «Ich glaube, dass sie auch ein bisschen Druck hat. Sie will Geschichte schreiben», sagte die glückliche deutsche Nummer eins. «Für mich war es immer ein Traum, am letzten Tag in Wimbledon noch dabei zu sein und das Finale zu spielen.»
Trotz eines anfänglichen nervösen Auftritts auf dem Centre Court zog Deutschlands neuer Tennis-Liebling am Donnerstag erstmals in das Endspiel des berühmtesten Turniers der Welt ein. Mit 6:4, 6:4 setzte sich Kerber gegen die fünfmalige Wimbledon-Gewinnerin Venus Williams aus den USA durch. Mit einem Vorhand-Passierball im Stile eines Champions verwandelte sie nach 72 Minuten ihren ersten Matchball. Dann kniete sie auf dem Heiligen Rasen und warf Kusshändchen ins Publikum. «Es ist unglaublich, Venus im Halbfinale zu schlagen», sagte Kerber. «Ich genieße gerade wirklich mein Tennis-Leben. Aber die Euphorie kann noch zwei Tage warten.»
Die Weltranglisten-Erste Serena Williams ließ im ersten Auftritt des Tages auf dem Centre Court der russischen Halbfinal-Debütantin Jelena Wesnina beim 6:2, 6:0 keine Chance. Die ewige Frage nach dem Rekord von Steffi Graf wollte sie anschließend nicht mehr kommentieren.
Im Wimbledon-Finale stand als letzte Deutsche Sabine Lisicki 2013, war dort gegen Marion Bartoli aus Frankreich aber chancenlos. Kerber ist insgesamt die fünfte deutsche Dame im Endspiel - neben Graf und Lisicki schafften das in den 1930ern auch Cilly Aussem und Hilde Krahwinkel.
An die große Bühne gegen Serena Williams hat Kerber beste Erinnerungen. Vor gut fünf Monaten gewann sie im Endspiel von Australien gegen die Nummer eins der Damen-Welt ihren ersten Grand-Slam-Titel. «Sie war furchtlos», erinnerte sich Williams. «Wenn ich in das Finale gehe, muss ich auch furchtlos sein, wie sie es war.»
In ihrem Premieren-Finale bei einem der vier Majors Ende Januar spielte die Schleswig-Holsteinerin überragend und wie entfesselt - und sorgte für den ersten Grand-Slam-Titel einer deutschen Spielerin seit Graf 1999. «Wenn es eng wird, würde ich auf Kerber setzen», sagte Bundestrainerin Barbara Rittner. «Wenn eine Serena ihr bestes Tennis spielt, ist fast nichts zu machen.»
Kerber wirkte in den vergangenen Tagen selbstbewusst und entschlossen. Für ihr zweites Wimbledon-Halbfinale betrat sie an einem denkwürdigen Jubiläumstag der deutschen Tennis-Geschichte den Platz. Auf den Tag genau vor 25 Jahren triumphierte in einem deutschen Wimbledon-Finale Michael Stich über Boris Becker.
Kerber wusste zu dem Zeitpunkt bereits vom Ausgang des anderen Halbfinals. Fünf Spiele konnte keine ihren Aufschlag halten, dann brachte die Norddeutsche erstmals ihr Service durch. Mit 5:2 führte sie, musste ihre 36 Jahre alte Rivalin aber auf 5:4 wieder herankommen lassen. Doch eine verschlagene Vorhand von Williams bescherte ihr wenig später den ersten Satz.
2008 hatte Venus Williams zuletzt ihre Schwester im Wimbledon-Finale besiegt. Diesmal spielte sie nicht stark genug, um Kerber aufzuhalten. Die Kielerin bekam im zweiten Abschnitt kurzzeitig noch einmal Probleme, blieb aber nervenstark erneut ohne Satzverlust. Nach dem bitteren Erstrunden-Aus in Paris hat sich die Linkshänderin eindrucksvoll zurückgemeldet. Wie nach Melbourne wird sie in der Weltrangliste nach Wimbledon wieder auf Position zwei geführt, direkt hinter Serena Williams.