Deutschland

Angela Merkel orientiert sich neu und geht auf Distanz zu Brüssel

Lesezeit: 6 min
15.08.2013 03:49
Angela Merkel verabschiedet sich offenbar von der Illusion einer tieferen Integration der EU. Sie schlägt plötzlich vor, dass Kompetenzen von Brüssel an die Nationalstaaten zurückgegeben werden. Der Grund: Merkel fürchtet, dass Investoren den Staaten kein Geld mehr leihen könnten. Dann ist der Sozialstaat nicht mehr zu halten. Merkels wirtschaftliche Gedanken offenbaren, dass der Politik das Heft des Handelns längst aus der Hand genommen worden ist.
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In einem Sommerinterview mit dem DLF und Phönix hat Bundeskanzlerin Angela Merkel erstaunlich distanzierte Töne über eine weitere Integration in der EU verlauten lassen.

Das ist mit Sicherheit zu einem guten Teil Wahltaktik. Merkel weiß, dass die Deutschen der Euro-Rettung sehr skeptisch gegenüberstehen, wie erst neulich eine Studie sehr drastisch belegt hat (hier).

Merkel möchte auch der euro-kritischen Alternative für Deutschland (AfD) etwas Wind aus den Segeln nehmen. Die AfD hat zwar den offiziellen Umfragen zufolge sehr bescheidende Werte. Doch diese Umfragen sind gerade bei neuen Parteien in der Regel sehr unzuverlässig und der Wahlkampf hat noch nicht begonnen. Merkel als alte Taktikerin weiß, dass jede Stimme zählt. Es ist für sie wichtig, dass sie der AfD keine Flanke offenlässt, weil sonst die CDU geschwächt würde.

Merkel macht in dem Interview nicht den Eindruck, dass sie am grundsätzlichen Wahlerfolg ihrer Partei zweifelt. Sie geht davon aus, dass sie wieder Bundeskanzlerin wird – in diesem Punkt dürften die Umfragen wegen des desaströsen Zustands der SPD nicht falsch liegen.

Doch das Deutschland, das sie regieren wird, wird ein anderes sein.

Daher macht sich Merkel melancholisch Gedanken darüber, wie es weitergehen wird, wenn sie nach dem 22. September ihre nächste Periode im Bundeskanzleramt antreten wird.

Und da gibt es mehrere grundlegende Probleme, zu deren Lösung die EU nach Merkels Einschätzung offenbar nicht beitragen kann, im Gegenteil: Sie zeigt sich genervt über die vielen nächtlichen Marathon-Sitzungen, bei denen am Ende nichts herauskommt.

Merkel sieht Europa als einen Wirtschaftsraum. Sie hat keine politische Vision von Europa. Ihre Positionen sind deutlich davon bestimmt, was Banken und Wirtschaftsführer ihr erzählen. Und offenbar hat sie gesteckt bekommen, dass sich der Wind gerade dreht.

Das betrifft vor allem eine Illusion: dass nämlich die Zentralbanken die Arbeit der Politik übernehmen könnten, indem sie einfach so viel Geld drucken, dass alle Probleme weggeschwemmt werden. Die FT berichtet, dass es bei den internationalen Investoren erstmals Anzeichen zu erkennen seien, den Ankündigungen der Zentralbanken nicht mehr zu glauben.

Wenn dies stimmt, haben alle Schuldenstaaten ein riesiges Problem.

Auch Deutschland ist in diesem Sinn ein Schuldenstaat. Das Sozialsystem ist nur auf Pump aufrechtzuerhalten.

Und die Investoren wollen nicht mehr leihen. Erst kürzlich hat der größte Pensionsfonds der Welt aus Norwegen bekanntgegeben, seine Bestände an Staatsanleihen zu reduzieren.

Der Grund für diese Trendwende: Die Zinsen für britische, deutsche und amerikanische Staatsanleihen steigen. Die Investoren äußern deutliche Zweifel, dass die Instrumente der Zentralbanken wirklich greifen. Denn tatsächlich hat sich trotz der gigantischen Summen an gedrucktem Geld an der realen Wirtschaftslage in der EU nichts geändert: Die Arbeitslosigkeit ist in den meisten Ländern viel zu hoch. Die Unternehmen stellen keine Leute ein, sondern versuchen, die Produktivität dadurch zu steigern, dass die bestehenden Mitarbeiter zu noch mehr Effizienz angetrieben werden. Die Kredite de EZB und der Bank of England wie auch der Fed kommen nicht bei der Wirtschaft an.

Merkel hat eine klare Vorstellung davon, dass die Politik der Wirtschaft hoffnungslos unterlegen ist. Sie sieht daher die zentrale Aufgabe der Politik darin, der Wirtschaft zu dienen. Sie sagt: „Der Bedeutungsverlust (von Europa) kommt auch daher, dass wir in bestimmten wirtschaftlichen Bereichen nicht mehr an führender Stelle sind…. Der Bedeutungsverlust hängt sehr stark auch mit der ökonomischen Stärke zusammen.“

Merkel weiß: Wenn die Wirtschaft nachlässt, dann werden die Gläubiger ungemütlich: „Wenn wir mehr ausgeben als wir dienen, dann steigt die Staatsverschuldung und dann gibt es plötzlich keine Investoren mehr, die Interesse haben, Staatsanleihen bestimmter Länder zu kaufen.“

Merkel ist sich offenbar im Klaren darüber, dass die Regierungen in Europa nicht sparen werden, weil sie wegen der hohen Schulden gar nicht mehr sparen können.

Die vielen mehr oder weniger erfolglosen Euro-Rettungsaktionen haben offenbar bei Merkel eine erste Ernüchterung ausgelöst. Trotz aller Gremien und Sitzungen sei – drei Jahre nach Ausbruch der Euro-Krise - „dringend Eile geboten, dass Europa an seiner verbesserten Wettbewerbsfähigkeit arbeitet“.

Die Wettbewerbsfähigkeit ist Merkels Kern- und Angelpunkt.

Zitate:

„Ich glaube, dass wir uns in Europa im Augenblick einmal darum kümmern müssen, dass wir enger unsere Wettbewerbsfähigkeit abstimmen und dazu muss ich nicht alles nach Brüssel geben.“

„Wenn Sie wettbewerbsfähig sein wollen, dann müssen die Lohnstück-Kosten in Europa vergleichbar sein. Wenn sie in einem Land viel höher sind, hat das zur Folge, dass das Land seine Produkte nicht mehr verkaufen kann und daher die Arbeitslosigkeit steigt.“

„Die Reformen, die wir jetzt verabredet haben, teilweise über die Rettungsprogramme, teilweise freiwillig, haben zur Folge, dass die Lohnstückkosten sinken.“

Das sind die Sonntagsreden.

Doch Merkel weiß, dass das im Grunde nicht durchsetzbar ist.

Merkel:

„Jedes Land hat eine eigene Form der Lohnfindung.“

„Das Bundesverfassungsgericht hat uns gesagt: Die Sozialsysteme sind ein Kernbestandteil des Nationalstaates. Die kann ich nicht einfach nach Brüssel verlagern. Jedes Land hat eine eigene Tradition.“

Und deshalb ist Merkel plötzlich der Meinung, dass es besser ist, wenn die Dinge in den Nationalstaaten gelöst werden.

So oft wie in diesem Interview hat Merkel noch nie das Wort „Nationalstaaten“ in den Mund genommen.

Selbst wenn das alles nur Wahlkampf-Getöse ist – es ist sehr auffällig, dass Merkel nicht mehr davon träumt, eines Tages die Vereinten Staaten von Europa anzuführen, sondern plötzlich davon spricht, dass man in Zukunft nicht nur darüber nachdenken solle noch mehr „an Kompetenzen nach Europa“ zu geben, sondern dass „man vielleicht eines Tages auch wieder mal was zurückgeben“ könne.

In der ihr eigenen, etwas verklausulierten Form malt Merkel dann ein Bild von Europa, das sich gar nicht mehr mit dem deckt, was die CDU bisher verkauft hat. Merkel spricht von der EU als einer losen Verbindung von Staaten, die freiwillig zusammenarbeiten.

Merkel:

„Mehr Europa ist mehr als nur die Verlagerung einer Kompetenz vom Nationalstaat nach Europa, sondern ich kann auch mehr Europa haben, indem ich mich in meinem nationalen Handeln strenger und intensiver darauf einlasse, das mit anderen zu koordinieren. Das ist eine andere Form von mehr Europa.

Wir werden darüber reden: Brauchen wir noch mehr Kompetenzen für Europa. Wir können auch überlegen: Geben wir wieder einmal was zurück? Die Niederländer diskutieren im Augenblick gerade darüber und diese Diskussion werden wir nach der Bundestagswahl auch führen. Oder machen wir es durch mehr Kompetenzen für die Kommission eben auch dadurch, mit den Nationalstaaten bestimmte Dinge zu verabreden. Das ist mehr Europa.“

Natürlich gibt sie den Zentralismus nicht vollständig auf – das wäre dann doch zu gewagt. Aber das Hintertürchen, welches sie offenhält, ist doch ein sehr kleines Türchen, mit jeder Menge Gestrüpp und vielen Dornenranken, die man erst einmal überwinden muss, wenn man wirklich durchgehen will.

Merkel:

„Aber man kann darüber reden – und deshalb arbeiten wir an Vereinbarungen mit der Europäischen Kommission – wo die Kommission als Beobachter sagt: In dem Land läuft's schief, in dem Land läuft's besser – und ich möchte gerne, dass auch wir Deutschen uns dann verpflichten, wenn die Kommission sagt, bei euch läuft das wieder aus dem Ruder in irgend einem Bereich, dass wir dann verpflichtend uns an die Empfehlungen auch halten, die uns da gegeben werden. Das ist zum Beispiel eine der Weiterentwicklungen, an der wir jetzt auch ganz konkret arbeiten. Das brauche ich gar nicht ins Wahlprogramm zu schreiben. Das bedeutet, dass wir als Nationalstaaten – und das gilt für jeden Nationalstaat in der Europäischen Union – nicht mehr einfach nur das machen können, was wir gerade mal für richtig halten, sondern dass wir verstehen, dass alles was wir tun auch Auswirkungen auf alle Nationalstaaten im Währungsverbund hat.“

In diesem Kontext spricht Merkel vom Euro auch nicht mehr als einem politischen Projekt, für das zu kämpfen es sich lohne. Der Euro ist eine Hilfsmittel für den Wirtschaftsraum: „Ich glaube, dass die Deutschen verstehen, dass der Euro als solches ein großer Vorteil für uns als Exportnation ist.“

Merkels Vision für Deutschland besteht darin, dass Deutschland als Exportnation erfolgreich bleibt.

Das kann mit dem Euro sein.

Das muss aber nicht nur mit dem Euro möglich sein.

Denn Merkel weiß, dass sie die Deutschen nicht die gesamten in Europa angehäuften Schulden begleichen kann. Sie hat daher kein Problem, als Zuchtmeisterin Europas bezeichnet zu werden. Sie verstärkt dieses Bild sogar:

„Ich werde darauf achten, dass diese Solidarität auch zu Ergebnissen führt. Es hat doch keinen Sinn, wenn sich strukturell nichts verändert, wenn ich meine Solidarität dafür ausgebe, dass wir jetzt einfach mal schön solidarisch miteinander sind. Wenn die Wirtschaftssysteme nicht effizient sind, können wir alle so lange solidarisch sein, bis wir alle gemeinsam schwach sind.

Und wenn die Solidarität nicht zu Ergebnissen führt?

Merkel schwadroniert zwar etwas abgehoben von den Vorteilen Europas, etwa, indem sie den absurden Vorschlag macht, „dass es in zwanzig, dreißig Jahren selbstverständlich ist, dass jeder junge Mensch, und nicht nur die Studenten, sondern auch jeder Facharbeiter, eine zweite Fremdsprache kann und dass man dann auch Teile seines Lebens woanders arbeiten kann“.

Diesen Zustand wird es auch in hundert Jahren nicht geben, weil nicht nur die Facharbeiter damit überfordert wären, sondern vor allem, weil ein gigantisches technokratisches Umsiedlungsprogramm in Europa zur sozialen Explosion führen würde. Der für einen funktionierenden gemeinsamen Wirtschaftsraum unerlässliche gemeinsame Arbeitsmarkt ist in Europa nicht möglich, weil dazu den Menschen alle regionalen, kulturellen und sprachlichen Eigenheiten geraubt werden müssen.

Merkel sagt, es wäre schön, wenn es ein „völlig anderes europäisches Bewusstsein“ gäbe, „wenn man weiß, worüber in Schweden diskutiert wird, in Finnland, in Spanien, in Portugal“.

Kein Mensch in Deutschland hat auch nur den Hauch einer Ahnung, was in Finnland oder in Portugal diskutiert wird.

Was die Nationalstaaten Europas erwartet, ist, dass sie aus der Schuldenfalle, in die sie die verantwortungslosen Politiker aller Nationen getrieben haben, nur mit großen Schmerzen herauskommen werden. Selbst das wird nicht gelingen – wie man in Griechenland, Portugal oder Irland sieht: Alle diese Länder sind nach den „Rettungsprogrammen“ noch verschuldeter als davor.

Merkels Auftritt zu Beginn des Wahlkampfs manifestiert sich in einem Satz, der einer Kapitulation gleichkommt: „Welche Lösungsmöglichkeit hat eigentlich nationale Politik heute noch in einer globalen Welt?“

Es ist gut denkbar, dass Merkel nach der Wahl ganz anders reden wird.

Fest steht jedoch: Die Bundestagswahl wird eher folkloristischen Charakter haben.

Die Entscheidungen fallen anderswo.

Welche „Lösungsmöglichkeiten“ den Deutschen und den Europäern nach dem 22. September präsentiert werden, werden andere bestimmen als der Deutsche Bundestag.

Der Schulden-Wahn fordert seinen Tribut.

Die Bundeskanzlerin wird nicht regieren.

Sie wird ausführen.

Der Wahlkampf – ein Abgesang


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