Politik

Sahra Wagenknecht: „Freiheit entsteht aus sozialer Sicherheit“

Lesezeit: 4 min
23.05.2014 19:13
Die Linke Sahra Wagenknecht warnt: Eine weitergehende Entmachtung der nationalen Parlamente könne zur Zerstörung der Demokratie in Europa führen. Zugleich sieht sie ein Parteien-Kartell von der CSU bis zu den Grünen, welches die stets gleiche Politik verfolge. Sie glaubt, dass außerparlamentarischer Druck aus der Gesellschaft entstehen müsse, um die Macht dieses Kartells zu brechen.
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Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Originellerweise haben Sie für Ihr Buch den Titel „Freiheit statt Kapitalismus“ gewählt. Welche Freiheit meinen Sie – im Unterschied zur FDP oder der AfD, die ja auch mit jeweils sehr unterschiedlichen Freiheitsbegriffen an die Wähler herantreten?

Sahra Wagenknecht: Ich meine auch die Freiheit, die aus sozialer Sicherheit entsteht. Soziale Existenzängste durch prekäre und schlecht bezahlte Beschäftigungsverhältnisse, Arbeitslosigkeit oder Altersarmut verhindern die freie Entfaltung der Persönlichkeit vieler Menschen und zwingen sie in eine gesellschaftliche Isolation. Auf der anderen Seite hat der Kapitalismus für eine kleine Minderheit einen Reichtum akkumuliert, der schlicht maßlos ist und die Demokratie gefährdet.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Der traditionelle Marxismus hat darauf gesetzt, dass der Willkür des Einzelnen nur der Zwang des Staates entgegengesetzt werden kann. Gerade die globale Schulden-Krise zeigt, dass die Regierungen ganz massiv die Unfreiheit der Bürger herbeiführen, weil sie sie in die Abhängigkeit der Banken treiben. Müssen sich die Linken von Ihrem Glauben an den Staat verabschieden?

Sahra Wagenknecht: Nein, Demokratie verlangt einen souveränen und entscheidungsfähigen Staat. Schon Ludwig Erhard polemisierte gegen einen schwachen „Nachtwächterstaat“, in dem dann die finanzstarken Wirtschafftslobbys die Richtung vorgeben. Genau da - und nicht im Staat als solchem - liegt doch heute das Problem: Die entscheidende Einsicht der Ordoliberalen, dass eine zu starke Konzentration privatwirtschaftlicher Macht verhindert werden muss, weil sonst nicht nur der Leistungswettbewerb am Markt, sondern auch die Demokratie ausgehebelt wird, wurde missachtet. Die privaten Großbanken sind das eklatanteste Beispiel für Wirtschaftsunternehmen, die aufgrund ihrer schlichten Größe die Allgemeinheit erpressen können.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Ist eine supranationale Einrichtung nicht zwangsläufig der ideale Tummelplatz für Lobbyisten? Gibt es eine „bessere“ EU?

Sahra Wagenknecht: Brüssel ist tatsächlich vom Bürger und einer demokratischen Kontrolle sehr weit entfernt. Deshalb haben die Lobbyisten dort besonders leichtes Spiel. Sicherlich ist eine bessere EU denkbar. Das wäre eine, die nicht auf Förderung, sondern auf Verhinderung wirtschaftlicher Machtkonzentration setzt, die kleine und mittlere Unternehmen mit ihren Regeln begünstigt statt, wie bisher, große transnationale Konzerne. Allerdings muss die Übergabe von Kompetenzen an die europäischen Institutionen strikt auf das begrenzt werden, was wirklich auf europäischer Ebene geregelt werden muss. Das Haushaltsrecht gehört ebenso in die nationale Souveränität wie Bildung und vieles andere. Eine weitergehende Entmachtung der nationalen Parlamente ist eine Zerstörung von Demokratie.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Das EU-Parlament hat schwere Mängel was seine demokratische Mitwirkung anlangt. Müsste man den Wählern nicht fairerweise sagen, dass es sich hier um kein Parlament im klassischen Sinn handelt?

Sahra Wagenknecht: Es kann kein klassisches Parlament sein, da wir keinen europäischen Bundesstaat haben und den, nach meiner Meinung, auch nicht anstreben sollten. Dennoch hat das Parlament inzwischen in vielen Feldern Mitspracherechte, und es ist daher keineswegs irrelevant, wie sich dort die Mehrheitsverhältnisse gestalten. Ob beispielsweise Richtlinien zu Bankenregulierung weichgewaschen oder verstärkt werden, ist keine unwichtige Frage. Aber das Kernproblem des Parlaments besteht darin, dass es nahezu ohne öffentliche Aufsicht arbeitet und der Einflussnahme diverser Lobbyisten damit Tür und Tor geöffnet ist.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: In der Öffentlichkeit wurde auch auf EU-Ebene eine große Koalition (Schulz und Juncker) gehypt, die anderen Parteien kamen so gut wie nicht vor. Erleben wir die Reduktion der Opposition auf eine Art „politisches Feuilleton“?

Sahra Wagenknecht: Es ist ja noch schlimmer. Es gibt ein Parteienkartell aus CDU/CSU, SPD, FDP und den Grünen, das in unterschiedlichen Konstellationen gemeinsam  regiert und dabei im Kern die gleiche Politik macht. Das gilt zum Beispiel für die Agenda-2010-Politik genauso wie für die sogenannte Eurokrisenpolitik. Und das ist auf europäischer genauso wie auf nationaler Ebene. Wie man diesen Zustand bezeichnet ist Geschmackssache.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: In Deutschland haben wir den Eindruck, dass die Machtfülle der Großen Koalition der Opposition fast die Luft zum Atmen nimmt. Wäre es nicht an der Zeit, dass die Opposition sich außerparlamentarische Methoden überlegt, um Druck auf die Regierung zu machen?

Sahra Wagenknecht: Grundsätzlich ist das richtig. Das Problem ist nur, dass relevanter außerparlamentarischer Druck aus der Gesellschaft entstehen muss. Das ist ein Prozess, den eine Partei allein nicht steuern kann.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: In Griechenland zeigt sich, dass die alten politischen Netzwerke jede Krise überstanden haben. Die Syriza versucht einen ganz anderen Ansatz. Wie kann eine linke Partei sicherstellen, nicht genauso von der Macht korrumpiert zu werden wie alle anderen Parteien?

Sahra Wagenknecht: Eine Garantie gibt es nicht. Hilfreich ist sicherlich, wenn ein klarer politischer Kurs durch entsprechende Beschlüsse in einer Partei verankert ist. Auch von Bedeutung ist sicherlich die charakterliche Standfestigkeit der Regierungsmitglieder sowie eine aktiv Einfluss nehmende Partei und Bevölkerung. Elemente direkter Demokratie sind ein gutes Korrektiv.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Eine der Ursachen der weltweit dramatisch gestiegenen Ungerechtigkeit sind die globalen Finanzströme, das „staatenlose Kapital“ (Steven Solomon). Heute ist es möglich, die Inflation unauffällig zu exportieren und arme Länder noch tiefer in die Armut zu stoßen. Wie kann das „staatenlose Kapital“ gezähmt werden?

Sahra Wagenknecht: Die Wirtschaft und das Kapital sind für die Menschen da und nicht umgekehrt. Staaten können sich gegen das „staatenlose Kapital“ durchsetzen, indem sie untereinander kooperieren oder im Notfall den freien Kapitalverkehr einschränken. Letzteres ist keine Utopie, sondern wurde in der Finanzkrise erfolgreich von der isländischen Regierung praktiziert. Viele Zockerinstrumente können auch schlicht verboten werden. Außerdem sollten die Notenbanken aufhören, die privaten Banken konditionslos mit billigem Geld zu fluten. Zugang zu den günstigen Notenbankkrediten sollten nur die haben, die das Geld tatsächlich an die Realwirtschaft weiterreichen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Banken und Konzerne die Politik erpressen. Zugleich schafft die Politik mit dem ESM eine offizielle Schattenbank, die offshore mit den Steuergeldern der Europäern jonglieren kann. Das alles läuft außerhalb jeglicher Jurisdiktion ab, mit voller Immunität für die Bank-Manager des ESM. Muss die Politik sich nicht eigentlich selbst regulieren, bevor sie die Banken reguliert?

Sahra Wagenknecht: Sie muss beides tun. Der Staat kann die Finanzmärkte entwaffnen, er kann Großbanken verkleinern, die Geldschöpfung unter öffentliche Kontrolle stellen, dem Prinzip des Wohlstands für alle folgen, und er kann auch Regeln festlegen, durch die der Einfluss großer Konzerne und mächtiger Lobbyisten auf die Politik wesentlich reduziert wird. Die Mehrheit der Menschen ist für diese Forderungen mobilisierbar. Die Linke kämpft dafür, dass am Ende eine Mehrheit für diese Politik im Parlament entsteht.

Sahra Wagenknechts Buch, „Freiheit statt Kapitalismus. Über vergessene Ideale, die Eurokrise und unsere Zukunft“, ist 2012 erschienen und immer noch lesenswert. Sie denkt weniger in Schablonen als andere Partei-Politiker und entwickelt daher überraschend und bedenkenswerte Ansätze. Das Buch ist bei Campus erschienen und kann hier bestellt werden.


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