Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Erzähl ein wenig über Dich selbst. Wer bist Du? Wann und wo bist Du geboren? Wie bist Du Straßenkünstler geworden?
Paulo Ito: Ich bin 1978 in São Paulo geboren. Als Straßenkünstler arbeite ich seit dem Jahre 2000, seitdem ich 22 bin. Parallel dazu zeichne ich seit meiner frühesten Jugend Comics. Mit den großen Wandmalereien verdiene ich manchmal ein wenig Geld. Ich habe auch schon einige Ausstellungen gemacht.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Von was lebst Du eigentlich? Wie bezahlst Du Deine Rechnungen?
Paulo Ito: Ich male. Die eine oder andere Auftragsarbeit. Wandmalereien, das eine oder andere Portrait... Es ist praktisch unmöglich von meiner Straßenkunst zu leben. Straßenkunst ist ja im Allgemeinen nicht kompatibel mit den Gesetzen des Markts.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Würdest Du sagen, dass Du der Mittelschicht angehörst? Ist es nicht vor allem die Mittelschicht, die heutzutage soziale Themen anspricht, weil sie sich von sozialen Problemen am meisten bedroht fühlt?
Paulo Ito: Ja, ich gehöre der Mittelschicht an. Meine Eltern haben von ihrer eigenen Hände Arbeit und ihren monatlichen Gehältern gelebt. Meine Mutter war Architektin und ist jetzt in Rente. Mein Vater ist Physiker. Aber mein Vorbild ist mein Großvater: Er war Maler, hat große Gemälde gemacht und war – als er noch lebte – immer mein größter Kritiker. Heute bin ich sehr selbstkritisch und diesen Geist habe ich von meinem Opa geerbt. Ich habe an der renommierten Unicamp in Campinas studiert. Damals glaubte ich noch an den Kunstbetrieb und seine Gesetze…
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die „Copa“, die Fußball-Weltmeisterschaft, erweist sich ja als ein idealer Werbeträger für Dich als Künstler und für Deine Kunst. Ohne WM wärst Du nur halb so bekannt, oder?
Paulo Ito: Das ist eine verdammte Unterstellung! Bis jetzt habe ich noch nichts verkauft und schon gar nicht wegen der Fußball-WM! Es ist auch – ehrlich gesagt - nicht mein Ziel an diesem Geschäft mit dem Fußball teilzuhaben.
Mir fällt gerade ein Satz aus so einem Salsa-Lied der Gruppe „Calle 13“ aus Puerto Rico ein: „Se yo quisera vender algo montava una tienda, prefiro regalarte musica aun que no la intienda!“ (Wenn ich Dir etwas verkaufen wollte, dann würde ich einen Laden aufmachen. Ich ziehe es vor, Dir Musik zu schenken, auch wenn ich sie selbst nicht verstehe!)
Das heißt nicht, dass ich kein Geld brauche, um meine Projekte realisieren zu können. Das notwendige Geld erwirtschafte ich nicht mit der WM, sondern vor allem mit meinen kommerziellen Dienstleistungen, Wandmalereien für Privatpersonen, die ich seit Jahren anbiete.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Ist die WM eine gute oder eine schlechte Sache?
Paulo Ito: Ich versuche, die positive Seite zu sehen, auch wenn es mir schwerfällt. Fußball ist ja bekanntlich die wichtigste Nebensache der Welt. Das vielleicht einzig Positive ist, dass durch dieses Mega-Event die Blicke der Welt auf Brasilien gerichtet sind. Das ist für Leute wie mich eine Chance, die Welt auf die riesigen Probleme Brasiliens aufmerksam zu machen. Wir sollten diese Chance wahrnehmen!
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Also haben sich die Ausgaben für Stadien und Organisation doch irgendwie gelohnt, oder?
Paulo Ito: Nein! Ganz im Gegenteil! Höchstens für einige Baufirmen, die mit dem Regime wirtschaftlich verbandelt sind! Es handelt sich um unsere typischen parasitären Unternehmen, die von vornherein geplant hatten, die Bauarbeiten zu verschleppen. Sie wollten von Anfang an in letzter Minute die Preise hochtreiben.
Wenn man alles zusammenzählt, handelt es sich um eine Riesensumme. In Brasilien haben diese Skandale eine Diskussion losgetreten über die Prioritäten des Landes. Was will, was kann man sich noch leisten?
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Glaubst Du, dass die Lage in Brasilien mit den Protesten außer Kontrolle geraten kann? Könnte es sogar in Städten wie Rio oder São Paulo zu einer Art Bürgerkrieg kommen? Siehst Du die Gefahr?
Paulo Ito: Ich halte nichts, aber auch gar nichts für ausgeschlossen! Es gibt und gab schon immer eine große Unzufriedenheit. Unmittelbar sehe ich die Gefahr aber noch nicht!
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie ist das Bild mit dem Jungen entstanden, der mit Messer und Gabel auf sein Mittagessen wartet, aber nur einen Lederball vorgesetzt bekommt?
Paulo Ito: Ich wollte bloß ein Kind darstellen. Ich habe das Wandbild des Straßenkünstlers GOIN in Athen gesehen und mich davon inspirieren lassen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die Message ist sehr eingängig und aktuell.
Paulo Ito: Ja, das stimmt. Es handelt sich um eine dieser Aussagen, die bereits in den Köpfen der Menschen geistern und nur darauf warten dargestellt zu werden.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Welches Bild willst Du der Welt von Deinem Land vermitteln? Es entspricht sicherlich nicht dem Bild, das Präsidentin Dilma und ihre Regierung vermitteln wollen...
Paulo Ito: Nein! Ich bin definitiv nicht mit den Politikern in einem Boot! Ich habe das Vertrauen in die Politik, so wie sie in unserem Land betrieben wird, definitiv verloren. Zum Thema Image ist folgendes zu sagen: Es gibt das Klischee von Samba, Karneval und Frauen im Bikini am Strand. Dem setzt die Regierung kaum etwas entgegen. Ich aber sage: Brasilien und die Brasilianer sind aber mehr als wackelnde Hintern. Manchmal zumindest.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Weiß Dilma und diejenigen, die sie umgeben, wie es den Brasilianern im realen Leben geht?
Paulo Ito: Leute in der Position lesen bloß Zahlen und Tabellen! Das reicht nicht, um das echte Leben zu kennen! Sie sind meilenweit vom echten Leben entfernt, weil sie das echte Leben schon lange nicht mehr auf ihrer Haut spüren! Aber es gibt in unserem Land immer mehr Menschen, die sich wirklich für die Situation ihrer Mitmenschen interessieren. Die Ärmsten waren vor einigen Jahren noch isolierter als heute!
Der renommierte Investigativ-Journalist Antonio Cascais begleitet für die Deutschen Wirtschafts Nachrichten in den kommenden Wochen die Entwicklung in Brasilien. In der Rubrik „Das andere Tagebuch von der Fußball WM“ wird Cascais über die sozialen Probleme und die Proteste der Brasilianer gegen das Kommerz-Spektakel berichten. Cascais hatte zuletzt mit seiner TV-Dokumentation „die story – Geschäfte wie geschmiert?“ (mit Marcel Kolvenbach) für Aufsehen gesorgt. In der Doku zeigten die Autoren die Hintergründe eines U-Boot-Deals in Portugal auf. Der Film ist in der Mediathek des WDR abrufbar.
Teil 1: Die Revolution hat in Brasilien Feuer gefangen