Finanzen

Erdöl-Preiskrieg: Gefährlich nicht nur für Russland, sondern für Weltwirtschaft

Lesezeit: 8 min
27.07.2015 01:44
Alle Indizien deuten darauf hin, dass die Erdöl-Preise auf absehbare Zeit nicht steigen, sondern sogar weiter sinken dürften. Der von den Saudis entfesselte Preiskrieg wird von den USA geduldet, um Russland in die Knie zu zwingen. Doch diese Strategie ist höchst gefährlich: Sie könnte zu einem Einbruch der gesamten Weltwirtschaft führen.
Erdöl-Preiskrieg: Gefährlich nicht nur für Russland, sondern für Weltwirtschaft
Die USA unterstützen die Öl-Politik, um Russlands Präsident Wladimir Putin in die Knie zu zwingen. Doch diese Strategie ist gefährlich - weil der anhaltend niedrige Ölpreis gravierende Auswirkungen auf die gesamte Weltwirtschaft haben wird. (Foto: EPA/MIKHAIL KLIMENTYEV/RIA NOVOSTI/KREMLIN POOL)

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Die Ölpreise haben seit Mitte 2014 einen massiven und beschleunigten Preiseinbruch erlitten. Die Preise haben sich innert eines Jahres praktisch halbiert. Die Baisse ist Teil eines umfassenden Preiseinbruchs bei Rohstoffen seit 2011. Bei Erdöl und Erdgas muss der Preisrutsch aber auch im Kontext von globalen Angebots- und Nachfragefaktoren betrachtet werden, die sektorspezifisch sind. Drei Merkmale zeichnen den Öl- und Gassektor aus. Der innovativste und schnellst wachsende Teilbereich ist hoch verschuldet, hat hohe Produktionskosten und produziert keinen positiven Cash-Flow. Ein Kartell, das sich von dieser innovativen Industrie existentiell bedroht fühlt, führt einen nicht erklärten Preiskrieg gegen sie. Und die Nachfrage nach Erdöl ist kaum preiselastisch. Sie hängt weniger von den Preisen als von der Einkommensentwicklung in wenigen Schwellenländern ab. Anderen Märkten als in der Vergangenheit.

Im ersten Teil der Serie haben wir vier Ursachen für die allgemeine Baisse der Rohwaren hervorgehoben: a) Die Erwartung einer leichten Straffung der US-Zinsen durch die amerikanische Zentralbank, b) Ein starker Anstieg des Dollars, c) Eine starke, ja überschießende Ausweitung der Kapazitäten durch hohe Investitionen, die lange verzögert auf den Markt kommen, d) Dies im Umfeld einer Nachfrageschwäche in China mit Auswirkungen auf viele andere Länder und Wirtschaftsräume.

Öl ist der wichtigste Rohstoff der Welt. Es stellt in globalen Indizes für Rohwaren rund 50% bis 70% des Gewichts dar. Öl ist der wichtigste Energieträger, der für Transport, Heizung/Klima und für Elektrizitätsproduktion Verwendung findet. Öl ist auch Rohstoff für zahlreiche Zwischen- und Endprodukte wie Kunststoffe, Chemikalien. In Preisindizes spielen die Bewegungen von Energieträgern eine große Rolle. Und der Öl- und Gassektor ist ein Sektor, in den in den vergangenen 10 und vor allem 5 Jahren besonders viel Kapital hinein geflossen ist. Deshalb konzentrieren wir uns auf diesen Sektor. Er ist direkt sehr wichtig und hat indirekt über zahlreiche Kanäle weitere Effekte.

Was ist im Ölmarkt passiert? Die Rohöl- und Gasproduktion ist seit 2008 stark angewachsen. Der wichtigste Faktor ist die „Shale revolution“ in den Vereinigten Staaten. Die Revolution ist Fortschritten in der Produktionstechnologie von Öl- und Gas zuzuschreiben. Diese Fracking-Technologie ist eine Kombination von hydraulischem Aufbrechen (engl. hydraulic fracturing) und horizontalem Bohren (horizontal drilling) in tiefen Gesteinschichten. Durch ihren Einsatz hat sich der seit 1970 anhaltende Abwärtstrend der Rohölförderung in den USA innert weniger Jahre komplett umgekehrt. Noch 2008 hatte die Rohölförderung mit durchschnittlich 5 Millionen produzierten Barrels pro Tag das niedrigste Niveau seit 1946 erreicht. Innert weniger Jahre ist diese Förderung bis April 2015 (letzter verfügbarer monatlicher Wert) auf einen historischen Höchststand seit 1970 angestiegen. Die wöchentlichen Daten bis zum 18. Juli lassen einen weiteren Anstieg erkennen.

2014 wurden die USA zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder zum größten Erdölproduzenten der Welt, sie überholten Russland und Saudi-Arabien. Von Saudi-Arabien wurde diese rasante Produktionssteigerung als effektive Gefahr empfunden. Durch die Shale-Revolution könnte das OPEC-Kartell strukturell Marktanteile verlieren und für die Preisbildung bedeutungslos werden. Saudi-Arabien vollzog Mitte bis Ende 2014 ähnlich dem Jahr 1985 einen grundlegenden Kurswechsel. Das Königreich verließ seine traditionelle Rolle als ‚swing-producer’, der den Preis in einem informellen Zielband durch sein Angebotsverhalten stabilisiert. Stattdessen verhinderte es eine Senkung der Produktions-Quoten im Kartell und produzierte demonstrativ anhaltend mehr, als seiner Quote entsprechen würde. Die Produktion der OPEC stieg deshalb parallel weiter auf Rekordhöhen an. An entscheidenden Eckpunkten vermochte das Land dem Markt zu signalisieren, was seine Absicht ist. Diese Angebotsausweitung hat zum Preiskollaps beigetragen. Wesentlich waren dabei Verkäufe der Produzenten über Futures und andere Derivate. Sie wollten ihre zukünftige Produktion auf den hohen Niveaus absichern oder verkaufen und überführten dadurch die Preise in den Sturzflug.

Um die Konstellation dieser beiden Kontrahenten zu verstehen, sollen einige zentrale Merkmale hervorgehoben werden. Die Anbieter im Shale-Bereich in den USA sind nicht die bekannten großen Energiekonzerne, sondern unabhängige, vielfach neu gegründete kleine und mittlere Unternehmen, die raubzugartig Explorationsrechte erworben und damit rasch die Produktion hochfahren.

Aus Anbietersicht gibt es Schwächen dieser Technologie und des Geschäftsmodells:

Hohe Produktionskosten: Fracking ist ein sehr aufwändiges Verfahren, da tief in die Gesteinsschichten hinunter gebohrt werden muss. Der durchschnittliche Break-even Punkte liegt je nach Lage und Erwerbskosten zwischen 70 und 100 $ pro barrel.

Kurze Extraktionsdauer. Eine solche Ölquelle ist nach 1 Jahr zu über 40% ausgebeutet, während bei konventioneller Erdölförderung nur 4% Verlust auftritt. Ein erheblicher Teil der Extraktionsmöglichkeit ist nach zwei Jahren durch.

• Es gibt zwar extrem viele mögliche Gesteinsfelder praktisch in den ganzen Vereinigten Staaten. Die wirklich guten ertragreichen Felder, die hohe Reserven enthalten, sind aber bereits in Exploration und neue sind weniger in Sicht.

• Diese Förderung hat im Boom weder im Öl- noch im Gasbereich im Durchschnitt einen positiven Cash-flow erwirtschaftet. Das Geschäftsmodell war also, mit immer neuer Verschuldung eine hohe Investitionstätigkeit zu finanzieren, um die Produktion andernorts hochfahren und ausdehnen zu können.

• Hohe Verschuldung / wenig Eigenkapital, kein positiver Cash-flow: Bis jetzt konnten die Effekte des Preiskollapses durch die Absicherungs-Operationen mittels Derivaten aufgefangen werden. Jetzt beginnt dann für viele Produzenten die Schmerzperiode, wenn die Absicherungen progressiv auslaufen und die Preise weit unter den Kosten stehen.

Auf der Plusseite kommen Produktivitätsgewinne durch technischen Fortschritt, durch das ‚learning by doing’ und durch billigeres Ausrüstungsmaterial hinzu. Statistisch ist klar erwiesen, dass jedes Jahr die Erträge in den ersten zwei Jahren deutlich gesteigert werden konnten. Die Produzenten versprechen sich durch die Verfeinerung der Technologie anhaltend fallende Kosten für die Extraktion. An der Tatsache, dass nach zwei Jahren die Erträge rasant absinken, hat sich bisher allerdings nichts Wesentliches geändert. Die Branche argumentiert auch ausgesprochen politisch. Sie verspricht mittelfristig eine stark reduzierte Energieabhängigkeit vom Ausland und damit von Krisengebieten.

Aus einer gesamtwirtschaftlichen und politischen Perspektive kommen beträchtliche Umweltkosten hinzu: Die Technologie erfordert einen enormen Wassereinsatz. Es besteht die Gefahr der Vergiftung von Grundwasser und Gewässern. Die für Klimaschutzziele gefährliche Methan- und CO2-Emission ist hoch. Es gibt geologische Probleme durch mögliche Veränderungen der Erdoberfläche für Anwohner, Infrastruktur und Straßen.

Saudi-Arabien hat drei verschiedene Motive, die seine Aktion lenken:

• Es ist ganz klar ein Preiskrieg, mit dem die tight oil Produzenten zerschlagen werden sollen. Aus Sicht der Saudis bringen sie den ganzen Erdölmarkt ins Ungleichgewicht und untergraben die Macht des OPEC-Kartells. Die Flutung des Marktes ist Mittel, um die Marktpreise deutlich unter die Kosten dieser Produzenten zu bringen. Die Absicht ist, viele Quellen unrentabel zu machen und auch die Investoren in diesem Bereich empfindlich zu bestrafen. Man sollte sich keiner Illusion hingeben: Es ist ein Preiskrieg um Marktanteile und um Macht im Erdölmarkt.

• Die Disziplin innerhalb des OPEC-Kartells durchsetzen. Einzelne Länder hatten sich seit längerem nicht an die Quoten gehalten und die Position Saudi-Arabiens unhaltbar gemacht.

Schwächung des Iran. Der Iran braucht dringend Exporte, um sich wieder entwickeln zu können. Der Iran hat keine moderne Ölindustrie. Um die Produktion nachhaltig steigern zu können, braucht das Land hohe Investitionen und damit hohe Ölpreise. Saudi-Arabien ist in der Strasse von Hormuz und im ganzen Mittleren Osten im Kampf um die regionale Vormacht mit dem Iran und den von ihnen unterstützten Regimes oder Organisationen.

Die größte Schwäche der US-Shale-Produzenten ist die Kombination von tiefen oder nicht vorhandenen operativen Gewinnen, einer hohen, schneeballartigen Verschuldung und dem Auslaufen der Absicherungs-Operationen. Die Produktion wird dadurch verlustreich und könnte eine Restrukturierung der Firmen und des ganzen Sektors auslösen. Die Gesellschaften müssen auf Teufel komm raus produzieren, um die Schulden zu bedienen. Solange die Cash-Generation höher ist als die laufenden Kosten, werden sie weiter produzieren.

Saudi-Arabien hat dagegen sehr niedrige Produktionskosten um die 20$ per Barrel, gewaltige bestätigte Reserven, hat einen riesigen Staatsfonds angehäuft, der das Budget des Staates auf rund 5-7 Jahre absichert, ohne auf Einnahmen angewiesen zu sein. Die Aktion von Saudi-Arabien wird im OPEC-Kartell durch andere große Produzentenländer gedeckt, die wie Kuwait oder die Vereinigten Arabischem Emirate eine ähnliche Konstellation aufweisen. Andere OPEC-Produzentenländer allerdings kommen dadurch in eine verzweifelte Situation, weil sie vor allem keine Reserven in Staatsfonds haben und die Budgets auf Preisen von 100 $ per Barrel und mehr beruhen. Besonders exponiert sind Venezuela und Nigeria.

Die Regierung der Vereinigten Staaten hat mindestens kein Veto gegen das Vorgehen der Saudis eingelegt, hat sie vielleicht sogar unterstützt oder ermuntert. Eine der Konsequenzen ist nämlich, dass Russland wirtschaftlich in existentielle Schwierigkeiten kommen wird. Innenpolitisch stößt der traditionell republikanisch ausgerichtete Energiesektor nicht auf besonders viel Sympathie bei der Administration. Diese stört sich an Umwelteffekten und liegt generell mit dem Energiesektor im Clinch, zum Beispiel bei Keystone-Pipeline. Die Administration will in der Energiepolitik einen ganz anderen Weg gehen und erneuerbare Energien fördern. Der Schaden durch ein allfälliges Platzen der Shale-Blase wird zunächst als gering veranschlagt. Der Shale-Sektor hat Schulden von rund 200 Milliarden Dollar. Das ist begrenzt und wird als nicht systemgefährdend angesehen. Weder die Administration noch die Notenbank sehen es als Mission an, eine sektorale Blase zu unterstützen. Für die Präsidentschafts- und Kongresswahlen Ende 2016 sollten tiefere Benzinpreise eine gute Konjunktur garantieren. Tiefe Energiepreise verbessern das reale Einkommen der Haushalte und sorgen für eine gute Konsumentenstimmung.

Der Preisrückgang im Erdöl ist durch diesen Preiskrieg bisher scharf, aber nicht genügend, um eine Bereinigung im Sektor herbeizuführen. Vor allem besteht für Saudi-Arabien keinerlei Motivation, jetzt die Überproduktion einzustellen. Keine der drei Ziele sind erreicht. Im Gegenteil: Alle Evidenz ist da, dass die Shale-Produzenten bei einem Wiederanstieg des Erdölpreises auf über 65 $ pro Barrel die Produktion sofort weiter hochfahren könnten.

Im Erdölmarkt gibt es somit eine Konstellation, die ungewöhnlich ist. Normalerweise reduziert sich das Angebot bei deutlich fallenden Preisen. Umgekehrt sollte die Nachfrage bei so stark fallenden Preisen erheblich steigen. Das Angebot und die Nachfrage sorgen durch unterschiedliche Vorzeichen der Preiselastizitäten für einen Ausgleichsmechanismus. Im Erdölmarkt stimmt dies in der kurzen bis mittleren Frist nicht. Der Fall der Erdölpreise sorgt nicht für eine Reduktion des Angebots, sondern zunächst für eine maximale Ausweitung.

Der ganze Preiskrieg auf der Anbieterseite hat aber nur deshalb die volle Bedeutung, weil die Nachfrage sehr wenig preis-, dafür sehr stark einkommenselastisch ist. Die Nachfrage verändert sich mit anderen Worten selbst auf längere Frist auch bei größeren Veränderungen der Ölpreise kaum. Dagegen steigt sie vor allem mit steigenden Einkommen in den Schwellenländern. Dies sorgt für eine ganz spezielle Preisdynamik. Dabei hat sich diese Nachfrage seit ungefähr 2000 ganz massiv verändert. Bis zu diesem Zeitpunkt dominierte Nachfrage der OECD-Länder die Gesamtnachfrage, sowohl im Niveau wie in den jährlichen Veränderungsraten. Seit 2000 stagniert die Nachfrage aus dem OECD-Raum, während die Weltnachfrage von drei Wirtschafträumen getrieben wird: China, den OPEC-Produzentenländern selber und den BRIC’s (Brasilien, Russland, Indien) auch ohne China. Die Nachfrage dieser drei Wirtschaftsräume dominiert die Zunahme der Gesamtnachfrage und die jährliche Dynamik seither.

Aus diesem Grund werden wir vermutlich eine ungewöhnliche Reaktion der Nachfrage in den nächsten zwei bis drei Jahren sehen. Selbst bei markant tieferen Erdölpreisen steigt die Nachfrage kaum. Sie könnte aufgrund schwerer Einbrüche in Russland, Brasilien und einzelnen OPEC-Produzentenländern und einer Stagnation in China, den übrigen OPEC-Produzentenländern und Indien ohne weiteres fallen.

Damit würde die massive Überproduktion sich fortsetzen. Gegenwärtig übersteigt die Produktion die Nachfrage um rund drei Millionen Barrel pro Tag. Als Reaktion sind die Lager weltweit außerordentlich hoch. In den USA sind sie sowohl für Rohöl wie für Fertigprodukte auf historische Höchststände angestiegen

Für Europa und für Asien gibt es keine in der Qualität vergleichbaren Daten der Lager. Alle Evidenz besagt aber, dass die Lager randvoll sind und dass kaum noch freie Kapazität besteht. Selbst ein nicht unerheblicher Teil der weltweiten Tankerflotte dient inzwischen als schwimmendes Warenlager. Eine die Nachfrage übersteigende Produktion könnte somit einen massiven zusätzlichen Preiseinbruch hervorrufen. Dies entgegen der Markterwartung, welche über die nächsten zwei Jahre eine Erholung der Preise um rund 10-15 $ per Barrel beinhaltet. Diese Erwartung ist doch ungewöhnlich: Ein Preissturz ist noch nie damit zu Ende gegangen, dass Marktteilnehmer deutlich höhere Preise erwarten und deshalb die Lager randvoll füllen. Typisch wären eine generelle Ausverkaufsstimmung und die Erwartung jahrelang tief bleibender Preise. Die Lager würden liquidiert. Dies bei weit reichenden Betriebsschließungen und Bankrotten. So weit sind wir aber noch lange nicht.


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