Die Rohwarenpreise sind unter Druck, einige im freien Fall. Es betrifft dies alle großen Segmente wie Energie (Erdöl, Gas, Kohle), Industrie- und Edelmetalle und agrarische Rohstoffe und somit die Bauern weltweit. Vorausgegangen sind weltweit überschießende Investitionen im Boom von 2005 bis 2013. Die Wachstumsabschwächung Chinas, die Perspektive einer geldpolitischen Straffung durch die Fed und der erstarkende Dollar setzen die Gesamtheit der Rohstoffe unter Druck. Und es gibt segmentspezifische Ursachen, im Erdöl etwa der von Saudi-Arabien im OPEC-Kartell ausgelöste Preiskrieg.
Welche Länder oder Ländergruppe sind wie betroffen? Der erste Gedanke fällt auf die OPEC-Länder oder Russland. Doch das Spektrum ist viel breiter. Die folgende Graphik zeigt einen Überblick über diejenigen Länder welche einen hohen Anteil von Rohstoffen am gesamten Güterexport haben. Die Dienstleistungsexporte sind hier nicht berücksichtigt, so dass dies das Bild etwas korrigieren mag, allerdings nur bei wenigen ausgewählten Ländern.
Exportanteile von 80% plus qualifizieren ein Land als praktisch ausschließlichen Rohstoff-Exporteur. Bei Anteilen von 60-80% ist der Anteil der Rohstoffe dominant. Bei 40-60% sind die Rohstoff-Exporte sehr gewichtig. Generell lässt sich formulieren, dass die Rohstoff-Exporte sich auf eine sehr große Zahl von Ländern konzentrieren, die praktisch exklusiv oder hauptsächlich Rohstoffe ans Ausland verkaufen. Dazu gehören der große Teil des Mittleren Ostens, große Teile Eurasiens, praktisch ganz Afrika und Südamerika sowie Australien und einige Länder Südasiens. In Europa konzentriert sich der ausschließliche oder dominante Rohstoff-Export dagegen auf Norwegen, in Nordamerika auf Kanada. Im Weltmaßstab ist also räumlich ein großer Teil der Länder reine oder hauptsächliche Rohstoffexporteure.
Drei wesentliche Effekte stecken hinter dieser außergewöhnlichen Dichte und Konzentration von Rohstoff-Exporteuren, ein statistischer, ein ökonomischer und ein sozio-politischer:
- Die Rohstoffpreise haben sich im Verlauf der 2000er Jahre versechs- bis verzehnfacht. Hinzu kommen in vielen Ländern bedeutende Produktionsgewinne. Weil die Preise exportierter Industriegüter demgegenüber nur schwach angestiegen sind, hat dies aus rein statistischen Gründen viele Länder zu hauptsächlichen Rohstoff-Exporteuren gemacht. Lag der Anteil der Rohstoff-Exporte zu Beginn der 2000er Jahre bei 20-30%, so ist er durch die Preishausse locker auf 60-80% angestiegen.
- Länder mit flexiblen Wechselkursen bezahlten für den Erfolg der Rohstoff-Exporte mit der holländischen Krankheit (engl. dutch disease): Weil sich die Leistungsbilanzen aktivierten, festigte sich die Währung etwa beim brasilianischen Real, beim Aussie- oder beim Canada-Dollar und hatte eine lange Periode des Überschiessens zur Folge. Dadurch verloren die Exporte von Nicht-Rohstoffen, etwa von Industriegütern, an preislicher Wettbewerbsfähigkeit, sowohl im Export wie auch auf dem Binnenmarkt. Auch gingen die bestqualifizierten Arbeitskräfte tendenziell in die Rohstoffindustrien, weil sie dort viel höhere Einkommen erreichen konnten. Nicht zuletzt auch deshalb, weil der Zugang zu den Rohstoffvorkommen komplexe neue Verfahren, Techniken und berufliche Kenntnisse verlangte.
- Der leicht erzielte, durch die reine Preisentwicklung provozierte Erfolg verleitete viele Regierungen, die Grundlagen für die Entwicklung anderer Industrien zu vernachlässigen – etwa durch Investitionen in Infrastruktur, in das Bildungswesen, aber auch durch die Schaffung attraktiver Rahmenbedingungen wie eines funktionierenden Rechtswesens etc. Stattdessen war der Exporterfolg der Rohstoffindustrien der beste Nährboden für Behördenwillkür, Korruption und Bereicherung der Eliten. Brasilien oder auch die Russische Föderation sind Paradebeispiele für dieses Verhalten, das aber absolut breit gestreut war. Absolut horrible Ausmaße erreichte dies in Nigeria, wo große Teile der Exporterlöse der staatlichen Erdölgesellschaft nie in den Konten des Staates ankamen und bis heute unauffindbar sind. Das Land ist bald bankrott, wenn der neu gewählte Staatspräsident die verschlungenen Kanäle nicht aufdecken und das Geld beschlagnahmen kann.
Die Rohstoffindustrien stehen nicht zu Unrecht im Geruch, die Modernisierung eines Landes unter bestimmten Umständen eher zu behindern denn zu fördern. In Afrika gibt es nicht wenige Länder, welche gerade aufgrund der reichen Rohstoffvorkommen notorisch instabil und konfliktgefährdet sind. Der Kampf um die Ausbeutung der Ressourcen provoziert ethnische oder von den Eliten und Clans geförderte Unruhen und Bürgerkriege. Frühere Kolonialmächte und der Welt-Sicherheitspolizist haben auch in jüngster Zeit nicht davor, zurückgeschreckt, den Griff nach Erdöl mit allerlei zugkräftigen Titeln wie „Kampf gegen den Terror“, „gegen die Achse des Bösen“ oder gegen die „Gefahr von Massenvernichtungswaffen“ zu kaschieren. Irak 2003 oder Libyen 2011 sind diesbezüglich noch in frischer Erinnerung. Es gibt aber auch positive Gegenbeispiele. Mexiko teilte als großer Erdölexporteur alle negativen Merkmale dieser Länder in den 1980er und 1990er Jahren. Es ist heute aber, von einem in der Statistik nicht erfassten Stoff abgesehen, kein primär Rohstoff exportierendes Land mehr, sondern exportiert vor allem verarbeitete Industriegüter. Auch in Südostasien haben verschiedene Länder sich nicht völlig gelöst, aber doch mindestens nebenbei eine große und zum Teil diversifizierte Industrie als zweites Standbein im Export aufgebaut.
Summa summarum bleibt aber die Feststellung, dass nach dem Boom der 2000er Jahre um 2013 oder 2014 eine sehr große Zahl von Ländern, effektiv ganze Halbkontinente oder Kontinente, im Export vollständig oder sehr stark von den Rohstoffpreisen abhängen. Das ist eine völlig andere Situation als irgendwann in der Vergangenheit. Sie ist keinesfalls vergleichbar mit der Situation zu Beginn des Rohstoff-Booms, etwa um 2000. Wären damals die Rohstoffpreise um 50% gefallen, so hätte sich dies auf eine wesentlich geringere Ausgangsbasis bezogen. Die einzige historisch vergleichbare Konstellation stellt vielleicht der Beginn der 1980er Jahre dar, als nicht wenige Länder nach dem Rohstoffboom der 1970er Jahre ebenfalls ähnlich exponiert waren. Allerdings war die Verteilung nie so breit und vor allem nicht so schwarz/weiß (oder dunkelrot – grau in der Graphik) wie heute. Damals waren viele Industrieländer selber noch in bedeutendem Ausmaß Rohstoffproduzenten, zuvorderst die USA, aber auch Deutschland, Frankreich, Spanien, oder die nordischen Länder.
Damit kommen wir zu den Risiken der gegenwärtigen Situation. Eines der Risiken ist nicht nur der hohe Rohstoffanteil an den Exporten, sondern am gesamten nominellen Bruttoinlandprodukt (BIP). Es gibt Länder, bei denen die Rohstoffexporte nicht nur 10%, sondern 20%, 30%, 40% oder sogar mehr des nominellen BIP ausmachen. Diese Länder sind hoch exponiert.
Malaysia erscheint bei den Anteilen der Rohstoffe am Güterexport als nicht besonders gefährdet. Wegen der sehr hohen Exportquote machen die Rohstoffexporte gleichwohl deutlich über 20% des nominellen BIPs aus. Darum ist der Ringgit so extrem unter Druck gekommen. Und weil Malaysia auch ein großer Exporteur von Industriegütern vor allem im Elektronikbereich ist, kann dies das ganze regionale Währungsgefüge zerreißen. Absolut dominant aber ist das Risiko bei einer Reihe von erdölexportierenden Ländern, die Anteile von 30%, 40%, 50% und mehr am BIP aufweisen.
Unter den weiteren Risiken können, ohne ins Detail zu gehen, einige in lockerer Folge aufgezählt werden. Neben Ländern mit einer vernünftigen Politik mit konsistenten Überschüssen in der Leistungsbilanz und einem Aufbau von Devisenreserven gibt es nicht wenige, die schon vor dem Einbruch der Rohstoffpreise zweistellige Defizite in der Leistungsbilanz zur Norm gemacht und eine sehr hohe Auslandverschuldung, womöglich noch alles in Fremdwährung, akkumuliert haben. Kein Wunder, wenn es dort relativ früh einschlägt und der klassische „plötzliche Stopp“ (engl. sudden stop) zuerst dort ausbrechen sollte. Die Budgets zahlreicher Produzentenländer beruhen auf hohen Rohstoffpreisen. Bei Erdölproduzenten nicht selten bei Preisen von 100 $ und mehr. Unvermeidliche Begleiterscheinung des vergangenen Rohstoffbooms sind auch die spektakulären und hoch spekulativen Bau- und Immobilienbooms, welche die Entwicklung in zahlreichen dieser Länder kennzeichnen - keineswegs nur in den Schwellenländern. Die Banken vieler solcher Länder können plötzlich überexponiert erscheinen. Ein Novum in vielen dieser Länder stellt schließlich die hohe Verschuldung des privaten Sektors dar, sei es im Inland bei Banken, sei es im Ausland bei Banken oder am Kapitalmarkt.
Um es kurz zusammenzufassen: Die Welt ist mehr oder weniger zweigeteilt. Eine sehr große Gruppe von Ländern ist extrem rohstoffabhängig im Export. Eine ganze Reihe haben Staatsfonds und andere Formen von Reserven. Manche von ihnen sind aber hoch verschuldet im Ausland, womöglich in Fremdwährungen, haben aber wenig oder keine Devisenreserven und womöglich schon jetzt sehr hohe Leistungsbilanzdefizite. Die Verschuldung bezieht sich nicht nur wie früher auf die Regierung, sondern erstmals auch im ganz großen Stil auf den privaten Sektor, im In- wie im Ausland. Und die Rohstoffhausse war begleitet von außergewöhnlichen Bau- und Immobilienboßs. Mit gleichen oder ähnlichen Merkmalen und Warnsignalen, die man von Spanien, den USA und anderen Ländern vor 2008 kennt. Das hauptsächliche Risiko angesichts dieser historisch doch recht einzigartigen Faktorkonstellation ist der Preis der Rohstoffe. Wie weit werden die Rohstoffpreise noch fallen, wo werden sie sich einpendeln? Das hängt von vielen Faktoren ab. Im Erdöl als absolut wichtigsten Rohstoffmarkt hat die Internationale Energieagentur eine bis mindestens Ende 2016 anhaltende Überschuss-Produktion prognostiziert. Dies bei einer sehr stark wachsend unterstellten Nachfrage und angesichts schon heute randvoller Lager. Analysiert man die gegenwärtige Nachfrage, stellt man einen strategischen Aufbau der Erdölreserven durch China in den vergangenen Monaten fest. Dies repräsentiert keine einmalige, aber angesichts beschränkter Fazilitäten in dieser Form schwerlich immer wieder zu wiederholende Extranachfrage. Zusätzlich kam eine besonders animierte „summer driving season“ in den USA hinzu. Diese wird frühestens im nächsten Sommer wieder stattfinden. Das Risiko ist doch eher, dass die Nachfrage eben konjunkturbedingt in den Schwellenländern langsamer als unterstellt wächst. In einem solchen Fall würde das Undenkbare Tatsache. Der Ölpreis für Brent würde sich nicht von gegenwärtig 48 $ per barrel auf 58 $ festigen, wie dies der Futures-Strip bis Ende 2016 antizipiert. Er würde weiter fallen. Ein Preis von 20 bis 30 $ könnte nötig sein, um die Flurbereinigung auf Produzentenseite herbeizuführen – mit einer Kaskade von Neben- und Folgeeffekten.
Ganz maßgeblich ist schließlich der Ausgang in China. Gelingt dort eine weiche Landung? Das heißt: Schwächt sich das Wachstum zwar wie erwünscht ab, ohne aber einzubrechen. Dies scheint der Kernpunkt zu sein, liegt aber außerhalb des Schwerpunkts dieses Artikels. Angesichts der Aktion der chinesischen Währungshüter haben verschiedene Strategisten diese Woche einen „bullish case“ für Aktien und andere risikobehaftete Aktiven gemacht. Sie heben hervor, dass die Fed nun die Zinsen im September wohl nicht anheben wird. Die bis mindestens Dezember 2015 ausbleibende Zinsaktion als Argument für die Fortsetzung der Aktienhausse. Vorher hat es immer geheißen, die Zinserhöhung könne sogar positiv für die Märkte sein. Dagegen verschweigen die Strategisten vornehm die Risiken, nämlich einer Eskalation der Rohstoffbaisse. Das würde nicht nur die Exporte in diese Länder gnadenlos zusammenstauchen. Auch Banken und der gesamte Finanzsektor hätten dann ein gröberes Problem mit ihren Schwellenländer-Exposures und dem viel gepriesenen, aber de facto wohl doch nicht so ausgefeilten Risikomanagement. Es hat schon deutlich bessere „risk-reward“ Konstellationen in der Geschichte gegeben.