Der Generalsekretär des Europarats, Thorbjörn Jagland, hat in einem Interview mit dem österreichischen Standard an die ungarische Flüchtlingstragödie im Jahr 1956 erinnert: Damals hätte Europa innerhalb von ein paar Wochen 200.000 Flüchtlinge integriert. Heute agiert Europa als wäre das Ende der Welt erreicht, wenn ein paar tausend Vertriebene hier ankommen. Jagland sagte, die Politiker in Europa „dürfen nicht mit solchen Ängsten spielen“. Es gäbe die Europäische Menschenrechtskonvention und Standards, wie Flüchtlinge zu behandeln und „Auffanglager“ geführt werden sollen. Jeder Flüchtling habe das Recht auf ein Verfahren. Jagland hatte sich zuvor mit dem UN-Hochkommissar für Flüchtlinge getroffen. Man solle Aufnahmezentren an den Außengrenzen errichten und diese möglichst „gemeinsam betreiben“, also auch finanzieren.
Die Finanzierung der Flüchtlinge in Europa ist überschaubar, wenngleich die Zahlen zu explodieren scheinen: Am Münchner Hauptbahnhof sind am Wochenende fast 20.000 Menschen binnen 48 Stunden angekommen. Die Behörden sagen, sie seien überfordert. Genau dafür zahlen die Europäer Steuern: dass die Staaten Aufgaben übernehmen, die der Einzelne nicht leisten kann. Die Regierungen schieben die Verantwortung für die Flüchtlinge den Bürgern zu, obwohl es genau dafür die staatlichen Organe gibt. Doch statt den Prozess aktiv und vorausschauend zu steuern, vermitteln die Regierungen ihren eigenen Bürgern den Eindruck, als sei das „Problem“ nur lösbar, wenn die Bürger einspringen und dem Staat „helfen“.
Immerhin: Die Koalition hat sich in der Nacht zum Montag auf neue Ausgaben für die Flüchtlinge geeinigt. In der EU dagegen scheinen alle froh zu sein, dass sich Deutschland des Problems annimmt - und schicken die Vertriebenen einfach weiter. Doch die Ersthilfe reicht nicht.
Die von der Regierung, der Opposition und Teilen der Wirtschaft vorgebrachte Behauptung, die Flüchtlinge wären ein Glück für Deutschland, weil es hier einen Mangel an Facharbeitern gäbe, ist völlig unzulässig: Solches kann nur behaupten, wer seinen moralischen Kompass verloren hat. Man macht sich damit zum Komplizen der Kriegstreiberei und reduziert den Menschen völlig auf einen Produktionsfaktor. Soll man vielleicht aus ökonomischem Opportunismus für den Syrien-Krieg sein, weil er Menschen zwingt, Heimat, Familie und Hab und Gut aufzugeben - damit Deutschland sein Facharbeiter-Problem lösen kann?
Angela Merkels pathetisches „Wir schaffen das!“, deutet in eine falsche Richtung. Die Mobilisierung dieser Stimmung ist nach einer Naturkatastrophe angebracht: Flut, Tsunami, Erdbeben. Hier sind Spenden der richtige Weg. Doch im Fall der Vertriebenen ist das Gegenteil notwendig: Der Staat hat die Pflicht, sich um die Flüchtlinge zu kümmern – vom Asylverfahren über Sprachkurse und Ausbildung bis zur Integration. Mit einem kleinen Willkommenspaket ist es nämlich nicht getan. Der Staat muss Ressourcen vorhalten, die sicherstellen, dass jeder Asylsuchende innerhalb kurzer Zeit eine Anhörung erhält. Wenn er den Kriterien, die von UNHCR festgelegt, nicht entspricht, muss der Asylantrag abgelehnt werden. Die Abschiebung ist die Folge, die auch die klar kommuniziert und durchgeführt werden muss – und zwar menschenwürdig und wegen der akuten Zuspitzung auch unter Verwendung von Steuergeldern.
Wenn sich der Staat entschließt, den Bürgern einen Teil der Steuern zu erlassen, wenn sie direkt in die Flüchtlingsbetreuung einsteigen – bitte sehr. Dann sollten die politisch Verantwortlichen jedoch auf jede Art von Panikmache verzichten – etwa auf die vom österreichischen Außenminister vor einigen Tagen geäußerte Warnung, unter den Flüchtlingen würden sich auch IS-Rückkehrer befinden. Es kann nicht erwartet werden, dass der individuelle Bürger in einem solchen Umfeld des latenten Generalverdachts gegen Muslime „Patenschaften“ für Vertriebene übernimmt, wenn ihm die Regierung gleichzeitig einredet, dass sie keine Gewähr übernehmen könne, ob es sich nicht um einen Terroristen handelt.
Wenn man heute in Deutschland die Zeitungen liest oder den öffentlich-rechtlichen Sendern zuhört, muss man den Eindruck gewinnen, das Land werde überschwemmt von Flüchtlingen, von denen niemand weiß, was mit ihnen geschehen soll. Das Einzige, was den Vertriebenen im Moment helfen könne, seien Mitleid und Spenden. Doch damit ist niemandem geholfen – weil die Vertriebenen am Ende wieder in einem bürokratischen Dschungel auf sich selbst zurückgeworfen werden, der sie wegen der Abwesenheit einer gestaltenden Politik fast zwangsläufig in die Rolle von Transfer-Empfängern drängt. Diese Rolle ist nicht zukunftsfähig und auch nicht jene „Freiheit“, auf die meisten, die kommen und arbeiten wollen, nicht gehofft haben.
Tatsächlich sind die Zahlen für die Versorgung, Ausbildung und Integration im Hinblick auf die Billionen an zur Verfügung stehenden Steuermitteln überschaubar. Was fehlt, ist nicht das Geld. Was fehlt, ist die politische Professionalität, ein konkretes Problem zu lösen. In Österreich fand die ganze politische Jämmerlichkeit ihren Ausdruck in der Ernennung des Raiffeisen-Bankers zum „Flüchtlingskoordinators“. Wozu haben die Österreich eigentlich eine teure Regierung? Damit sie sich beim ersten realen Problem einen Externen holt – der, wie der Bundeskanzler sagte, anders als die Regierung in der Lage sei, das Problem zu „managen“? Hier wird die ganze Unterwerfung der Politik unter einen ökonomischen Voodoo-Glauben sichtbar: Manager sollen Profite erwirtschaften. Mit Vertriebenen sind keine Profite zu erwirtschaften – außer man ist Schlepper.
Profite sind dagegen mit genau jenen Kriegen zu erwirtschaften, die die Ursache für Vertreibung und Flucht sind. Hier ist Deutschland auf einem sehr schlechten Weg. Deutschland lädt eine Mitschuld auf sich: In Syrien ist der Bürgerkrieg von den USA und dem Westen entfesselt worden. Die Russen haben, entgegen ihrem moralischen Gehabe, mitgewirkt, indem sie der syrischen Regierung Waffen geliefert haben. Die Rüstungsindustrie in den USA, in Europa und in Russland profitiert von dem Krieg. Und die Großmächte setzen die Tatsache, dass sie die Welt als ihren Hinterhof betrachten, auch unverschämt ein, um die Europäer zu erpressen: Zuerst sagte Russlands Präsident Wladimir Putin, die US-Politik sei schuld an dem Flüchtlingsstrom nach Europa. US-Außenminister John Kerry konterte und sagte: Wenn die Russen militärisch eingreifen, werde es noch mehr Flüchtlinge geben, die Europa überschwemmen werden.
Soviel vereinter Zynismus war selten. Deutschlands Mitschuld besteht darin, dass sich Bundeskanzlerin Angela Merkel hinter allen versteckt, die sie finden kann: Hinter der EU, wenn es um die Frage geht, welche Außenpolitik gemacht wird. Hinter den Amerikanern, wenn es um die Problemlösung in Syrien geht. Hinter einer Pseudo-Moral, wenn es darum geht, den Deutschen das Problem zu erklären. Und so wurde dann auch den Flüchtlingsgipfeln das eigentliche Problem mit keinem Wort erwähnt. Weder zwischen den Koalitionsparteien noch auf EU-Ebene herrscht vollständige Ignoranz.
Im Falle Syriens wären einige Maßnahmen sofort durchsetzbar: Ein komplettes Verbot von Waffenlieferungen in den Nahen Osten. Die Ansetzung einer Nahost-Konferenz unter UN-Mandat. Die Einbeziehung der USA, Kanadas der Golf-Staaten und Russlands bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Sofortige Finanzierung des UNHCR-Regionalprogramms: Dieses ist nur zu 20 Prozent finanziert. Die UN werden, obwohl Weltorganisation, in Syrien im Stich gelassen. Jagland fordert weiters bessere Aufnahmezentren an den Außengrenzen Syriens, um die Registrierungen dort vorzunehmen – und den Vertriebenen so die gefährliche und teure Reise über Schlepper-Netzwerke zu ersparen.
Der wichtigste Punkt aber ist die sofortige Aufhebung der Wirtschaftsblockade gegen Syrien: Es ist überhaupt der Gipfel der Heuchelei, dass man das Ziel, Assad zu schwächen, politisch höher einstuft als die aus dem Embargo resultierende soziale Verheerung. Denn Syrien wird nicht nur von der globalen Waffenindustrie als Konjunktur-Eldorado missbraucht. Die Menschen werden vertrieben, weil das Land wegen der immer noch bestehenden Blockade wirtschaftlich im Zeitraffer zerstört wird. Nach Syrien werden keine lebensnotwendigen Güter geliefert, weil das Embargo, dass Assad stürzen soll, immer noch in Kraft ist. Zugleich wird der Tod nach Syrien importiert, weil sich mittlerweile jede Regionalmacht – wie etwa Saudi-Arabien und die Türkei, und, wenn die Russen einsteigen, vielleicht auch schon bald der Iran – sich an dem Gemetzel beteiligen kann.
Der Öffentlichkeit werden diese Zusammenhänge nicht erläutert. Über die Ursachen der Vertreibung - Krieg und Zerstörung in den Heimatländern der Flüchtlinge - wird kaum gesprochen. Das Problem wird, auf einen Antagonismus verkürzt, für die innenpolitische Positionierung genutzt: hier die Guten, die von Merkel gelobt werden; dort das „Pack“. Das Foto des toten Jungen von Bodrum war kein Appell an die EU, ihre Tore noch weiter zu öffnen. Abgesehen von der Geschmacklosigkeit, in den Tod eines unschuldigen Kindes überhaupt irgendeine politische Botschaft hineininterpretieren zu wollen: Wenn uns dieses Foto – und die vielen anderen, von denen mit Sicherheit auch etliche aus Propaganda-Zwecken lanciert werden – an irgendetwas erinnern sollte, dann an die Tatsache, dass in Syrien ein mörderischer Krieg tobt, der von den zivilisierten Großmächten nicht nur nicht gestoppt, sondern sogar angeheizt wird.
Alle großen Krisen der Geschichte wurden nur beendet, wenn sich eine nicht diskreditierte Partei als Vermittler betätigt. Oft wird gefordert, Deutschland müsste seiner Rolle als Großmacht gerecht werden. Das stimmt – und genau hier könnte Deutschland eine erfolgreiche, wenngleich mühsame, Vermittlerrolle spielen – durch die es aufgrund seiner Vergangenheit besonders verpflichtet wäre. Nicht als „Exportweltmeister“ oder als Militär-Großmacht, sondern als Anwalt der Zivilisation und des Friedens. Angela Merkel wird nicht als Tagesgast in Flüchtlingsheimen erwartet. Sie sollte Tag und Nacht von Riad über Moskau, von Washington bis Damaskus, von Jerusalem bis nach Teheran reisen, um den Flächenbrand auszutreten. Damit könnte Merkel stellvertretend für die EU die Verleihung des Friedensnobelpreises nachträglich rechtfertigen. Die Alternative ist die Mitschuld an einer humanitären Tragödie, unmittelbar vor den Toren Europas und in Europa selbst.