Politik

Ungarn will Flüchtlinge ohne Verfahren abschieben

Lesezeit: 3 min
05.07.2016 00:27
Ungarn will Flüchtlinge und Migranten ohne Verfahren auf serbisches Staatsgebiet deportieren. Der Grund: Bisher wurden illegal Eingewanderte vor Gericht gestellt. Doch schon nach kurzer Zeit kamen sie frei und tauchten unter – oder setzen sich weiter in die EU ab.
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Ungarn will offenbar Flüchtlinge, die illegal auf der Balkanroute ins Land kommen, ohne Verfahren zurück nach Serbien oder Kroatien bringen. Ab Dienstag sollten Menschen, die nach einem illegalen Grenzübertritt innerhalb von acht Kilometern hinter der Grenze in Ungarn aufgegriffen werden, zur Grenze zurückgebracht werden. Dort solle ihnen der Weg zur nächsten „Transitzone“ gezeigt werden, sagte György Bakondi, Sicherheitsberater des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban am Montag. Das ungarische Parlament habe dieses Vorgehen genehmigt.

Die „Transitzonen“ liegen jenseits der ungarischen Grenzzäune - und damit nach ungarischer Auffassung nicht auf ungarischem Staatsgebiet. Flüchtlinge können dort Asylanträge stellen. Werden illegal eingereiste Flüchtlinge aufgegriffen, müssten sie nach dem seit Sommer 2015 geltenden Gesetz in Ungarn wegen Grenzverletzung vor Gericht kommen. Bisher geschah dies nach Angaben von Bakondi in 4942 Fällen. In der Regel werden sie zur Abschiebung nach Serbien oder Kroatien verurteilt, jedoch wird dies kaum umgesetzt, weil diese Nachbarländer die Flüchtlinge kaum zurücknehmen.

Seit Anfang dieses Jahres habe Ungarn 17.351 illegal eingereiste Menschen aufgegriffen, sagte Bakondi. Im gesamten Jahr 2015 seien es rund 391.000 gewesen. 330 Flüchtlinge befänden sich in Haft. Von ingsesamt rund 199.000 Asylanträgen habe Ungarn 264 genehmigt.

Gregor Mayer von der Deutschen Presseagentur schilderte bereits vor einiger Zeit in einer interessanten Reportage, wie in Ungarn illegale Einwanderer vor Gericht landen:

Der harte Kurs gegen Asylbewerber treibt seltsame Blüten. Die ungarische Justiz bestraft Menschen, die den Grenzzaun übertreten, mit Landesverweis. Doch die Urteile können nicht umgesetzt werden.

Szeged (dpa) – Es ist ein Tag wie jeder andere im Justizpalast der südungarischen Grenzstadt Szeged. Im Saal 34 des beeindruckenden Neorenaissance-Baus aus der späten Monarchiezeit sitzt Kreisrichter Illes Nanasi über neun Flüchtlinge zu Gericht: vier Männer und eine Frau aus Eritrea sowie ein Mann und drei Frauen aus Somalia. Ihr „Verbrechen“: Sie waren drei Tage zuvor im Dunkel der Nacht unter dem Grenzzaun durchgekrochen, mit dem sich Ungarn seit vergangenem September gegen Flüchtlinge abschottet.

Rukaja F., eine Frau Mitte 20 aus Somalia, ist die fünfte Angeklagte und die erste, die in diesem Prozess eine Aussage machen möchte. „Übertreten der Grenzsperre“ ist nämlich seit Mitte September 2015 in Ungarn ein Straftatbestand, der mit bis zu drei Jahren Gefängnis geahndet werden kann. F. legt dar, dass sie als Somalierin keine andere Wahl hatte, als sich von Schleppern an den Grenzkontrollen vorbeilotsen zu lassen. Die Länder entlang der sogenannten Balkanroute, die am grenzzaunbewehrten Ungarn vorbeiführt, lassen nämlich seit anderthalb Monaten nur noch Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan passieren.

Der Schlepper, sagt F., habe ihr und den Mitangeklagten in Serbien versprochen, dass er sie nach Kroatien bringen würde. Sie selbst wolle nach Finnland, weil ihr Ehemann bereits dort sei. Dass sie in Ungarn sind, hätten sie erst erfahren, nachdem sie von Polizisten aufgegriffen worden waren. Den Zaun, der plötzlich vor ihnen aufgetaucht sei, habe der Schlepper angehoben, so dass sie darunter durchkriechen konnten.

Richter Nanasi bemüht sich etwas angestrengt, dem Verfahren Ernsthaftigkeit zu geben. „Was glauben Sie, welchem Zweck ein Zaun dient?“, fragt er die Angeklagte F. „Wir dachten, es ist ein Kerker“, versucht es F. zu erklären. Der Richter bohrt weiter: „Was denken Sie allgemein, welchem Zweck ein Zaun dient?“ Die junge Frau lässt sich nicht in Verlegenheit bringen: „Im Allgemeinen dient ein Zaun wohl dazu, etwas abzusperren. Wir dachten aber, wir sind eingesperrt.“

Richter Nanasi zeigt sich unbeeindruckt und schließt die Beweisaufnahme im Fall der Rukaja F. ab. Die Angeklagten haben – wie aus ihren Aussagen oder den vom Richter verlesenen Ermittlungsprotokollen hervorgeht – jeweils ihre Geschichte. Der somalischen Krankenschwester Fatima M. A. drohte nach eigenen Angaben die Zwangsverheiratung an einen Kämpfer der islamistischen Terrormiliz Al Shabaab. Halima M. sagt wiederum aus, dass ihr Mann von Al-Shabaab-Leuten umgebracht und ihre älteste Tochter von den Islamisten verschleppt wurde. Der Eritreer Shaban B. hat auf der Flucht vor der Diktatur in seiner Heimat eine mehr als dreijährige Odyssee hinter sich, die ihn über den Sudan, Ägypten, Israel, die Türkei und Griechenland in die Mitte Europas führte.

Doch vor dem neuen ungarischen Strafrechtsparagrafen „illegale Überwindung der Grenzsperre“ werden diese Schicksale bedeutungslos. Die Staatsanwältin beantragt keine Gefängnisstrafen, sondern einen Landesverweis für die Angeklagten. Die beiden jungen Pflichtverteidigerinnen kommen im Schlussplädoyer erstmals zu Wort. Sie sprechen sich für Milde aus – und eine bloße Verwarnung der „Delinquenten“.

Richter Nanasi verkündet nach zweieinhalb Stunden die Urteile: alle Angeklagten sind für zwei Jahre des Landes verwiesen. Gerade 16 Minuten entfielen in diesem Verfahren auf einen Angeklagten. 797 derartige Schnellverfahren gingen nach Angaben der Pressestelle des Gerichts in Szeged seit Inkrafttreten des „Grenzzaun-Paragrafen“ über die Bühne. In 770 Fällen lautete das Urteil auf Landesverweis. Darüber hinaus gab es zwei Bewährungsstrafen und drei Verwarnungen, beim Rest handelt es sich um eingestellte oder noch nicht abgeschlossene Verfahren.

Absurd an dieser juristischen Praxis erscheint, dass die Landesverweise nicht umgesetzt werden können. Serbien weigert sich, die in Ungarn verurteilten Flüchtlinge zurückzunehmen. Dennoch verbringen sie mehrere Wochen oder Monate in ungarischer Schubhaft. Am Ende müssen sie freigelassen werden. Die meisten von ihnen ziehen dann weiter nach Westeuropa, vermuten Menschenrechtsaktivisten.

 


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