Politik

„Die neue Verfassung für Italien wurde von JP Morgan geschrieben“

Lesezeit: 5 min
29.10.2016 00:11
Am 4. Dezember stimmen die Italiener über eine neue Verfassung ab. Die Befugnisse des Senats bei der Gesetzgebung werden beschnitten. Die Fünf-Sterne-Bewegung kritisiert: Von der Reform profitieren Großindustrie und die Investmentbanken – nicht jedoch die Bürger.
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Riccardo Fraccaro, Jurist und Abgeordneter der Fünf-Sterne-Bewegung. (Foto: Riccardo Fraccaro)

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Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie sind gegen die Verfassungsreform, über die am 4. Dezember abgestimmt wird. Warum?

Riccardo Fraccaro: Diese Reform würde unsere Verfassung radikal ändern. 47 Artikel wären betroffen. Das Prinzip der Souveränität des Volkes wäre bedroht. Unser gleichberechtigtes Zweikammersystem wäre Geschichte. Stattdessen hätten wir ein konfuses System, das allein 10 neue Gesetzgebungsverfahren vorsieht. Ein Mechanismus, wie Kompetenzstreitigkeiten beigelegt werden können, ist nicht vorgesehen. Dies dürfte die Arbeit unseres Verfassungsgerichtshofes, dem es obliegt, derartige Streitigkeiten beizulegen, sehr erschweren. Und dies alles, um jedem Italiener die Kosten für einen Espresso zu ersparen. Wir sprechen also von 90 Cent im Jahr.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Renzi argumentiert, dass die Regierung dann schneller und effizienter handeln könne.

Riccardo Fraccaro: Das genaue Gegenteil trifft zu. Das Problem liegt nicht in der Anzahl der erlassenen Gesetze, sondern in ihrer Qualität. Tatsächlich hat das italienische Parlament seit 2013 bis heute alle fünf Tage ein neues Gesetz erlassen. Das macht unser Parlament zu einem der produktivsten in Europa.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Gerade in Zeiten eines wirtschaftlichen und sozialen Umbruchs müsse Italien – so Renzi – fit für die Zukunft gemacht werden. „Italien schreitet voran, Italien sagt ja“. Das klingt doch nicht schlecht.

Riccardo Fraccaro: Das klingt nicht schlecht und bedeutet zunächst einmal gar nichts. Das sind vollkommen sinnentleerte Slogans. Italien schreitet – wohin? Italien sagt Ja – wozu? Das Problem der Propaganda a là Renzi ist doch, dass sie Begriffe, die zunächst einmal gut klingen, in einem undefinierten Kontext verwendet. Natürlich ist „Effizienz“ positiv besetzt – doch was genau ist damit gemeint? Wenn Renzi damit meinen sollte, dass die Arbeit im Senat eine Feierabendveranstaltung für die korruptesten Vertreter der italienischen Politik werden sollte, Lokalpolitiker und Bürgermeister, die mit dieser Art von Teilzeitbeschäftigung auch über europapolitische Fragen entscheiden sollen, möchte ich hier unterstreichen, dass wir unter Effizienz das genaue Gegenteil verstehen. Und wenn Sie recherchieren, wer den wesentlichen Input bei der Formulierung der Verfassungsreform gegeben hat, dann landen Sie beim Bankhaus JP Morgan.

JP Morgan hat die Verfassungen vieler südeuropäischer Länder als Hindernisse ausgemacht. Diese seien zu „sozialistisch“ und gewährten den Arbeitnehmern zu viele Rechte. Und darum geht es ja letzten Endes: Man will der Regierung die Möglichkeit geben, durchzuregieren und Gesetze durchzudrücken, die – so die Hoffnung – der Wirtschaftselite zugute kommen. Wenn Sie es durch diese Brille betrachten, wird klar, was mit „Effizienz“ wirklich gemeint ist. Der angeblich linke Renzi spielt hier ein doppeltes Spiel.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Immerhin könnte doch auch der MoVimento 5 Stelle von der Verfassungsreform profitieren. Dann könnten Sie doch eine andere Politik durchsetzen.

Riccardo Fraccaro: Umfragen zufolge schickt sich der MoVimento 5 Stelle an, in Italien die stärkste Partei zu werden. Und nach der Wahlrechtsreform könnte eine Partei mit nur relativer Mehrheit die absolute Mehrheit im Abgeordnetenhaus erringen. Ginge es uns also um die Macht, müssten wir für die Verfassungsreform sein. Uns geht es aber ums Prinzip: Die Politiker müssen so weit es geht demokratisch kontrolliert werden. Und ihnen sollte klar sein, dass sie im Dienst der Bürger ihres Landes stehen. Stattdessen sehen wir, dass der Graben zwischen den Politikern – die man bei uns die „Kaste“ nennt – und einem Großteil der Bevölkerung immer tiefer wird.

MoVimento 5 Stelle möchte hier gegensteuern. Unsere Abgeordneten möchten keine Berufspolitiker sein, die über Jahrzehnte im Parlament sitzen und sich auf die Art komfortable Altersbezüge sichern, sondern Teile der Zivilgesellschaft. Deswegen werden sie auch nicht länger als zwei Legislaturperioden im Amt bleiben. Uns geht es also nicht um die Macht, sondern um eine Veränderung unserer politischen Kultur von unten, um die Bekämpfung der Korruption, um mehr – und nicht um weniger – demokratische Kontrolle. Dafür brauchen wir eine wache, kritische Öffentlichkeit, die sich einmischt. Nur so kann Demokratie auf Dauer funktionieren.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Und dass das Parlament insgesamt verkleinert werden soll, um Kosten zu sparen, stört Sie auch?

Riccardo Fraccaro: Um Kosten zu sparen hatten wir ja vorgeschlagen, die Anzahl der Parlamentarier in beiden Kammern, also im Abgeordnetenhaus und im Senat zu verkleinern und außerdem deren Bezüge zu kürzen. In beiden Fällen hat die Regierungspartei mit Nein gestimmt. Die Ersparnis, die sich nun abzeichnet, entspricht in etwa einer Tasse Kaffee für jeden Italiener. So fühlen wir uns auf den Arm genommen.

Die Abgeordneten des MoVimento 5 stellen nun die Hälfte ihrer Bezüge kleinen und mittleren Firmen zur Verfügung. Natürlich ist uns klar, dass uns das allein nicht aus der Krise führt. Aber es ist eine wertvolle Hilfe für Betriebe, die sich in Schwierigkeiten befinden. Es wäre schön, wenn es alle so machen würden wie wir. Ich gebe Ihnen ein paar interessante Daten: In drei Jahren hat MoVimento 5 Stelle mehr als 17 Millionen Euro an einen Fond für Mikrokredite überwiesen. Davon konnten drei tausend kleine und mittlere Betriebe profitieren. Und so sind über 6.000 Arbeitsplätze geschaffen worden.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Aus reinem Idealismus?

Riccardo Fraccaro: Nein. Es handelt sich um eine neue Art, in Italien Politik zu machen. Es zeigt, was man im Sinne der Bürger erreichen kann, wenn der politische Wille dazu da ist. Überlegen Sie mal, was wir erreichen könnten, wenn es alle italienischen Abgeordneten machten wie wir. In Italien würde das Vertrauen in die Politik und die Institutionen entschieden zunehmen.

Italien befindet sich an einem Scheideweg. Entweder gelingt es uns, die verkrusteten Machtstrukturen in unserem Land aufzubrechen und die Entfremdung zwischen den Politikern und den Bürgern zu beenden oder wir werden – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und sozial – immer tiefer in die Krise rutschen. Wir sollten endlich erkennen, dass wir alle in einem Boot sitzen. Es kann nicht sein, dass es den Politikern immer besser geht, während ein großer Teil der Bevölkerung nicht mehr weiß, wie er die Stromrechnung bezahlen soll.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Und Sie meinen, dass sich diese verkrusteten Machtstrukturen mit der Verfassungsreform nicht aufbrechen lassen?

Riccardo Fraccaro: Ganz im Gegenteil! Mit dieser Verfassungsreform würde die Macht konzentriert und noch stärker zementiert werden als bisher. Sie dient letzten Endes der Verteidigung der Interessen der Mächtigen, die an ihren Sesseln kleben. Renzis Rhetorik mag etwas anderes suggerieren, aber beobachten Sie ihn mal im Fernsehen, wenn Sie den Ton abdrehen. Er sitzt meistens neben Industriebossen und Investmentbankern. Den Bürgern unseres Landes wird kein reiner Wein eingeschenkt. Sie sind durch die Krise verunsichert und diese Verunsicherung hilft den Mächtigen, ihre Positionen zu festigen. Es sollte genau umgekehrt sein. In der Krise sollten ihre Stühle wackeln.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Noch ein Wort zu Europa.

Riccardo Fraccaro: Wir sollten uns fragen, ob wir Europa einzig und allein über seine „Wettbewerbsfähigkeit“ definieren wollen. Kanzlerin Merkel nennt das „marktkonforme Demokratie“. Damit ist wohl gemeint, dass wir auf unsere demokratischen Rechte verzichten sollen, sobald sie den Interessen der Wirtschaft im Wege stehen. Die geplante Verfassungsreform ist dafür ein gutes Beispiel. Ich aber glaube, dass das Modell Europa nicht funktionieren kann, wenn wir uns wechselseitig immer mehr nach unten regulieren. Das Modell Europa, das seine Wurzeln im Humanismus und in der Aufklärung hat, sollte eine lebendige Demokratie sein. Ich bin davon überzeugt, dass dies auch eine Voraussetzung für mittel- und langfristigen wirtschaftlichen Erfolg darstellt.

***

Der Jurist und Angestellte eines Energie-Serviceunternehmens Riccardo Fraccaro wurde am 13. Januar 1981 in Montebelluna in der Provinz Treviso geboren. Er ist Parlamentarier des Movimento Cinque Stelle. Am 24./ 5. Februar 2013 wurde er ins Abgeordnetenhaus gewählt. Seit dem 21. März 2013 ist er zudem Mitarbeiter des Parlamentspräsidenten.


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