Der Renten-Wahlkampf ist voll im Gang. Vor wenigen Tagen wurde die Angleichung der Renten im Osten an die Sätze im Westen beschlossen. Das geschieht zwar in Etappen erst bis 2025, aber die Rentner bekommen mehr und mögen sich am Wahltag bedanken. Kleines Detail am Rande: Für die nachwachsenden Jungen bedeutet die Regelung eine Verringerung, weil künftig nicht der Wiedervereinigungsbonus gilt, sondern die tatsächlichen, leider über lange Strecken niedrigeren Löhne im Osten als Berechnungsbasis gelten.
Am 1. Juli fand die stärkste Anhebung der Renten seit der Wiedervereinigung statt - um 4,25 Prozent im Westen und 5,95 im Osten. Kleines Detail am Rande, das die Freude nicht trüben sollte: Zahlreiche Rentner rückten durch den höheren Bezug in die Steuerpflicht auf.
Und nun: Sozialministerin Andrea Nahles, SPD, will mehr Geld aus dem Bundeshaushalt für die Rentner und höhere Beiträge. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble sind zur Verteidigung ihres auf schwachem Fundament ruhenden Null-Defizits angetreten.
Bis zum Herbst 2017 dürfte die Diskussion über die Höhe und die Finanzierung der Pensionen die Politik bestimmen, ohne dass nachhaltige Lösungen zustande kommen werden.
Der Versuch, Altersarmut wegzudiskutieren
Vor kurzem hieß es noch, die gesetzlichen Renten würden im Schnitt 49 Prozent des durchschnittlichen Aktiveinkommens ersetzen. Jetzt ist nur mehr von 48 Prozent die Rede und alle Prognosen deuten auf ein weiteres Absinken auf 42 Prozent und weniger hin. Sozialministerin Andrea Nahles, SPD, hat nun verkündet, unter 46 Prozent dürfe der Wert nicht sinken.
Vorweg muss aber festgehalten werden: Die EU definiert als Grenze zur Altersarmut einen Satz von 60 Prozent, die Weltgesundheitsorganisation WHO geht von 50 Prozent aus.
In Deutschland können nur Personen, die weniger als 775 Euro von der Rentenversicherung ausbezahlt bekommen, die Grundsicherung in Anspruch nehmen. Nachdem dies aber nur 3,1 Prozent der 65jährigen oder Älteren tun, könne man in Deutschland nicht von Altersarmut sprechen, erklären CDU/CSU und SPD im Gleichklang. Altersarmut ist eine Frage der Definition.
Äußere Umstände haben zur aktuellen Renten-Krise beigetragen
Die Renten-Reform 2002 ging von einem grundvernünftigen Prinzip aus: Die gesetzliche Rente stelle nur eine Säule der Altersvorsorge dar und müsse daher nicht die gesamte Last tragen, Werte in der aktuellen Größenordnung seien daher vertretbar. Dadurch können auch die Beiträge der aktiv Beschäftigten zur Sozialversicherung unter 20 Prozent der Löhne bleiben. Und: Der Staatszuschuss würde den Bundeshaushalt nicht überfordern. Neben den aus Beiträgen der Aktiven finanzierten gesetzlichen Renten müssen die betriebliche und die private Altersvorsorge als zweite und dritte Säule über das Ansparen von Kapital für die notwendige Ergänzung sorgen und gemeinsam mit der gesetzlichen Rente ein attraktives Einkommen ermöglichen.
Die nicht vorhersehbare und auch in der Geschichte einmalige Niedrig-, Null- und Minuszinsenpolitik hat dieses allgemein als ideal bezeichnete Konzept in Frage gestellt. Hier sei nur daran erinnert, dass die nach dem damaligen Sozialminister Walter Riester, SPD, benannte Riester-Rente unter der Annahme konzipiert wurde, dass die jährliche Durchschnittsverzinsung des angesparten Kapitals bei 4,5 Prozent liegen werde. Auch die privaten Lebensversicherungen gingen von einer Verzinsung in dieser Größenordnung und garantierten auf dieser Basis Renten und Kapitalauszahlungen.
Durch die aktuellen Zinsen sind alle kapitalgedeckten Vorsorge-Instrumente unter Druck geraten und folglich werden höhere Leistungen von der gesetzlichen Rentenversicherung eingefordert.
Dazu kommt, dass in 40 Prozent der deutschen Haushalte keine private Vorsorge besteht und diese Personen somit zur Gänze auf die staatliche Rente angewiesen sind.
Das Null-Defizit des Staatshaushalts wird auf Kosten der Rentner erreicht
Durch die Zinspolitik und die große Zahl der betroffenen Haushalte werden die Forderungen nach zusätzlichen staatlichen Leistungen lauter. Naturgemäß steht Finanzminister Wolfgang Schäuble, CDU, auf der Bremse. Schließlich wird der jährliche Staatszuschuss zu den Pensionen voraussichtlich 2020 die 100-Mrd-Euro-Marke erreichen.
Allerdings ist der Fiskus der große Profiteur zu Lasten der Rentner.
Die niedrigen Zinsen, die auf der einen Seite alle kapitalgedeckten Sparformen in Schwierigkeiten bringen, nützen auf der anderen Seite dem Staat: Die Schulden beliefen sich im Jahr 2010 auf 2.012 Mrd. Euro und waren somit etwa gleich hoch wie derzeit mit 2.048 Mrd. Euro. Allerdings mit dem großen Unterschied, dass 2010 33 Mrd. Euro Zinsen gezahlt werden mussten, heuer sind es aber nur knapp 24 Mrd. Euro. Also um 9 Mrd. weniger.
Damit nicht genug: Schon die Zinsbelastung des Jahres war mit 1,65 Prozent der Schulden extrem niedrig, derzeit sind es gar nur knapp über 1 Prozent, also Konditionen, die weit unter allen historischen Werten liegen. Der Finanzminister erspart sich jährlich nicht nur die 9 Milliarden, die aus dem Vergleich zwischen 2010 und 2016 abzulesen sind, sondern weit mehr. Zur Orientierung: Bei einem Zinssatz von 3 Prozent, also auch kein besonders hoher Wert, müsste Schäuble 60 Mrd. jährlich an Zinsen zahlen, hätte also allein aus dem Grund ein Defizit von 35 Mrd. Euro.
Das viel gefeierte Null-Defizit ist den niedrigen Zinsen zu verdanken. Aber nicht nur.
Der Finanzminister profitiert von der 2002 installierten Drei-Säulen-Regelung, die die gesetzliche Rentenversicherung und somit auch den Bund entlastet hat. Ohne diese Regelung müsste auch in Deutschland wie in zahlreichen anderen Ländern das Verhältnis der Renten zu den Aktiveinkommen viel höher sein. Und: Der Finanzminister müsste bald weit mehr als die 100 Mrd. Euro für Zuschüsse an die Rentenversicherung aufwenden.
Dass im Finanzministerium das heiße Eisen möglichst nicht angegriffen wird, ist nur zu verständlich. Im Jahr 2014 betrug der Bundeszuschuss „nur“ 61,3 Mrd. Euro und nähert sich nun die Größenordnung von 100 Mrd. Euro, obwohl die gute Beschäftigungslage für einen kräftigen Anstieg der Beitragseinnahmen in der Rentenversicherung sorgt und die Ersatzrate bei im europäischen Vergleich niedrigen 48 Prozent liegt.
Sozialministerin Andrea Nahles setzt auf das sozialistische Rezept
Angesichts der Sondereffekte, die den deutschen Finanzminister zum Null-Defizit-Star in Europa machen, musste man nicht lange auf Konzepte warten, die dem Staat neue Pflichten aufbürden sollen. Sozialministerin Andrea Nahles, SPD, will gesetzlich festschreiben, dass die Ersatzrate in den kommenden 30 Jahren nicht unter 46 Prozent sinken darf. Dies soll durch zwei Maßnahmen ermöglicht werden: Der Beitragssatz von derzeit 18,7 Prozent könnte bis auf maximal 24 Prozent steigen. Die trotzdem unvermeidlich auftretenden Defizite müssten aus dem Bundeshaushalt gedeckt werden. Die Folge wäre eine Explosion des Defizits oder eine dramatische Anhebung der Steuern.
Nachdem die Zahl der Aktiven durch die demografische Entwicklung zurückgeht und die Zahl der Rentner kontinuierlich größer wird, wären die Folgen katastrophal: Die nachwachsenden Generationen wären mit immer höheren Sozialversicherungsbeiträgen und immer höheren Steuern, folglich mit einer deutlichen sinkenden Kaufkraft belastet.
In diesem Zusammenhang wurde von der SPD eine alte Forderung erneuert: Die Beitragsbemessungsgrenze sollte fallen, dann wären von den gesamten Einkommen Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen. Die Höchstbeitragsgrenze liegt 2016 im Westen bereits bei 6.200 Euro im Monat und im Osten bei 5.400 Euro. Dass darüber liegende Bezüge nicht beitragspflichtig sind, ergibt sich aus dem Umstand, dass diese Gruppen auch hohe Steuern zahlen und auf diesem Wege die Bundeszuschüsse zur Sozialversicherung mitfinanzieren.
Die Jahresdefizite des Bundes wären auch bei größeren Sozialversicherungsbeiträgen hoch und würden die Schulden ansteigen lassen. In diesem Zusammenhang ist auf den kürzlich vorgestellten Bericht des Sachverständigenrats der Bundesregierung zu verweisen, der vor einem Anstieg der Schulden von derzeit 67 auf 500 Prozent des Jahres-BIP warnt, wenn die aktuelle Struktur des Renten-Systems beibehalten wird, also bereits ohne die Pläne von Frau Nahles.
Vor allem wäre eine über die nun wirkende, etappenweise Anhebung des Renteneintrittsalters hinausgehende Regelung erforderlich. Derzeit sind 67 Jahre bis 2029 das Ziel, der Weisen-Rat plädiert für 69 bis 2060 und 71 bis 2080 und eine automatische Anpassung an die Lebenserwartung. Die Sozialdemokraten lehnen allerdings strikte jede Anhebung über 67 hinaus ab.
Deutschland ist, oder besser war, in diesem Bereich auf gutem Weg: Von 2005 bis 2014 ist der Anteil der aktiven, versicherungspflichtigen Beschäftigten zwischen 60 und 64 von 14,9 auf 33,5 Prozent gestiegen. Im Jahr 2014 bewirkte eine Korrektur des Gesetzes, dass langzeitig Versicherte abschlagsfrei mit 63 in Rente gehen können, wodurch die Entwicklung zu einem generell späteren Rentenantritt deutlich gebremst wurde.
Merkel hofft auf die betriebliche Altersvorsorge, die seit 2007 stagniert
Vor wenigen Tagen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundestag ein Plädoyer für den Ausbau der betrieblichen Altersvorsorge gehalten. Offenbar in der Erkenntnis, dass die gesetzliche Rente nur über eine Überforderung des Bundeshaushalts angehoben werden kann und die privaten, kapitalgedeckten Vorsorge-Instrumente durch die Zinspolitik unter Druck sind.
Dieser Ausweg ist allerdings keine einfache Lösung:
- Nur 50 Prozent der Arbeitnehmer haben eine Betriebsrente. Nach einer kräftigen Ausweitung stagniert dieses Instrument seit 2007.
- Die Betriebsrente wird in erster Linie aus eine Lohnumwandlung finanziert, die zwar steuerlich und sozialversicherungstechnisch gefördert wird, aber dennoch einen momentanen Einkommensverzicht für den Arbeitnehmer auslöst.
- Viele Unternehmen scheuen die langfristige Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen und zur Absicherung der Leistungen. Eine aktuelle Reform sieht vor, dass die Unternehmen bei den Dotierungen und den Zahlungen flexibler agieren können, fraglich ist, ob diese Erleichterungen die Skepsis mildern.
- In Deutschland überwiegen die direkten Zusagen, sodass das angesammelte Kapital in den Unternehmen bleibt. Weniger stark als in anderen Ländern ist die Auslagerung zu Kassen und Fonds verbreitet. Dadurch müssen die Betriebe selbst Langlebigkeitsrisiken und Konjunkturschwankungen bewältigen. Allerdings: Erwirtschaftet das Unternehmen hohe Gewinne, profitieren die Mitarbeiter mehr als etwa auf dem Kapitalmarkt, der derzeit nur minimale Zinsen bietet.
- International hat sich die Auslagerung zu Vorsorgeunternehmen durchgesetzt, die aber auch unter den niedrigen Zinsen leiden. Selbst die Schweizer und die US-amerikanischen Fonds, die weit mehr in Aktien investieren als deutsche oder österreichische Einrichtungen, erklären, dass sie auf Dauer die niedrigen Zinsen der Anleihen nicht verkraften.
Um angesichts dieser Faktoren die betriebliche Altersvorsorge zu einer tatsächlich tragenden Säule zu machen, müsste die Politik ein Obligatorium einführen: Alle Unternehmen wären verpflichtet, Renten zu zahlen. Ohne eine zwingende Regelung wird die Verbreitung nicht durchzusetzen sein. Mehr noch: Branchen, in denen Firmenpensionen üblich sind wie im Bankensektor, sind derzeit in einem gigantischen Schrumpfungsprozess.
Die Lösung: Eine Korrektur der Zinspolitik!
Einen entscheidenden Beitrag zur Entschärfung, wohl nicht zur umfassenden Lösung des Problems wäre die Rückkehr zu positiven Zinsen in der traditionell üblichen Größenordnung. Dies würde die kapitalgedeckten Anlagefirmen wieder funktionstüchtig machen und dafür sorgen, dass das grundsätzlich richtige Zusammenspiel der aus den Beiträgen der Aktiven im Umlageverfahren finanzierten Sozialversicherung mit den Riester-Renten und den Lebensversicherungen wieder funktioniert.
Dass die Politik hier nicht sehr aktiv ist, kann man mit dem Respekt vor der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank begründen. Tatsächlich hätten alle Staaten höhere Defizite und auch Deutschland, das stolz ein Null-Defizit ausweist, müsste wieder Abgänge deklarieren.
Was für Deutschland gilt, gilt aber für ganz Europa: Wenn die EZB weiterhin mit niedrigen Zinsen zwar den Staaten hilft, aber jede Vorsorge ruiniert, geraten die Staaten unter Druck und müssen die Defizite ausweiten, um die Pensionssysteme zu stärken. Eine realistische Zinspolitik und eine tatsächliche Sanierung der Staatshaushalte wären effektiver als die mit Morphium zu vergleichende Finanzierung der Staaten mit Null- oder Minus-Zinsen. Beide Perspektiven sind nicht erkennbar, also steuert Europa auf eine Explosion der Defizite und einem neuerlichen Anstieg der Schulden zu. Die nächste Finanzkrise, die auch vor Deutschland nicht halten machen wird, ist somit bereits programmiert.
Und nicht zuletzt: Die niedrigen Zinsen bewirken auch nicht den immer wieder betonten Effekt einer Belebung der Wirtschaft, nachdem die billige Geldschwemme durch die überbordende Regulierung gebremst wird und daher nicht in der Realwirtschaft ankommt.
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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.