Politik

Osteuropa ist ein Pulverfass, das jederzeit explodieren kann

Lesezeit: 6 min
06.02.2017 01:56
Europa könnte im Osten zum Schauplatz eines neuen, globalen Krieges werden. Die EU ist gespalten und fällt als stabilisierende Kraft aus. Der neue US-Außenminister Tillerson könnte dagegen eine Gesprächsbasis mit Russland etablieren, die den Weltfrieden sichert.
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An der Ostgrenze der EU, nur einige hundert Kilometer von Berlin oder Wien entfernt, besteht die Gefahr, dass die Welt durch die Inkompetenz der Politiker in West und Ost in einen globalen Krieg stolpert. Die nur scheinbar regionalen Auseinandersetzungen ergeben ein bedrohliches Gesamtbild. Die widersprüchlichen Äußerungen der neuen Außenpolitiker in Washington sind dazu angetan, das Chaos, das Russland, die EU, die NATO und die bisherige US-Außenpolitik angerichtet haben, noch zu vergrößern. Hilfreich könnte der Umstand sein, dass der neue US-Außenminister, Rex Tillerson, im Gegensatz zu den meisten Akteuren, Russland gut kennt.

Wo endet die Macht der NATO, wo bestimmt Moskau?

Die Kernfrage lautet: Wo verläuft die Grenze zwischen West und Ost, wo endet die Macht der NATO, und wo beginnt der Einflussbereich Moskaus?

Die aktuelle, bedrohliche Krise ist eine Folge der Tatsache, dass diese entscheidende Frage heute nicht mehr klar zu beantworten ist. In den neunziger Jahren war das anders.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam es zu einem stillschweigenden Übereinkommen, wonach Belarus, die Ukraine und Georgien eine Art Glacis für Russland bilden. Demnach würde der Einfluss der NATO an den Grenzen von Polen, Tschechien und Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien enden.

Als heikel wurde der Umstand erkannt, dass von den drei baltischen Ländern zwei, Estland und Lettland unmittelbar an Russland angrenzen und Litauen eine gemeinsame Grenze mit Belarus hat. Dieses Problem schien durch die Beibehaltung von Kaliningrad (Königsberg) als russische Oblast innerhalb des Gebiets der baltischen Länder entschärft.

Auf der Basis dieser neuen „Weltordnung“ entwickelte sich in den 90er Jahren eine Annäherung zwischen dem Westen und Russland, die in Vereinbarungen zwischen der EU und Moskau, zahlreichen Verträgen auch mit den USA und in der Aufnahme Russlands als achtes Mitglied der G 7, dem Klub der bestimmenden Industrienationen, ihren sichtbaren Ausdruck fand.

Die trügerischen Liebesgrüße der NATO an Georgien

Was hat sich geändert?

Vielfach wird die Annexion der Halbinsel Krim durch Russland im Jahr 2014 als Auslöser der Krise gesehen und Russland als Aggressor bezeichnet.

Diese Sicht berücksichtigt nur ein Ereignis und nicht die gesamte Entwicklung.

Ab 2004 hat die NATO begonnen, ihren Einflussbereich über die stillschweigend vereinbarte Grenze hinaus auszudehnen. Diese Aktivitäten wurden zuerst in Georgien betrieben.

Michail Saakaschwili, Präsident des Landes von 2004 bis 2013, verfolgte eine aktive pro-westliche Politik und wurde in den USA als Freund und Partner begrüßt. Zu Beginn standen die Stärkung der Demokratie, die Bekämpfung der Korruption und die wirtschaftliche Kooperation mit der EU und den USA im Vordergrund.

Sehr bald kam aber der militärische Aspekt hinzu und in Georgien entstand der irrige Eindruck die NATO würde dem Land auch in einer Auseinandersetzung mit Russland zur Seite stehen. Im Sommer 2008 eskalierte der Konflikt, die russische Armee marschierte ein und besetzte die Provinzen Abchasien und Ossetien, die bis heute von Russland beherrscht werden.

Der Westen nahm diese Aktion ohne weitere Reaktionen zur Kenntnis, es gab auch keinen Aufschrei oder gar Sanktionen wie bei der Besetzung der Krim. Im Westen wird auch nicht beachtet, dass aktuell immer wieder Zwischenfälle stattfinden und die russische Armee bestrebt ist, die Grenze zwischen den besetzten Gebieten und dem übrigen Georgien zu verschieben um den Einfluss im Land auszubauen.

Die Lehren aus Georgien:

- Wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen wird von Moskau akzeptiert, auf militärische Kooperation wird scharf reagiert.

- Die NATO weckt in Osteuropa Hoffnungen, die sie, jedenfalls bisher, nicht erfüllt.

Ein persönliches Erlebnis: Als im Sommer 2008 in der Ukraine im Fernsehen die Nachricht vom Einmarsch der russischen Armee in Georgien kam, saß ich in Odessa. Die neben mir sitzenden Ukrainer erschraken und reagierten kurz und bündig – „Die nächsten sind wir “.

Der Lissabonner Vertrag – das unbekannte Wesen

Tatsächlich ist die Krise in der Ukraine eine Fortsetzung der Ereignisse in Georgien, die aber durch zusätzliche Aspekte verschärft wird.

Seit der „Orangen Revolution“ im Jahr 2004 wird die Ukraine im Westen geschätzt. Die von verschiedenen Regierungen betriebene Annäherung an den Westen sollte zu einer Mitgliedschaft bei der EU oder zumindest zu einer Assoziierung führen. Diese Linie wurde nicht nur vom Vertreter der pro-westlichen Orangen ab 2004, Präsident Wiktor Juschtschenko, sondern auch in der Folge vom pro-russischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch verfolgt.

Im November 2013, knapp vor dem nach langwierigen Verhandlungen geplanten Abschluss des Abkommens protestierte Russland und Janukowytsch verfügte ein „Einfrieren“ der Verhandlungen mit der EU. In der Folge kam es zur Revolution und seit Juni 2014 verfolgt Präsident Petro Poroschenko einen pro-westlichen Kurs und konnte auch schon weit reichende Verträge nicht nur mit der EU, sondern auch mit der NATO abschließen, wodurch dem Land der Eindruck vermittelt wurde, sein Status würde dem eines Mitglieds der beiden Organisationen sehr nahe kommen.

Eine Frage drängt sich auf: Wieso reagierte Moskau im März 2014 mit der Besetzung der Krim, während in den vorangegangenen Jahren eine Kooperation mit der EU in Russland eher positiv gesehen wurde?

Die Antwort ist im Lissabonner Vertrag enthalten, der ab 2009 die Grundlagen der EU entscheidend verändert hat. Die EU ist keine Wirtschaftsgemeinschaft mehr, sondern eine politische Union, die vor allem eng mit der NATO verbunden ist. Diese Tatsache wird in der EU kaum zur Kenntnis genommen, weil nur wenige den Text des Lissabonner Vertrags gelesen haben. Seit dem 1. Jänner 2009 sind enge Bindungen zur EU auch Bindungen zur NATO. Und im konkreten Fall der Ukraine wurden nach und nach auch einige Direktverträge mit dem Militärbündnis geschlossen. In Moskau werden diese Papiere sehr genau gelesen.

Die russische Schwarzmeer-Flotte ist an der Krim stationiert, wo sich auch umfangreiche Kommando- und Verwaltungseinrichtungen befinden. Die Entwicklung ergab für Moskau die Perspektive, dass die Flotte sich in einem NATO-Land befinden würde. Ein Umstand, der für Moskau nicht akzeptabel ist, also war die Annexion der Krim eine nahe liegende Reaktion.

Die Ukraine als de-facto-NATO-Staat stellt aus Moskauer Sicht nicht nur wegen der Flottenstationierung an der Krim, sondern auch angesichts der langen, gemeinsamen Grenze eine Bedrohung dar. Somit ist die Sicherung zumindest der Ost-Region des Landes ein strategisches Anliegen. Die Situation ist ähnlich wie in Georgien, wo Russland die Regionen Abchasien und Ossetien besetzt hat. Dass in der Ost-Ukraine russlandfreundliche Separatisten agieren, kommt Moskau naturgemäß sehr gelegen. In kurzen Abständen flammen auch derzeit immer wieder Kämpfe auf, in der Region zwischen Mariupol, Donezk und Luhansk, aber auch weiter im Norden bis Charkiw.

Wie in Georgien wird auch in Ukraine die Hoffnung gehegt, dass die NATO einschreiten, die Krim befreien und die Kämpfer im Osten besiegen würde. Das ist bisher nicht geschehen, doch besteht die Gefahr, dass das Militärbündnis durch die vielen Abmachungen in einen Konflikt gezogen werden könnte. Hier sei nur an die vielen Krisen erinnert, die mit der scheinbar harmlosen Entsendung von „Militärberatern“ gelöst werden sollten und zu einem blutigen Krieg eskalierten.

An der Grenze der Belarus zu Russland startet die nächste Krise

Nach Georgien und der Ukraine gerät nun auch Belarus in einen Konflikt mit Moskau. Der Langzeitpräsident Alexander Lukaschenko ist ein enger Verbündeter Moskaus und führt das Land nach altem sowjetischem Muster. In letzter Zeit häufen sich jedoch die Spannungen und erst am vergangenen Freitag hat Lukaschenko in einer Pressekonferenz den russischen Geheimdienst beschuldigt, sein Land zu unterminieren. Wie im Fall der Ukraine streiten auch Minsk und Moskau über Gaspreise, Öllieferungen und Behinderungen im Außenhandel.

Aktueller Auslöser für die Attacke gegen Moskau waren Grenzkontrollen, die die russischen Behörden in den letzten Tagen unter Verletzung eines seit zwanzig Jahren bestehenden Abkommens über offene Grenzen zwischen den beiden Staaten gestartet haben. Diese Aktion ist offenbar eine Reaktion auf die kürzlich durch Belarus erfolgte Einführung von einfachen 5-Tage-Visa für die Bürger von 79 Staaten, darunter alle EU-Staaten und die USA. Diese Maßnahme wird in Moskau als Annäherung der Belarus an den Westen gesehen.

Lukaschenko legt zudem nach und erklärt, Belarus würde derzeit „einseitig mit einem Flügel fliegen“. Um erfolgreich zu sein brauche das Land einen zweiten Flügel. Der eine Flügel ist das wirtschaftlich schwache Russland, dessen Probleme Belarus mitbelasten, der zweite Flügel wäre der Westen mit der EU und den USA.

Womit die schon bei der Ukraine gegebene Problematik nun auch in Belarus aufbricht, wo offenbar als Vorboten weiterer Maßnahmen Grenzkontrollen durch Russland vorgenommen werden.

Dass unter diesen Umständen in den baltischen Ländern Unruhe herrscht und man auch von der Errichtung eines Zauns um die russische Enklave Kaliningrad spricht, ist verständlich. Allerdings sind Estland, Lettland und Litauen Vollmitglieder der EU und der NATO, sodass sich in dieser Region die Spannungen nur in gegenseitigen Sticheleien äußern.

Der neue US-Außenminister Rex Tillerson: „Russland ist gefährlich, aber berechenbar“

Der nahe liegende und wirksamste Beitrag zur Entschärfung der bedenklich größer werdenden Krise müsste von der EU kommen. Nur, wenn Brüssel gegenüber den drei Staaten Georgien, Ukraine und Belarus ausschließlich als Wirtschaftspartner agiert und ausdrücklich keine politischen und militärischen Beziehungen betreibt, können wieder entspannte Verhältnisse entstehen. Diese Perspektive ist aber angesichts der widersprüchlichen Positionen innerhalb der EU nicht realistisch: Das Spektrum reicht von der engen Kooperation des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban mit Russland über die Beziehung Polens zu den USA bis zum Bemühen einiger Staaten um die Schaffung einer EU-Armee oder das Unvermögen in Außenhandelsfragen eine gemeinsame Politik zu entwickeln..

Somit rückt die NATO selbst in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Das Militärbündnis wird von den USA dominiert und aus Washington kommen widersprüchliche Aussagen. Der neue US-Präsident Donald Trump hat die NATO in einer Aussage insgesamt in Frage gestellt, in einer anderen Bemerkung hingegen ein Bekenntnis zum Bündnis abgelegt und nur verlangt, dass die anderen Mitglieder höhere Beiträge leisten sollten. Die neue Botschafterin der USA bei der UNO, Nikki Haley, erklärte dieser Tage, dass die Sanktionen gegen Russland solange aufrecht bleiben, bis Russland die Krim aufgibt und die Halbinsel wieder zur Ukraine gehört. Haley verurteilte die Kämpfe in der Ost-Ukraine und hielt sich somit an die bereits unter Obama angeschlagene Politik der USA. Man wolle zwar bessere Beziehungen zu Moskau, könne aber die „grässliche Situation“ in der Ukraine nicht dulden. Mit dieser Ausrichtung bleibt Osteuropa ein Pulverfass, das jederzeit explodieren kann.

Die bisher einzige Aussage, die eine realistische Politik erwarten lässt, kam vom neuen US-Außenminister Rex Tillerson: „Russland ist gefährlich, aber berechenbar“. In der Anhörung durch den Senat hat Tillerson deutlich gezeigt, dass er sich keine Illusion über die russische Politik macht, auch die aggressiven Handlungen von der Krim bis zu Syrien nicht bagatellisiert. Tillerson kennt Russland gut, im Unterschied zu den meisten Politikern auf dem internationalen Parkett, und weiß, dass man zu brauchbaren Kompromissen kommen kann, wenn man selbst Stärke zeigt, aber die fundamentalen Interessen Moskaus nicht ignoriert. Tillerson wird vorgeworfen, dass er einen russischen Orden hat und in der diplomatischen Szene nicht beheimatet ist. Die beiden „Mängel“ könnten wesentlich zur Sicherung des Weltfriedens beitragen.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF. 

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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