Politik

Wie die USA Siemens zerlegten und die Bundesregierung hilflos zusehen musste

Lesezeit: 6 min
15.04.2017 01:45
Der Fall Siemens zeigt, wie die USA mit einer konzertierten Aktion ein deutschen Unternehmen zu Fall bringen können. Die Bundesregierung musste bei der Demontage ohnmächtig zusehen.

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Heinrich von Pierer, Vorstandsvorsitzender der Siemens AG von 1992 bis 2005 und Aufsichtsratsvorsitzender von 2005 bis April 2007, musste aufgrund der langjährigen, nachgewiesenen Bestechungspraxis des Unternehmens, zur Erlangung von vornehmlich öffentlichen Aufträgen, zurücktreten. Diesem Schritt waren fast zwei Jahre Ermittlungen unter der Ägide des amerikanischen Justizministeriums und der amerikanischen Börsenaufsicht SEC vorausgegangen. Die Ermittlungen starteten Mitte November 2006 mit der Hausdurchsuchung deutscher Staatsanwälte in München und endeten im Dezember 2008 mit der Verhängung einer Geldstrafe von 600 Mio. Euro. Die Anklageschrift des amerikanischen Justizministeriums belegte, dass im Laufe der internen Untersuchungen, fragwürdige Zahlungen in Höhe von 1,3 Milliarden im Zeitraum von 2000 bis 2006 aufgedeckt worden waren. Die Ermittler stießen auf rund 4.300 illegale Zahlungen und protokollierten an die 330 dubiose Projekte, um durch Bestechungsgelder an Aufträge zu gelangen. Die Fälle reichen von Venezuela, über Israel, Nigeria, China, Argentinien, Mexiko, Russland bis nach Vietnam.

Am 15. November 2006 durchsuchte die Münchner Staatsanwaltschaft dreißig Siemens-Büros in Deutschland und Österreich und brachte mit dieser Großrazzia den wohl bekanntesten, deutschen Schmiergeldskandal ins Rollen. Auslöser für die Razzia war der Verdacht der Untreue.

Bis zu diesem Zeitpunkt war der Fall Siemens ohne Beispiel in der deutschen Wirtschaft. Amerikanische Anwaltskanzleien hatten die Federführung bei den Ermittlungen gegen den deutschen Technologiekonzern übernommen. Auf Empfehlung des amerikanischen Justizministeriums wurde im Dezember 2006 die U.S. Kanzlei Debevoise & Plimpton beauftragt. Der Kanzlei werden gute Verbindungen zu amerikanischen Regierungsstellen attestiert.

Bruce Yannett war der Mann, der bei Debevoise & Plimpton für Siemens tätig sein sollte. Yannet gilt als typischer Vertreter einer Karriere, die mehrmals zwischen staatlicher und privater Anstellung wechselte. Dies ist in der amerikanischen Administration nicht unüblich und wird “Drehtür-Effekt” genannt. Yannett hatte schon sehr frühzeitig Bekanntschaft mit dem FBI, CIA, dem Justizministerium und den politischen Gepflogenheiten rund um Ausschusstätigkeiten im Kongress gemacht. Er gehörte zu jenem Juristenteam, das die Iran-Contra-Affäre der Reagan Regierung untersuchte. Es ging um Gelder der CIA aus illegalen Waffenkäufen, die dann an die Contras Nicaraguas weitergeleitet wurden. Der richtige Mann also, um Siemens vor dem Zugriff der amerikanischen Behörden zu schützen, glaubte man in der Vorstandsebene von Siemens.

Fast zwei Jahre später, nach Vorliegen des Abschlussberichtes durch das Justizministerium wird es heißen: „Der Umfang von Siemens-internen Untersuchungen war beispiellos“. Unterstützt wurde die Kanzlei von Deloitte Touche, einer Firma mit Hauptsitz in New York. Sie zählte zur Zeit der Beauftragung zu einer der vier umsatzstärksten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften.

In Europa operierende, amerikanische Nachrichtendienste, wie NSA, CIA oder DIA, aber auch FBI arbeiten sehr eng miteinander, trotz gegenseitiger Konkurrenz und Mankos in der Informationsweitergabe. Die Zielsetzung liegt auf der Hand, sowohl die nationale Sicherheits- und Interessenlage zu schützen, als auch die wirtschaftliche. Die technische Aufklärung im Wirtschaftsbereich richtet sich nicht nur gegen Unternehmen, die gegen internationale Regeln verstoßen, wie dies bei einer Umgehung eines Embargos oder beim Verdacht der Bestechung der Fall ist. Spionage gegen Wirtschaft und Unternehmen hat noch einen weitreichenderen Hintergrund, sofern Nachrichtendienste die Akteure sind. Es geht den Diensten klassisch darum, überführte Unternehmen für eine nachrichtendienstliche Zusammenarbeit zu gewinnen. Dem Unternehmen bleibt nichts anderes übrig, als mit einem Nachrichtendienst zu kooperieren.

In einem Interview Ende Jänner 2014 gegenüber dem ZDF erklärte der ehemalige NSA und spätere CIA Direktor Michael Hayden, dass die USA großes Interesse an der Industriesteueranlagentechnik von Siemens haben. Für den amerikanischen Nachrichtendienst sei es relevant, wenn Siemens „programmierfähige, logische Steueranlagen für die Uranverarbeitung“ herstelle.

Hintergrund ist der Fakt, dass diese Technik für Urananreicherungsanlagen im Iran zum Einsatz kommt. Mitte 2010 wurde bekannt, dass ein hoch entwickelter Computerwurm, später bekannt unter dem Namen Stuxnet, die Anreicherung des Urans, und damit die Entwicklung des Atomprogramms, nachhaltig gestört hatte. Die zum Einsatz gebrachte Schadsoftware griff gezielt die von Siemens gelieferten SCADA-Systeme ( Supervisory Control and Data Acquistion) an. Die Schadsoftware war viele Jahre aktiv und die Komplexität dieser Software lässt vermuten, dass wegen dem Entwicklungsaufwand und auch wegen der hohen Kosten nur eine staatlich finanzierte Organisation als Auftraggeber in Frage kommt. In der einschlägigen Fachwelt geht man davon aus, dass der NSA und dem israelischen Geheimdienst die Federführung für diesen Cyberangriff zugeschrieben werden kann.

Entscheidend allerdings ist der Umstand, dass vieles dafür spricht, dass die Entwickler des Stuxnet-Virus die Industriesteuerungsanlage von Siemens im Detail kennen mussten. Das bestätigte auch Michael Hayden in seinem Interview und heizte damit abermals Spekulationen an, wonach Siemens zuerst Opfer der Ausspähung durch amerikanische Dienste wurde und schließlich zu einer Zusammenarbeit bei der Entwicklung und dem Einsatz der Schadsoftware genötigt worden war. Es spricht sehr vieles für diese Theorie, belastbarere Beweise dafür fehlen bis dato allerdings. Dieses Beispiel zeigt jedoch die Dimension und den Ansatz amerikanischer Wirtschaftsspionage, deren Ziel es nicht immer ist, amerikanischen Unternehmen unmittelbar und direkt einen Konkurrenzvorteil zu verschaffen, wenn andere höhere Ziele der nationalen Sicherheit in Aussicht gestellt werden.

Bis dato wird von den USA jegliche Form von Wirtschaftsspionage verneint, vielmehr dient die Spionage, auch gegenüber deutschen Unternehmen, der Sicherheit der amerikanischen Bürger, so die Argumentation von Politik und Intelligence-Community. Diese Argumentation wird auch noch von deutscher Seite mit dem Hinweis verstärkt, dass der deutsche Verfassungsschutz auch nach dem Fall Siemens und vielen anderen, die noch folgten, keine Bedrohung deutscher Unternehmen durch alliierte Nachrichtendienste feststellen konnte. Daraus allerdings die Schlussfolgerung zu ziehen, es gäbe keine amerikanische Wirtschaftsspionage, greift zu kurz. Beunruhigend aber ist die Erkenntnis, dass dem Verfassungsschutz schlichtweg die technischen Möglichkeiten oder das politische Mandat fehlen, um amerikanische Spionage im großen Stil nachzuweisen.

Der Fall Siemens endete 2008 mit einer Strafzahlung von 600 Millionen Euro, eine Summe, die weit hinter den Erwartungen des Aufsichtsrates zurückblieb. Die Gesamtkosten der Schmiergeldaffäre für den Siemenskonzern beliefen sich am Ende mit Steuernachzahlungen und Prozesskosten auf eine Höhe von 2 Milliarden Euro. Der Schaden war jedoch weit größer. Der Schmiergeldskandal eliminiert praktisch das mittlere- und obere Management des Konzerns, nicht nur im Vertrieb. Der Konzern war fast zehn Jahre lang damit beschäftigt, diesen Aderlass zu verdauen. Was die Ermittlungen jedoch im Nachhinein noch so interessant macht, ist die Frage, inwieweit amerikanische Dienste und das FBI im Vorfeld der Ermittlungen aktiv mitgewirkt hatten. Mit anderen Worten, wie wahrscheinlich ist es, dass Teile der amerikanischen Intelligence Community, im Hintergrund die Fäden zogen. Was den beschuldigten Managern von Siemens aufgefallen war, war der Umstand, dass die Ermittler schon von Beginn der Ermittlungen an überaus gut informiert waren.

Den Managern ist bei der Befragung allerdings auch noch etwas anderes aufgefallen: Nämlich das Interesse der Ermittler, zu erfahren welche lokalen Politiker direkt oder indirekt partizipiert hatten und wie stark die Beweiskette dafür war. Das war das eigentliche „Gold“ der Ermittlungen, das nur Nachrichtendienste in einer „Nachbearbeitung“ des Falls heben konnten. Ein El Dorado also für die damit befassten amerikanischen Dienste.

Es spricht vieles dafür, dass die amerikanischen Nachrichtendienste bei den Ermittlungen gegen Siemens, sowohl in der Einleitungsphase als auch während der Ermittlungen eine entscheidende Rolle gespielt haben. Beweise dafür stehen bis heute aus. Weder deutsche Behörden, noch die Medien haben diesen Fall bisher in diesem Lichte gesehen. Für die deutschen Medien war der Fall zu komplex und zu undurchsichtig. Trotzdem, eine Involvierung der amerikanischen Dienste in der Siemens-Affäre ist mehr als naheliegend, nicht nur nach den öffentlich gemachten Informationen des ehemaligen CIA-Chefs Woolsey, wonach die US-Dienste sich vermehrt um Bestechungsfälle rund um europäische Unternehmen engagieren. Diese Aussagen stammen aus dem Jahre 2000, passen aber in den zeitlichen Kontext des Siemens-Falls, der das Unternehmen erst sechs Jahre später traf.

Interessant ist die Rolle des ehemaligen Vorstandes Klaus Kleinfeld. Wohl hat auch Kleinfeld seine Position als Vorstandsvorsitzender bei Siemens verloren, aber ein Karriereknick war damit nicht verbunden – die USA haben ihn aufgefangen und er wurde CEO von Alcoa, dem größten Aluminiumhersteller in den USA In der Börsenberichterstattung der USA gilt das Unternehmen als wichtiger Konjunkturindikator für die US-Wirtschaft. Sein Transfer von Deutschland in die USA war geprägt von üppigen Vorabzuwendungen, wie Handgeld und Übersiedlungskosten in mehrfacher USD Millionen Höhe, was in Europa als unüblich galt.

Der Fall Siemens war einer der bisher spektakulärsten Aktionen einer US-Behörde gegen ein deutsches Unternehmen. Der Fall Siemens ist aber auch der erste dieser Art, in dem beträchtliche Teile des Law-Enforcement Instrumentariums, ausgesuchte Anwaltskanzleien, NGOs und mit Sicherheit auch die Intelligence Community in einer konzertierten, vermutlich über Jahre hindurch vorbereiteten Aktion, tätig wurden.

Der Erfolg war überwältigend und vollkommen. Die zum Einsatz gebrachte Methodik reicht von Ausspähung sowohl technischer Art als auch im klassisch herkömmlichen Sinn, über die politisch gesteuerte Erpressung des Unternehmens im Hinblick auf die Geschäftstätigkeiten in den USA, die Nutzung des Ermittlungsauftrages für das Ausspionieren von relevanten Geschäftsverbindungen, die Einbindung in aktive Spionage gegen Kunden im Nahen Osten, die Beschlagnahmung essenzieller Geschäftsunterlagen, die Ruhigstellung der deutschen Regierung in der heißen Phase der Ermittlungen, die exzessive Nutzung der deutschen und internationalen Presse als Druckmittel gegen das Management, die Diskreditierung und spätere Eliminierung des mittleren Managements, bis hin zur völligen Neutralisierung der deutschen Spionageabwehr und der deutschen Sicherheitsbehörden. Alle diese Aufzählungen sprechen für eine groß angelegte, nachrichtendienstlich unterfütterte Operation mit Folgewirkungen weit über Siemens hinaus.

Die deutsche Politik wurde durch die Dynamik des Falls und auch durch den Zeitpunkt der Veröffentlichung überrascht und ebenso politisch überfordert. Man kann die Dimension des Falles Siemens als modernes Anwendungs- und Lehrbeispiel für eine erfolgreich abgeschlossene, nachrichtendienstlich gesteuerte Operation gegen ein deutsches Unternehmen sehen. Natürlich handelt es sich hierbei nicht um Wirtschafts- und Konkurrenzspionage, wohl aber wurde ein essenzielles deutsches Wirtschaftsunternehmen in die Knie gezwungen. Weder deutsche Behörden noch die deutsche Bundesregierung war in der Lage einzugreifen. Vor allem aber gibt es keinerlei belastbare Beweise dafür, dass NSA und Co. involviert waren.

***

Dr. Gert R. Polli ist der ehemalige Leiter des österreichischen Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung. Als langjähriger Leiter des österreichischen zivilen Nachrichtendienstes war er Vorsitzender der »Middle European Conference« ebenso wie im Club of Bern, beides hochkarätige, europaweite, informelle nachrichtendienstliche Plattformen.

Im Münchner Finanzbuchverlag ist soeben sein ausgesprochen lesenswertes Buch erscheinen: „Deutschland zwischen den Fronten. Wie Europa zum Spielball von Politik und Geheimdiensten wird“. Polli gibt darin als Insider einen exklusiven Einblick, wie Politik und Wirtschaft von den Geheimdiensten dominiert werden und warum diese Entwicklung besonders für Deutschland zu einem großen Problem werden könnte.

FinanzBuch Verlag München, 304 Seiten, 19,99 Euro

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