Politik

Frankreich: Die Grande Nation muss sich neu erfinden

Lesezeit: 13 min
21.05.2017 03:16
Die Grande Nation muss sich neu erfinden. Der größte Fehler wäre der Versuch, die Agenda 2010 zu übernehmen.
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Im Ausland ist der Wahlerfolg von Macron teilweise begeistert oder zumindest sehr wohlwollend aufgenommen worden. Martin Schulz, der Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten in Deutschland, hat versprochen, eine enge Zusammenarbeit mit Macron für einen Neuanfang in Europa anzustreben, falls er gewählt würde. Finanzminister Schäuble hat sich offen für Reformen entlang der von Macron skizzierten Leitlinien gezeigt, ohne im Detail darauf einzugehen. Bei beiden ist offenbar Macrons Versprechen tiefgreifender Reformen in Frankreich gut angekommen – kombiniert mit solchen auf europäischer Ebene. Das hat auch an den Märkten eine regelrechte Euro-Euphorie ausgelöst.

Andere Politiker haben sich weniger zurückhaltend geäußert. Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel hat Macron empfohlen, eine tiefgreifende Arbeitsmarkt-Reform wie die Agenda 2010 unter Kanzler Schröder in Frankreich zu implementieren. Ins gleiche Horn hat auch Bayerns Finanzminister Söder gestoßen. Mit anderen Worten soll Frankreich jetzt mehr oder weniger die gleiche Kur auferlegt werden, wie Deutschland Mitte der 2000er Jahre oder wie den Peripherieländern seit 2011/12.

Das Problem ist vierteilig. Die deutsche Seite empfiehlt etwas, was sie im Inland als Erfolg erlebt oder interpretiert hat. Die erste Frage ist, ob das überhaupt stimmt. An dieser Stelle soll die Antwort darauf unterbleiben. Wo die ganze Kur einen einzigen Misserfolg darstellt, ist in den Peripherieländern, insbesondere in Griechenland, Italien, Portugal, aber auch in Spanien. Wer Gegenteiliges behauptet, belügt sich selbst – selbst im Falle Spaniens. Der dritte Aspekt ist, ob die Bedingungen denn in Frankreich überhaupt mit Deutschland in der Mitte der 2000er Jahre nur im Entferntesten vergleichbar sind. Und damit zusammenhängend, ob man einem neu gewählten Staatsoberhaupt eine Rosskur empfehlen soll, die in eine Abwärtsspirale genau wie in den Peripherieländern münden könnte.

Die Antwort auf die letzteren beiden Fragen ist ein absolut klares Nein. Frankreichs Problem der Arbeitslosigkeit hat große Differenzen zu Deutschlands Problemen von 2003-05. Sie hat einen ganz anderen, spezifisch französischen Hintergrund. Und diese erfordern effektiv ganz andere Lösungen.

Die Arbeitslosigkeit in Frankreich liegt seit über 30 Jahren je nach Art der Messung zwischen 7 Prozent (8-9 Prozent) und 10 Prozent (12-13 Prozent). Sie ist höher, wenn die Überseegebiete eingeschlossen werden, wo die Arbeitslosigkeit zwischen 20-30 Prozent beträgt. Und sie liegt noch höher wenn die Definition gemäß der staatlichen Arbeitsagentur (Pôle Emploi) statt derjenigen des IINSEE beziehungsweise der Internationalen Arbeits-Organisation ILO genommen wird. Die Arbeitslosigkeit gemäß Pôle Emploi berücksichtigt auch unfreiwillige Teilzeit-Arbeitslosigkeit in verschiedenen Stufen. Weil nur für die Daten des INSEE lange Zeitreihen vorliegen, wird die Darstellung auf diese beschränkt. Die Arbeitslosigkeit in Frankreich hat eine sehr starke strukturelle und eine konjunkturelle Komponente. Hier konzentrieren wir uns auf die strukturelle Komponente, welche den großen Teil der Arbeitslosigkeit ausmacht.

Die strukturelle Arbeitslosigkeit in Frankreich ist primär ein Problem der Jugendarbeitslosigkeit, eines Versagens der Berufsbildung für Jugendliche ohne Gymnasialabschluss. Sie hat drei zusammenhängende Komponenten: Das Fehlen eines dualen Berufsbildungs-Systems in Frankreich analog dem in Deutschland oder der Schweiz für Jugendliche ohne Gymnasialabschluss. Historisch ist dies in vielen Ländern der Fall. Dieses Fehlen ist vor allem dann schwerwiegend, wenn eine Wirtschaft globalisiert wird, internationalem Wettbewerb mit Tieflohnländern unterworfen ist, selbst aber ein hohes Lohnniveau hat. Dieses Fehlen einer Berufsbildung in Frankreich ist aber auch Ausdruck eines Schul- und Bildungssystems, das möglichst viele Jugendliche zu einem Gymnasialabschluss führen will. Die Desindustrialisierung Frankreichs, die viele unqualifizierte Tätigkeiten oder solche mit geringen Anforderung in der Industrie, im Gewerbe und im Dienstleistungssektor ausgelagert hat, ist teilweise diesem Fakt zuzuschreiben. Auch die Immigrationspolitik und Wohnungsbau-Politik Frankreichs, speziell unter dem Präsidenten Mitterand und den nachfolgenden Präsidenten, ist ein wichtiger Faktor.

Die Grafik bildet die ganze Tragik der strukturellen Arbeitslosigkeit in Frankreich ab. Die Jugendarbeitslosigkeit ist der Kern der Arbeitslosigkeit in Frankreich. Sie liegt mit seit 40 Jahren steigendem Trend inzwischen bei fast 25 Prozent. Diese Jugendlichen sind oft Schulabgänger ohne Gymnasialabschluss (‚baccalauréat’). Sie finden keine Lehrstelle, weil es in Frankreich keine breit aufgebaute Berufsbildung für Jugendliche ohne Gymnasialabschluss gibt. Sie haben dadurch keine berufliche Basis-Qualifikation und sind später auf dem Arbeitsmarkt angesichts des in Frankreich starken Kündigungsschutzes chancenlos. Sie sind schlichtweg nicht vermittelbar. Ein Arbeitgeber kann es sich nicht leisten, Unqualifizierte und schulisch Schwache durch ein ganzes Berufsleben zu schleppen, wenn er sie praktisch nicht mehr kündigen kann. Es gibt in Frankreich wie anderswo auch zeitlich befristete Stellen, aber sie sind weniger verbreitet als etwa in den Peripherieländern. Diese Unqualifizierten sind auch der Kern der arbeitslosen 25-49-Jährigen, welche das Gros der Arbeitslosen ausmachen. Sie pendeln zwischen Arbeitslosigkeit und zeitlich befristeten Jobs.

Die Jugendarbeitslosigkeit ist primär eine Arbeitslosigkeit der Unqualifizierten. In der Statistik sind das Personen mit einfachem Schulabschluss oder ohne Abschluss (grüne Balken). Sie sind in der Periode von 1-4 Jahren nach dem Abschluss der schulischen Ausbildung heute zu über 50 Prozent (2014: 53 Prozent) ohne Beschäftigung. Aber auch in besseren Zeiten wie zu Beginn der 2000er Jahre lag die Arbeitslosigkeit dieser Jugendlichen 1-4 Jahre nach dem Abschluss über 33 Prozent. Man stelle sich vor, was das für ein Berufseinstieg ist: Nach der Schule zunächst jahrelang ohne Job zu sein. Gleiches gilt auch für einen Teil der Jugendlichen, welche ein Abitur (frz. ‚Baccalauréat‘) geschafft haben. Dort beträgt die Arbeitslosigkeit immer noch über 20 Prozent nach 1-4 Jahren nach dem Abschluss (gelbe Balken). Im Kern bedeutet dies ein Gefühl der Demütigung, der Entwürdigung, des Nicht-Erwünscht-Seins in der Phase des Lebens, in der die Identität gebildet wird. Hinzu kommt die Tatsache, dass eine breite, nach oben offene Ausbildung, etwa Richtung Fachhochschulen, für diesen Teil der Jugendlichen schlicht nicht vorhanden ist – für den Rest des Lebens.

Der Grund dafür ist das System der Berufslehren. Auf einen kurzen Nenner gebracht ist es teuer, ineffektiv, hochbürokratisch und bringt hauptsächlich etwas für diejenigen, welche bereits einen guten höheren Schulabschluss gemacht haben. Für die Jugendlichen, die kein ‚Bac' schaffen, bringt es wenig. Es gibt zu wenige Lehrstellen. Vor allem sind die Lehrinhalte ungenügend und die Lehren viel zu kurz, oft nur 1-2 Jahre. Viele Lehrabschlüsse werden von Arbeitgebern als praktisch wertlos angesehen. Die Berufslehren wurden in Frankreich in den 1980er Jahren eingeführt und sind bis heute in Bezug auf Standards nicht zu vergleichen mit denjenigen in Deutschland oder in der Schweiz. Sie haben sich vor allem für schulisch gut Ausgebildete in eine günstige Richtung entwickelt.

Die Kehrseite dieser Entwicklung ist, dass eben Jugendliche mit einem einfachen Schulabschluss und ohne adäquate Berufsausbildung auf dem Arbeitsmarkt schwer benachteiligt sind. Sie haben es schon schwer, überhaupt eine Stelle für den Berufseinstieg zu finden. Sie sind dann oft auf zeitlich befristete Jobs ohne Entwicklungsmöglichkeit angewiesen und müssen als erste wieder gehen. Deshalb ist die Arbeitslosigkeit nicht nur bis zum Alter von 25 Jahren, sondern überhaupt sehr stark auf diese Gruppe fokussiert (grüne Balken).

Trotz erheblicher finanzieller Aufwendungen hat Frankreich es bis heute nicht geschafft, ein einigermaßen vernünftig organisiertes System der Berufsbildung auf die Beine zu stellen. Verschiedene Premiers und Präsidenten haben dies zu einer Priorität ihrer Amtszeit gemacht. Allesamt sind sie nur schon mit einer miserablen quantitativen Ausbeute an Lehrstellen und Lehrabschlüßen gescheitert – weit unter den jeweils von Sarkozy oder von Hollande verkündeten Zielgrößen. Von qualitativen Aspekten ganz zu schweigen.

Der Verlust an industrieller Wettbewerbsfähigkeit ist sehr stark diesen fehlenden Investitionen in das Humankapital geschuldet. Es fehlt eine Schicht hochqualifizierter Facharbeiter, welche entsprechend auch eine hohe Produktivität haben. Und es führt dies zur absurden Situation eines weit verbreiteten Mangels an qualifizierten Berufsleuten in einem breiten Spektrum industrieller und handwerklicher Berufe – dies bei strukturell hoher Arbeitslosigkeit. Nur schon einen brauchbaren Maler, Schlosser, Zimmermann oder Schreiner zu finden, kann lokal oder regional ein Ding der Unmöglichkeit sein. Frankreich hat ein rigoros elitäres Schuld- und Bildungssystem, bei dem auf der Strecke bleibt, wer schulisch in den Jahren bis zum Alter von 15 nicht mithalten kann. Dies obschon der oder die Jugendliche vielleicht enorme handwerkliche oder feinmechanische Talente hat und auch schulisch vielleicht später aufholen könnte.

Frankreichs Dauer-Arbeitslosigkeit ist auch eine Spätfolge der Politik des früheren Präsidenten Mitterand. Dieser hat vier einzeln schon problematische, in der Summe oder Interaktion aber konflikthafte Politiken kombiniert. Sie sind von den Präsidenten und Premierministern seither im Kern nie angegangen worden:

Er hat erstens eine Politik der ‚deflation compétitive‘ betrieben, welche – über einen starken realen Franc und sehr hohe Realzinsen – die Desindustrialisierung in Frankreich sehr früh eingeleitet und breitenwirksam durchgesetzt hat. Die désinflation compétitive versuchte, eine strikte Anbindung des Franc an den ECU bzw. ab 1990 an die Deutsche Mark beziehungsweise mit einem Aufbrechen der Inflationsmechanismen in der französischen Gesellschaft zu verbinden. Kernelemente der Desinflation waren:

  • Die Abschaffung der automatischen Indexierung der Nominallöhne an die Preisentwicklung, d.h. des Teuerungsausgleichs, in den 1980er Jahren.
  • Eine Politik der rigorosen Deregulierung des Binnensektors. So wurden zum Beispiel die in Frankreich traditionellen kleinen Geschäfte, die zum ländlichen Dorfbild wie zum Bild der Innenstädte gehörten, rigoros durch Großverteiler und Discounter verdrängt. Darum gehören heute die französischen Großverteiler zu den größten in der Welt. ‚Geiz ist geil’ wurde in Frankreich lange vor Deutschland durchgesetzt. Auch andere wichtige Bestandteile der Lebenshaltungskosten wurden rigoros dereguliert oder so reguliert, um die Inflation niedrig zu halten. Ein Beispiel dafür sind die Alt- oder Bestandsmieten, die nur wenig ansteigen dürfen – oder die Politik der steuerlichen Bevorteilung des Diesels, die in Frankreich noch weiter reicht als in Deutschland.
  • Das dritte Element war, ob gewollt oder nicht, eine hohe und persistente Arbeitslosigkeit, welche einen Druck auf die Nominallöhne ausübt.
  • Der Grundfehler bestand darin, dass der Wechselkurs viel schneller durchschlägt auf die reale Aktivität, und die Lohn- und Preisanpassung zeitlich weit verzögert erfolgt. Im Kern peilte Mitterand einen viel zu harten Wechselkurs an, und musste wegen der damit verbunden Probleme mit Budgetdefiziten noch eine tendenziell restriktive Finanzpolitik betreiben.

Die zweite Welle dieser Desindustrialisierung kam nach 1999, als der Wechselkurs irreversibel festgezurrt war. Ein Faktor war die Globalisierung, vor allem der WTO-Beitritt Chinas im Jahr 2001, der alle alten Industrieländer unter Druck setzte. Hinzu kam der Beitritt der osteuropäischen Länder zur Europäischen Union in den Jahren 2004 und 2007. Sie kombinieren gut ausgebildete Arbeitskräfte, die Zugehörigkeit zum Europäischen Binnenmarkt und praktisch identische Kapitalkosten.  Dass Frankreich besonders unter Druck geriet, war auch der überstürzten Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich zuzuschreiben. Dadurch wurden die Arbeitskosten enorm erhöht.

Mitterand hat zweitens im traditionell super-zentralistischen Frankreich eine weitreichende Dezentralisation des Staates eingeleitet. Vor allem wurden sehr viele Funktionen an die Gemeinden als kleinste Verwaltungseinheit delegiert. Heute hat Frankreich im internationalen Vergleich extrem viele Gemeinden – mehr als drei Mal so viel wie Deutschland. Als Folge dieser komplexen Operation hat aber Frankreich mit drei Ebenen praktisch eine staatliche Ebene (konkret die ‚départements’) zu viel und außerdem viel zu viele kleine und kleinste Gemeinden. Die Dezentralisierung war nicht etwa mit einem rigorosen Abbau in den staatlichen Einheiten verbunden, welche Befugnisse abgaben. Dadurch ist der Staatsapparat bis heute weit aufgebläht, ineffektiv und hat deutlich zu viele unproduktive Staatsangestellte. Dies schließt im Übrigen auch die Territorien außerhalb des Festlandes (DOM-TOM) ein.

Mitterand hat schließlich eine Politik offener Grenzen für Immigranten aus dem Maghreb und früheren Kolonien gestartet. Auch illegal anwesende Ausländer wurden mit Rechten ausgestattet, sodass sie praktisch nicht mehr abgeschoben werden konnten. Neben der Immigration verhalf auch eine großzügige Sozialpolitik zu einer hohen Geburtenrate dieser Immigranten. Diese bewusste Politik der Massenimmigration und sogar effektiven Islamisierung erfolgte aus rein politischen Gründen. Mitterand wollte ein Proletariat als eine zusätzliche Wählerschaft für seine Sozialistische Partei. Der Architekt von Mitterands Immigrationspolitik, Jean-Claude Barreau, hat dies in einem kürzlich veröffentlichten Buch detailliert dargelegt.[1] Heute sind die Kinder und Enkelkinder dieser Immigranten der Kern der Jugendarbeitslosen, welche in schlechten Quartieren mit schlechten Schulen und ohne adäquate Berufsausbildung aufgewachsen sind. Nachher sind das die Arbeitslosen, die auch im späteren Berufsleben nie eine feste, unbefristete Stelle finden. Als Folge ist der Front National als Partei gestärkt worden – nicht die Sozialisten.

Viertens hat Mitterand mit dem gaullistischen Erbe des staatlich geförderten, sozialen Wohnungsbaues gebrochen. Die HLM-Bauten (Habitation à Loyer Modérée, kurz HLM) waren vor allem in den 1950 bis 1970er Jahren die hauptsächlichen Formen des Wohnungsbaues – nicht immer architektonische Schönheiten. Vor allem aber waren sie eine finanzielle und politische Maschine der Gaullisten als Partei. Wahrscheinlich wurden sie aus diesem Grund nicht mehr gefördert. Der Abbau des sozialen Wohnungsbaus erfolgte just in jener historischen Epoche, wo durch Massenimmigration und erhöhte Geburtenquoten ein Bedarf nach günstigem Wohnraum entstanden war. Ferner führte die Verschiebung zum Dienstleistungssektor eine Konzentration des Wohnungsbedarfs rund um die Großstädte und weg von der France profonde. Durch das Abstellen auf den privaten Wohnungsbau – auch eine Politik der Europäischen Union unter Jacques Delors – ist eine strukturelle Wohnungsnot mit deklassierten Quartieren entstanden.

Um diesen verheerenden Trend, ja Teufelskreis zu brechen, wären zunächst Investitionen nötig. Das ist der positive Teil an Macrons Vorschlägen. Macron will die Ausgaben für die berufliche Bildung stark anheben: sowohl für die Berufslehren wie auch für Wiedereinsteigerkurse für Langzeit-Arbeitslose. Diese müssten in ein duales Berufsbildungs-System nach deutschem Muster münden. Das Programm Frankreichs sollte sich diesbezüglich viel mehr an den besten Standards der Welt, etwa in Deutschland oder in der Schweiz, orientieren und nicht vom französischen Fall ausgehend Verbesserungen skizzieren. Das kann ohne Weiteres auch staatliche Lehrwerkstätten einschließen, welche eine ausgedehnte Lehre mit Abschluss als Facharbeiter ermöglichen. Und es sollte den Weg über Fachhochschulen freimachen, welche auch Jugendlichen ohne Gymnasialabschluss eine höhere Qualifikation erlauben. Das erfordert zunächst Investitionen, ist aber unabdingbar, um die Arbeitslosigkeit und Sozialausgaben in der Zukunft reduzieren zu können. Frankreich hat es bis heute verpasst, diese notwendigen Investitionen zu leisten. Und für viele unqualifizierte Arbeitslose müsste wohl ein staatliches Programm mit Lehrwerkstätten für Berufslehren in einfachen Berufen stattfinden, wo es heute auf breiter Ebene Mangelerscheinungen gibt: z.B. Maler, Schlosser, Schreiner, Metzger. Die Klein- und Mittelbetriebe können sich diese Investition in das Humankapital schlicht nicht leisten.

Aber das genügt nicht: Die zusätzliche Investition müsste schon früher einsetzen: bei Kindergärten und Schulen in schlechten Quartieren mit vielen Sozialfällen. Die schulische Grundbildung müsste schon gestärkt werden – etwa durch den Einsatz der besten Pädagogen in den Problemquartieren und nicht in den Eliteschulen in den besseren Quartieren. Schließlich wäre eine massive Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaues, der gaullistischen HLM (‚Habitation à Loyer Modérée), angemessen – aber ohne den Baustil der 1960er und 1970er Jahre. Ohne genügend neuen Wohnraum kann dem Verfall der Immigranten-Quartiere nicht begegnet werden. Eine solche Welle der Bauinvestitionen würde im Übrigen den Arbeitsmarkt beleben.

Konjunkturpolitisch wird im Programm von Macron netto fast nichts geändert. Projektierten Mehrausgaben von 50 Milliarden stehen Kürzungen an anderer Stelle von 60 Milliarden Euro gegenüber – beides über 5 Jahre verteilt. Bei einem Bruttoinlandsprodukt von über 2200 Milliarden pro Jahr ist das ein Klacks, ein Rundungsfehler, nicht erwähnenswert. Die Reallokation allerdings zielt in die richtige Richtung. Die 50 Milliarden Euro werden investiert in sinnvolle Bereiche wie die Berufsbildung, die Infrastruktur, die Digitalisierung oder die Förderung erneuerbarer Energien.

Die geplante Ersparnis konzentriert sich auf die Sozialausgaben – aber nicht dass hart gespart würde. Zwar sollen 120.000 Staatsstellen abgebaut werden, ein beträchtlicher Teil der geplanten Ersparnis entspringt aber günstigen Prognosen über den zukünftigen Konjunkturverlauf, ist also konjunkturbedingt reduzierten Ausgaben zuzuschreiben. Es ist primär die Wirkung automatischer Stabilisatoren, nicht diskretionärer Eingriffe. Im Gegenteil: Die Sozialausgaben sollen an verschiedener Stelle ausgebaut werden. So sollen gescheiterte Selbständige inskünftig auch Arbeitslosengelder beziehen dürfen, was sinnvoll und gerecht ist. Sie zahlen ja auch in die securité sociale ein. Darüber hinaus aber soll jeder Arbeitnehmer oder Selbständige alle 5 Jahre Arbeitslosengelder beziehen dürfen, wenn er sich beruflich neu orientieren oder eine schöpferische Pause einlegen will. Das ist ein ‚nice to have’, aber angesichts des desolaten Zustands der Staatsfinanzen sicher keine Priorität. Die Reform der Arbeitslosenversicherung zielt darüber hinaus auf eine Wieder-Qualifikation, was an sich begrüßenswert ist. Auch sollen die Kontrollen verschärft und bei Ablehnung zweier zumutbarer Vorschläge die Zahlungen eingeschränkt werden. Das alles bringt aber zu wenig. Es ist nicht das primäre Problem Frankreichs, dass Berufstätige zwischen zwei Stellen auf der faulen Haut liegen und Arbeitslosengelder kassieren.

Parallel dazu müsste der aufgeblähte Staatsapparat rationalisiert werden. Insofern ist das Ziel von Macron, 120.000 Staatsstellen zu streichen, in der Stoßrichtung korrekt, aber viel zu wenig ambitiös. Die ursprünglich von Fillon genannte Zahl von 500.000 Stellen wäre viel realistischer. Wahrscheinlich müssten es noch mehr sein. Der Stellenabbau müsste nicht sofort und durch Massenentlassungen, sondern über Nicht-Ersetzen bei Pensionierung oder bei freiwilligem Abgang und vor allem durch Rationalisierung, Gemeindefusionen und Abschaffung der Departemente erreicht werden.

Angesichts der unentwegt steigenden Lebenserwartung ist auch das Rentenalter mit 62 schlicht nicht bezahlbar. Es ergeben sich dadurch zu viele Bezüger gegenüber zu wenigen Einzahlern. Das Rentenalter müsste aus rein demografischen Gründen angehoben werden.

Macrons angekündigte Reformen für die Berufsbildung und den Staatsapparat gehen also in die richtige Richtung, aber zu wenig weit. In die Qualifikation der Jugendlichen und Arbeitslosen müsste noch viel stärker investiert und umgekehrt die unproduktiven Ausgaben des Staates für überflüssige Beamte noch viel stärker gekürzt werden. Zudem ist eine maßvolle, zeitlich gestaffelte Anhebung des Rentenalters unabdingbar. Das würde zwei zusätzliche Effekte erlauben: Eine Absenkung der Belastung der Unternehmen durch die Sozialabgaben sowie vor allem erhöhte öffentliche Investitionen, nicht nur in die Schulen und in die Berufsbildung, sondern auch in die Infrastruktur und den Wohnungsbau. In Frankreich fehlen günstige und bezahlbare Wohnungen für rund 1 Million Einwohner.

Die größte Herausforderung stellt aber die Wiedergewinnung der Wettbewerbsfähigkeit dar. Es gibt bisher kein OECD-Land von Gewicht, dass nach einer so langen Phase der De- eine kraftvolle Re-Industrialisierung geschafft hat. Macron wird, das ergibt sich aus seinem Lebenslauf, seinen Unterstützern und seinen Prioritäten, primär die Wettbewerbsfähigkeit der Wachstumssektoren der französischen Wirtschaft steigern können: der Banken, des Finanzplatzes Paris und des Technologiesektors. Für die Banken wird sich eine steuerliche Lösung für die Verlagerung der Arbeitsplätze von London nach Paris im Zusammenhang mit dem Brexit finden lassen. Seine Europläne werden französischen Banken ohnehin zu weiterem internationalem Geschäft verhelfen. Der Technologiesektor soll gestärkt werden, wobei neben staatlicher Anschub-Hilfe Private Equity- und Investment-Banking zu Hilfe genommen und Finanzierung animiert werden können.

Für die Industrie und andere traditionelle Sektoren ist nichts Äquivalentes zu erkennen. Die einzigen erkennbaren Maßnahmen sind die Absenkung des Steuersatzes für Unternehmensgewinne von 33.5 auf 25 Prozent und die Flexibilisierung der 35-Stunden-Woche. Es soll Unternehmen und Belegschaften freigestellt werden, von der Normarbeitszeit sowie von Standardlöhnen abzuweichen und branchen- und betriebsübliche Normen festzulegen. In der Praxis bedeutet das, dass die Arbeitsbedingungen beim Staat und bei den Großunternehmen unverändert bleiben werden. Denn dort sind die Gewerkschaften stark und militant. Die Arbeitsbedingungen werden sich bei Klein- und Mittelbetrieben aber rapide zu Lasten der Beschäftigten verschlechtern, weil es dort keine Gewerkschaften gibt. Nur produzieren diese hauptsächlich für den Binnenmarkt und sind weniger wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit im Außenhandel. Auch die Steuersenkung ist in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit wenig wirksam. In der Praxis zahlen die Multinationalen in Frankreich relativ wenig Steuern. Deswegen wird kein einziger neuer Arbeitsplatz vom Ausland nach Frankreich verlagert werden. Oder umgekehrt: Kein einziger Arbeitsplatz wird wegen dieser Steuersenkung in Frankreich zurückbleiben.

Das Problem an Macrons wirtschaftspolitischem Programm für Frankreich ist somit, dass es an der Oberfläche bleibt. Es ist teils aus politischen Gründen, teils aus ungenügender Tiefenschärfe und analytischer Kompetenz, eine leicht geschärfte Version der Praxis unter der Präsidentschaft von Hollande. Es sind auch die exakt gleichen Berater. Mit diesem Programm ist diesbezüglich wohl eine Enttäuschung vorprogrammiert.

Frankreich hat nicht nur die ‚dümmste Rechte‘ und die ‚dümmste Linke‘ der Welt bei Wahlen und damit verbundenen Wahlmanövern. Aufeinander folgende Regierungen haben auch eine Serie oder Abfolge ideologischer Fixierung auf unangebrachte und inkohärente Konzepte in der Wirtschaftspolitik hingelegt. Viel zu viele Jahre wurden mit der Politik der ‚rigeur’ verbracht, welche das Land in eine Situation der ‚Hysteresis’ gebracht haben: Der permanenten und strukturell erhöhten Arbeitslosigkeit, welche auch bei gut laufender Konjunktur gar nicht mehr abgebaut werden kann. Deren primäre Ursache ist die Absenz einer Berufsausbildung für Schulabgänger ohne oder mit bescheidenem Gymnasialabschluss. Sie hat Generationen von Jugendlichen über Jahre den Einstieg ins Berufsleben unmöglich gemacht. So haben sie keine breite Berufsbildung, ermangeln der sozialen Fähigkeiten für den Arbeitsmarkt und -prozess und geraten in einen Teufelskreis von sozialer Entwurzelung, Hoffnungslosigkeit und Kleinkriminalität. Die in Frankreich über Jahrzehnte gemachten Versuche, ein leistungsfähiges Berufsbildungs-System zu etablieren, sind gescheitert und kosten außerdem noch zu viel. Etwas verkürzt ausgedrückt sind es viele unnütze Kurse, die von allen möglichen kleinen und nicht adäquat überwachten Anbietern angeboten werden. Sie können damit die staatlichen Zahlungen abkassieren, ohne einen wirklichen Gegenwert zu liefern. Statt weitere Versuchsballone zu lancieren, wäre eine konsequente Orientierung an den besten Standards der Welt wie in anderen Bereichen der Ausbildung wohl zweckmäßiger.

Die Vorstellung vieler deutscher Spitzenpolitiker, Kommentatoren und in der deutschen Öffentlichkeit, dass es in Frankreich Schröder’scher ‚Reformen‘ im Stil einer Agenda 2010 bedürfe, gehen weit an der Realität vorbei. Das Problem in Frankreich ist nicht, dass es zu viele Unwillige gibt, die den Sozialstaat ausnutzen. Die Beschäftigungsquote ist im Gegenteil hoch für diejenigen zwischen 25 und 62 Jahren mit guter Ausbildung und beruflicher Qualifikation. Es braucht keine Deregulierung des Arbeitsmarktes, damit eine Klasse von zwangsweise unterbezahlten Niedriglöhnern geschaffen wird. Es braucht auch keine Aufweichung des Kündigungsschutzes. Was wirklich wäre, ist etwas, was Deutschland schon über Jahrzehnte vorher entwickelt hat, nämlich ein gut ausgebautes Berufsbildungs-System auch für solche, die den gymnasialen Anschluss nicht anstreben, dafür jedoch andere Talente, Begabungen und Vorlieben haben.

[1] Jean-Claude Barrault (2015): Liberté, Egaliité, Immigration. La France à l’heure du choix.


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