Sorgen um die Stabilität und Zukunft der Mittelschicht in Deutschland gibt es seit Jahren. Neue Nahrung erhalten diese durch die digitalen Umbrüche, von denen zahlreiche Branchen und die Arbeitsplätze von Millionen Menschen betroffen sind. Das zeigt etwa das neue Buch “Das Ende der Mittelschicht”, welches ein Bild von Verunsicherung, dem zu erwartenden Verlust von Arbeitsplätzen und vom Verschwinden vertrauter Lebensmodelle zeichnet.
Die Lage der Mittelschicht in Deutschland
Der Buchautor und Journalist Daniel Goffart beschreibt die eigene Kindheit in Aachen: “Unsere Nachbarn waren normale Angestellte, Techniker, Lehrer, mittlere und höhere Beamte in der Stadtverwaltung, Juristen, Handwerker und ein Redakteur.” Ein Grundgefühl habe alle verbunden, gleiche Regeln und Werte. Diese einheitliche Mittelschicht auf sicherem Boden sieht Goffart quasi am Ende. Mieten und Immobilienpreise seien explodiert, gesunken seien die Kaufkraft und die Fähigkeit, Vermögen anzusammeln. “Viele strampeln sich ab wie im Hamsterrad”, zitiert die dpa Goffart. Hinzu kommt, dass die deutsche Mittelschicht im Schnitt hoch verschuldet ist.
Die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofound) berichtet, dass die Mittelschichten Europas tendenziell schrumpfen. Während die Realeinkommen in den meisten osteuropäischen Ländern ein bemerkenswertes Wachstum verzeichneten, fallen die Fortschritte des Realeinkommens in den westeuropäischen Ländern mit höherem Einkommen eher schwach aus. In Deutschland ging das durchschnittliche Realeinkommen in den vergangenen Jahren sogar zurück.
Der US-Informationsdienst Geopolitical Futures (GPF) führt aus: “Das eigentliche Problem ist die Ungleichheit in Bezug auf den Wohlstand der Haushalte und das Realeinkommen. Deutschland mag ein reiches Land sein - das durchschnittliche Nettovermögen pro Haushalt beträgt etwa 214.000 Euro oder 265.000 US-Dollar -, aber das mittlere Nettovermögen (Median) pro Haushalt in Deutschland liegt bei nur etwa 61.000 Euro. Das sind beispielsweise rund 4.000 Euro weniger als in Griechenland.. Die untere Hälfte der Haushalte in Deutschland besitzt pro Haushalt weniger Vermögen als die untere Hälfte der Haushalte in Griechenland.”
Was sagen Ökonomen zur Lage in Deutschland?
“Die Mittelschicht stellt weiterhin eindeutig die größte Bevölkerungsgruppe in Deutschland”, sagt die Forscherin Judith Niehues vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Untersucht hat Niehaus die Situation in der Studie “Die gespaltene Mitte”. Zur Mitte zählen demnach alle, deren Einkünfte um das mittlere Einkommen der Gesellschaft liegen - nämlich bei 80 bis 150 Prozent dieses Medians. Das waren 2015 für einen Single 1440 bis 2710 Euro netto im Monat. Fast jeder Zweite gehört demnach zur Mittelschicht - 47,5 Prozent der Bevölkerung. 32,9 Prozent liegen darunter, 19,5 Prozent darüber.
Niehues sagt: “Im Zuge des ostdeutschen Aufholprozesses ist die Mittelschicht zunächst etwas größer geworden.” Um die Jahrtausendwende aber habe ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung begonnen, abzunehmen - zeitgleich mit einem Anstieg der Ungleichheit. “Seit 2005 ist sie relativ stabil.” Laut Forschungsinstitut DIW haben heute deutlich weniger Menschen mittlere Einkommen als noch vor rund 20 Jahren. Die DIW-Forscher untersuchten, wer 77 bis 130 Prozent des mittleren Einkommens verdient - und kamen zum Ergebnis: Diese Schicht schrumpfte von 48 Prozent Ende der 90er Jahre auf 41,4 in den Jahren 2014/15.
Mehr Menschen sind heute zudem finanziell abgehängt. Der Hans-Böckler-Stiftung zufolge lebten zuletzt 5,4 Prozent der Deutschen dauerhaft unter der Armutsgrenze - Mitte der 90er Jahre waren es noch 3,1 Prozent, 10 Jahre später schon 5,2 Prozent. Forscher haben für die gewerkschaftsnahe Stiftung zudem errechnet, dass gut vier Millionen Menschen in Deutschland auf Dauer unter prekären Umständen leben und arbeiten. Beispiele seien etwa Verkäuferinnen in Billigschuhläden, Nachtpförtner oder alleinerziehende Krankenschwestern.
Auf der anderen Seiten zeigen Umfragen: Eine Mehrheit der Menschen ist zufrieden mit dem eigenen Leben. “Interessanterweise sind wir auf einem langjährigen Hoch angekommen - trotz dieser ganzen Debatten über so viel Unzufriedenheit und Ängste”, sagt der Magdeburger Soziologe Jan Delhey in einem Interview. Der Hauptgrund für diesen Befund sei die seit Jahren sinkende Arbeitslosigkeit.
Es gibt also Spaltungstendenzen - und in der Mittelschicht selbst zwei verschiedene Gruppen, wie die IW-Forscherin Niehues sagt. “Die größere Gruppe, die etwa zwei Drittel der Mittelschicht ausmacht, zeichnet sich durch vergleichsweise wenig Sorgen und einen optimistischen Blick in die Zukunft aus.” Bei der anderen, kleineren Gruppe von immerhin etwa einem Drittel der Mittelschicht aber bestünden viele Sorgen - hinsichtlich der Entwicklung der Kriminalität, hinsichtlich des Erhalts des gesellschaftlichen Friedens und mit Blick auf die Folgen der Zuwanderung nach Deutschland. Doch nur bei rund jedem Vierten dieser besorgten Bürger stünden Ängste wegen der eigenen ökonomischen Lage im Fokus.