Prof. Dr. Bernhard Neumärker plädiert für ein bedingungsloses Grundeinkommen – und erläutert, weshalb ein solcher Ansatz fortschrittlich liberale Züge trägt.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie bieten an der Universität Freiburg seit einiger Zeit ein Seminar zu dem Thema "Bedingungsloses Grundeinkommen" an. Dieses wird zukünftig von dem Unternehmer Götz Werner mitfinanziert. Warum ein solches Seminar und was genau kann man da lernen?
Bernhard Neumärker: Ordnungspolitische Zielsetzung des Seminars ist in computergestützten, online-getriebenen oder „Paper and pencil“-Laborexperimenten zu überprüfen, ob und wann sich Bürger einer Gesellschaft in einem Sozialvertrag -also auf der Regelsetzungsebene der Verfassung - auf ein bedingungsloses Grundeinkommen einigen würden. Zudem schauen wir in den Experimenten an, wie sich Individuen an ein Grundeinkommen anpassen. Beispiele dazu sind die Aufteilung der Tages- oder Lebenszeit auf Erwerbsarbeit, unbezahlte Arbeit und (kreative) Freizeit, die Wahl von Studienfächern, Anreize zum Wechsel von der Wettbewerbs- in die Sorgewirtschaft oder Präferenzen für die eine oder andere Grundeinkommensausgestaltung hinsichtlich Anspruch, Höhe und Finanzierung.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie hoch sollte das BGE ausfallen und wie ließe sich das finanzieren?
Bernhard Neumärker: Ein BGE, dass Partizipation ermöglicht, sollte mindestens 1000 Euro, noch besser 1500 Euro betragen. Es gibt viele Finanzierungsvorschläge dafür, zum Beispiel über die Mehrwertsteuer oder als Nettobetragszahlung in Form der Negativen Einkommensteuer. Für einen sorgfältigen Ökonom ist die Frage prinzipiell immer zu beantworten, da er die staatliche Budgetrestriktion mitbedenken muss: Man kann nicht mehr ausgeben, als man einnimmt. Die Frage ist dann, welche Höhe aus Heranziehung welcher Finanzierungsinstrumente gewonnen werden kann. Auch die Finanzierung aus den Erträgen von Gemeinschaftsgütern könnte herangezogen werden. Immerhin ist jeder Bürger wesentlicher Teil und „Anteilseigener“ des Staates und könnte deshalb BGE als entsprechende „Sozialdividende“ erhalten, indem man das BGE z.B. aus einem Bruchteil des Bruttoinlandsprodukts finanziert.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sollten "Reiche" wie "Arme" gleichermaßen ein BGE erhalten?
Bernhard Neumärker: Klar! Allein die Prüfung, wer arm und wer reich ist, führt stets zu Diskussionsstoff. So kann ein vielbeanspruchter Manager reich an Geld und arm an Freizeit sein, keinen gesundheitlich dringend benötigten Ausstieg aus der Berufstretmühle und dem mit seiner Erwerbsarbeit verbundenen Status finden. Durch das BGE wird „arm“ wie „reich“ signalisiert, dass wir nicht Bedürftigkeit oder Zumutbarkeit prüfen, sondern jeder Person die grundlegende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und eine Exit-Option grundsätzlich bieten wollen. Die Bedürftigkeits- und Zumutbarkeitsprüfungen wie z.B. unter Hartz 4 sind sowohl individuell wie auch politisch strategisch manipulierbar. Man kann die zugrundeliegenden Kriterien eigentlich jeden Tag plausibel ändern oder sich als bedürftig „gesundrechnen“. Das Ganze verlangt jedenfalls einen ungeheuren bürokratischen Aufwand.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Befürworten Sie ein BGE aus reinem Pragmatismus oder liegt Ihren Überlegungen auch ein bestimmtes Menschenbild zugrunde?
Bernhard Neumärker: Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass eine moderne Gesellschaft nicht nur Konsumentensouveränität im Konsum von Gütern und Dienstleistungen erzeigen sollte, sondern das weitere Konzept der individuellen Zeitsouveränität. Sozialpolitik sollte Freiheit zur selbstbestimmten (un)entgeltlichen Arbeit und zur produktiven wie kreativen Freizeit schaffen. Unser ganzes System ist zu einseitig und zu stur auf Erwerbsarbeit als sozialpolitischem Leitbild ausgerichtet. Zudem unterstellt unser ökonomisches Arbeitsangebots- und Arbeitsmarktmodell, dass Erwerbsarbeit alleinig durch den Lohn zu kompensierendes Arbeitsleid erzeugt. Arbeitsfreude und intrinsischer Motivation existieren in einer solchen Vorstellungswelt nicht. Und wenn Sie auftreten, besteht nach dem alten Denkmuster regelmäßig die Gefahr, dass sie ausgebeutet werden; beispielsweise indem eher einer gerne arbeitenden Person die unbezahlten Überstunden angetragen werden als Kollegen, die nur unwillig umsonst mehr arbeiten.
Das bedeutet eben nicht, dass Bürger durch eine BGE-Zahlung faul werden, sondern dass sie sich die Erwerbs- oder unbezahlte Arbeit und kreative Freizeit suchen, die ihrer Veranlagung entspricht. Das ist doch bei dem Hohen Anteil an Arbeitszeit an der Lebenszeit das Ziel des größten Teils der Bevölkerung. Schüler, die eine Veranlagung und Begabung für MINT-Fächer haben, werden entsprechende Erwerbsarbeiten noch ungehinderter anstreben können. Sie können aber nach einem erfolgreichen Studium mit ausreichender Absicherung auch darüber promovieren und so ihre produktiven Fähigkeiten ohne Not einbringen können.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Befürchten Sie nicht, dass bei einem BGE der Anreiz, gewissen Tätigkeiten nachzugehen, entfiele? Gäbe es noch Pflegekräfte in der Nachtschicht und Müllmänner?
Bernhard Neumärker: Das bringt uns nochmals zur Bedeutung der Exit-Option. Soweit der Müllwerker oder die Pflegekraft sich unterbezahlt fühlen, können sie auf den Lebensstandard mit BGE ausweichen. Wenn dadurch Müll liegen bleibt oder Pflegeleistungen ausfallen, werden wir sehen, dass für die Abfuhr von Müll oder die Erbringung der Pflege von den Nachfragern mehr bezahlt wird, da die Wertschätzung dieser Tätigkeiten wohl höher ist als der Preis, der durch relative Niedriglöhne und ohne BGE-Ausstiegsoption gezahlt werden muss.
Bei höheren Preisen wird der Müllmann einen höheren Lohn angeboten bekommen, zu dem er die Arbeit wieder aufnimmt, und evtl. auch das Müllunternehmen höhere Gewinne macht. Die Nachfrager der Leistung werden dann ihr Einkommen umgeschichtet haben und andere Produkte und Leistungen dann eben geringer nachfragen. In diesen Bereichen können die Preise auch fallen.
Erst durch das BGE wird der Müllmann oder auch die Pflegekraft infolge der marginalen Zahlungsbereitschaft der Kunden angemessen bezahlt. Markt und Wettbewerbs werden so funktionstüchtiger. Nicht nur der Kapitaleigner hat eine Exit-Option durch anderweitige Investitionstätigkeit, sondern auch die arbeitende Bevölkerung durch das BGE. Natürlich ist dadurch eine Machtverschiebung in Richtung Arbeitnehmer am Arbeitsmarkt zu erwarten, indem sich nun, wie Götz Werner so zutreffende beschrieben hat, erst durch das BGE Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf Augenhöhe gegenüberstehen. Aber die Nachfrager nach Arbeitskraft, also die Arbeitgeber, können auch einen Vorteil erzielen, da sie Arbeitskräfte bekommen, die entweder hinreichend monetär kompensiert werden statt aus dem Hartz 4 -Druck und der ungenügenden Einkommensabsicherung unwillig Arbeit zu übernehmen, die sie gar nicht wollen und weil sie trotzdem müssen, oder - was noch besser ist und wesentlich häufiger sein dürfte - die Arbeit voll motiviert und gerne übernehmen. BGE sorgt hier für eine wesentlich bessere Selektion von Menschen in die Arbeit, der sie nachgehen wollen. Wenn das kein Fortschritt für eine Soziale Marktwirtschaft ist!
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Würden Sie sagen, dass die Einführung eines BGE ein sozialistischer Ansatz wäre? Oder vertrüge es sich auch mit den Werten des Liberalismus?
Bernhard Neumärker: Das Zeitsouveränitätsargument zeigt bereits, dass der Ansatz aus meiner Sicht fortschrittlich liberale Züge trägt, und er zugleich den Sozialstaat modernisiert, also als sozialliberal bezeichnet werden kann. Es spielt dabei keine Rolle, ob man das als links, rechts, oben, unten, vorne oder hinten tituliert. Ich bin der festen Überzeugung, dass Liberalismus in einer Gesellschaft funktionieren kann, wenn er zugleich sozial im beschriebenen Sinne ist. Die einseitige Ausrichtung auf Erwerbsarbeit gekoppelt mit einem Zwangsandrohungsmodell wie Hartz 4 schafft nicht die nötigen Freiräume, um sich als Mensch stets Chancen zur hinreichenden Entwicklung haben zu können. Sinnstiftung und Verwirklichung bleiben dann ein Privileg relativ weniger. Und dazu bergen wir alle viel zu viel Produktivitätspotential, das eben zu weilen auf Märkten wenig vergütet bleibt.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie ließe sich ein BGE konkret einführen?
Bernhard Neumärker: Dass es schon Pilotprojekte und regional sowie in der Höhe begrenzte Einführungen wie in Alaska gab und immer wieder welche geplant werden, zeigt, dass das BGE eine besonders bemerkenswerte Sozialstaatsalternative ist. Es ist nur an der Zeit, solche Piloten mal zeitlich und finanziell hinreichend ausgestattet durchzuführen. Eine Begrenzung auf Arbeitslose und nur ein bis drei Jahre ist klar zu kurz. Man müsste es über fünf bis zehn Jahre in möglichst repräsentativen Regionen für alle und im Vergleich in verschiedenen Formen, Höhen und Finanzierungskonstrukten anbieten. Man kann dann auch eine schrittweise Erhöhung auf das partizipatorische BGE mit einer sofortigen Einführung vergleichen.
Noch geeigneter wäre, einen BGE-Pilot länderübergreifend einzuführen, um zu schauen, wie die individuellen, zivilgesellschaftlichen und politischen Reaktion in unterschiedlichen Sozialsystemen ablaufen. Zudem könnte BGE als Entwicklungshilfe eine bedeutende Rolle bekommen. Die ersten Reaktionen, die es in dem ebenfalls zu kurzen Experiment in Namibia gab, stimmen jedenfalls mich recht hoffnungsfroh, auch wenn bei Abbruch des Pilots einige Aspekte unklar blieben.
Jedenfalls ist eine Steuerreform unvermeidlich, denn das BGE verlangt eine steuerliche Finanzierung statt unserem bisherigen Abgabenfinanzierung des Sozialversicherungssystems. Konsumbesteuerung, negative Einkommensteuer mit linearer Erwerbseinkommensbesteuerung und Roboter-Steuer sind hier nur einige einschlägige Vorstellungen, die es genauer wissenschaftlich zu betrachten und zu vergleichen gilt. Transfer- und Steuerpolitik aus einem Guss wäre sicherlich eine Bürokratie abbauende und Transparenz fördernde gesellschaftspolitische Veranstaltung.
Zur Person:
Prof. Dr. Bernhard Neumärker beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Fragen sozialer Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Konflikte und staatlicher Reformbereitschaft aus ordnungspolitischer Perspektive. Seit einiger Zeit wendet er sein auf diesen Fragen aufbauendes Gerüst des „Neuen Ordoliberalismus“ und der „Sozialen Nachhaltigkeit“ auf das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) an und stellt dabei fest, dass das BGE all diese Fragen integriert und dabei eine interdisziplinäre Betrachtungsweise erzwingt, die vor allem neue Freiheits- und Gerechtigkeitsaspekte zur Weiterentwicklung des Ordoliberalismushervorbringt. Seit 1. Juni 2019 ist Bernhard Neumärker Inhaber der „Götz Werner Professur für Wirtschaftspolitik und Ordnungstheorie“ an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.