Ursula von der Leyen ist am Dienstagabend zur neuen EU-Kommissionspräsidentin gewählt worden. Die Verantwortlichen in der EU sind damit mit einem blauen Auge davongekommen, ohne dass damit der Führungsstreit in der Gemeinschaft beendet wäre: Die umstrittene ehemalige Bundesverteidigungsministerin Ursula van der Leyen hat es doch noch geschafft, zur Chefin der EU-Kommission gewählt zu werden – einem der wichtigsten Organe, das es in der Gemeinschaft gibt. Dabei stand ihre Wahl bis kurz davor noch auf der Kippe.
Es gab Medien, die sogar von „einer historischen Pleite“ schrieben, die der 60jährigen gedroht habe. Denn es wäre das erste Mal in der Geschichte überhaupt gewesen, dass ein Kandidat, der sich für dieses Amt beworben hat, keine Mehrheit im EU-Parlament findet. Das wäre nicht nur für van der Leyen selbst, sondern auch für die gesamte Gemeinschaft peinlich gewesen. Und zwar insbesondere deswegen, weil die deutsche Politikerin, die fließend mehrere europäische Sprachen spricht, als überzeugte Europäerin gilt.
Und gerade jetzt kann sich die EU überhaupt keine Imageverlust leisten, weil sie nach wie vor von vielen Krisen bedrückt wird. Die wirtschaftlichen Probleme in den Mitgliedsländern der Gemeinschaft sind zwar geringer geworden, ohne dass die Schwierigkeiten aber verschwunden wären. Griechenland beispielsweise hat zwar in den vergangenen Jahren sukzessive seine Schulden abgebaut, bleibt aber immer noch eine starke Belastung für alle Europäer. Daran kann auch der wirtschaftsliberale Grieche Mitsotakis kaum etwas ändern, der gerade zum neuen Ministerpräsidenten gewählt worden ist. Mit ihm verbinden viele die Hoffnung, das Land werde seine Probleme in den Griff bekommen.
Doch nicht nur Griechenland, sondern auch andere Schwierigkeiten belasten die Gemeinschaft weiterhin. Dazu gehört der Klimawandel und vor allem noch den Brexit über die Bühne bringen – ein Dauerproblem, das man ohne eine klare Führung mit Sicherheit nicht lösen kann.
Umso weniger hätte es sich Brüssel nun leisten können, wenn die ambitionierte deutsche Kandidatin durchgefallen wäre. Doch können die Verantwortlichen der Gemeinschaft damit mit Sicherheit nicht zur Tagesordnung übergeben. Denn der Streit, den es im Vorfeld der Wahl um die Person von van der Leyen gegeben hat, zeigt, wie stark die EU zerstritten ist.
Darüber hinaus gilt van der Leyen nicht unbedingt als einfache Führungskraft. Gerade in der Bundeswehr ist sie nicht sehr beliebt. Dort werfen ihr die Kollegen vor, dass sie überwiegend Vertraute, die ihr persönlich nahestehen, auf die Schlüsselpositionen setzt, ohne dabei die fachliche Kompetenz der Kandidaten berücksichtigen.
Diesen Führungsstil dürfte sie nun weiterführen und damit wahrscheinlich auf erheblichen Widerstand in ihrem Umfeld stoßen. Das bedeutet, dass die Konflikte, die es im Vorfeld gegeben hat, auch während ihrer Amtszeit bestehen bleiben werden. Die Wahl von van der Leyen am Dienstag Abend hat den EU-Verantwortlichen zwar zunächst Luft verschafft, doch werden die politischen Auseinandersetzungen wohl so weiter gehen. Es wäre mit Sicherheit besser gewesen, wenn man sich vorher auf einen Kandidaten geeignet hätte, der eine breite Mehrheit im Rücken hat. Die EU wird mit Sicherheit auch künftig nicht zur Ruhe kommen.
Der deutsche Ökonom und ehemaliger Chefvolkswirt bei der UN, Heiner Flassbeck, sagte den Deutschen Wirtschaftsnachrichten: “Frau von der Leyen hat keinerlei wirtschaftspolitische und europapolitische Expertise. Sie hat in ihrer Rede heute morgen zum Thema Wirtschaftspolitik nichts gesagt. Ich habe auch in den vergangenen Jahren nicht ein einziges Mal gehört, dass sie sich zur EU oder zum Euro geäußert hat. Während der gesamten Euro-Krise hat sie geschwiegen. Man muss in diesen schwierigen Zeiten für diesen Posten über wirtschafts- und europapolitische Kenntnisse verfügen. Sie ist vermutlich zu dieser Position gekommen, weil sie die Osteuropäer mit Blick auf Russland bedient. Außenpolitisch erwarte ich keine großen Veränderungen unter von der Leyen als EU-Kommissionspräsidenten. Ich halte sie für eine glatte Fehlbesetzung. Das Ganze ist absurd.”
Sophia Russack, Wissenschaftlerin vom Brüsseler Think Tank CEPS, sagte den Deutschen Wirtschaftsnachrichten im Rahmen eines Kurzinterviews:
DWN: In der Regel ist es so, dass bei solchen hohen Ämtern die Wahl eines Kandidaten eigentlich schon vorher feststeht. Im Fall von van der Leyen ist das nicht so. Es gab sehr viel Kritik an ihrer Person. Wie bewerten Sie das?
Sophia Russack: Es gab vor allem Kritik daran, dass sie keine der Spitzenkandidaten ist, also nicht schon vor den Wahlen aufgestellt war. Diese Kritik ist wesentlicher als die an ihrer Person oder ihrer persönlichen Kompetenz. Die Kritik an ihrer Person empfinde ich oft als vorgeschoben. Ich denke, dass die politischen Gruppen im Europäischen Parlament - vor allem die Linken und Grünen- vor allem ein Problem mit der Prozedur haben. Aus der Sicht der Euro-Parlamentarier ist dies durchaus verständlich, weil sie lediglich die Kompromiss-Kandidatin des Europäischen Rates war. Allerdings muss mal auch sehen, dass das Europäische Parlament und die politischen Gruppen nicht in der Lage waren, eine Mehrheit für einen der Spitzenkandidaten zu bilden. Damit haben sie die Entscheidung dem Europäischen Rat überlassen.
DWN: Was bedeutet dies für Deutschland im Besonderen?
Sophia Russack: Es bedeutet, dass Deutschland das erste Mal seit mehr als 50 Jahren den Kommissions-Präsidenten stellt. Das bedeutet allerdings nicht, dass Deutschland bevorzugt behandelt werden wird. Van der Leyen wird sehr vorsichtig sein und nicht den Eindruck entstehen lassen, dass sie Handlanger Merkels oder der deutschen Regierung ist.
DWN: Die Presse kritisiert, dass sie bei der Bundeswehr keine Wende zum Besseren eingeleitet hat. Ist dies eine Belastung für sie?
Sophia Russack: Das Verteidigungsministerium ist notorisch schwer zu führen, nicht viele Minister haben sich dort einen guten Ruf geholt. In Brüssel sieht sie niemand als gescheiterte Verteidigungsministerin, sondern als Bundesministerin, die schon erfolgreich durch bereits viele verschiedene Ressorts gearbeitet hat.
DWN: Welche Qualitäten sprechen für sie und welche dagegen?
Sophia Russack: Sie gilt als professionell und pragmatisch. Sie hat zwar bisher noch keinen inhaltlich starken Eindruck hinlassen. Sie wurde viel dafür kritisiert, dass sie angeblich nur recht oberflächliche Antworten auf die europäischen Probleme kennt. In der heutigen Rede hat sie jedoch bewiesen, dass sie in der Lage ist, sich in unbekannte Themen einzuarbeiten. Deswegen kann mangelnde fachliche Kompetenz kein Argument gegen sie sein.
Professor Tanja Börzel, Politikwissenschaftlerin an der FU Berlin, sagte den Deutschen Wirtschaftsnachrichten:
Wir sollten hier differenzieren: Es gab Kritik an ihrer Person, die auf ihre Amtsführung als Verteidigungsministerin gerichtet war. Diese kam vor allem von Seiten der SPD Mitglieder des EP. Dann gab es aber v.a. Kritik an dem Prozess ihrer Nominierung, weil dadurch das System der Spitzenkandidaten ausgehebelt wurde. Das gilt es schon zu trennen.
Für sie als EU-Kommissionspräsidentin spricht, dass sie eine erfahrene Politikerin ist, die mehrere Sprachen fließend spricht und als überzeugte Europäerin die EU einfach gut vertreten kann.
Für Deutschland darf ihre Wahl nicht sonderlich viel bedeuten, weil sie in ihrem Amt die Interessen der EU vertritt und nicht für die Belange Deutschlands eintreten darf. Aber Deutschland verfügt als größtes Mitgliedsland bereits über einen großen Einfluss innerhalb der EU.
Als neue EU-Kommissionspräsidentin muss sich unter anderem mit dem Klimawandel, der Migration, den Folgen des Brexits und dem Handelsstreit zwischen den USA und China auseinandersetzen. Das wären wichtige Aufgaben, die sie angehen sollte.