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Die kleine Schweiz zeigt der EU, wie Infrastrukturpolitik funktioniert

Lesezeit: 5 min
20.07.2019 08:16
Das österreichische Bundesland Tirol sorgt seit Wochen mit Straßensperrungen auf der Achse Deutschland-Italien für Streit mit Deutschland. Die Episode zeigt, dass die EU über kein kohärentes Infrastrukturnetz verfügt. Die kleine Schweiz zeigt, wie man es macht.

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Den Tirolern reicht es endgültig. An jedem Wochenende, auch an dem aktuellen, werden Straßen für den PKW- und LKW-Verkehr gesperrt. Damit werden die Fahrzeuge auf die Autobahn gezwungen, wo sie in einem endlosen Stau stecken bleiben, bevor sie über die Inntalautobahn nach Innsbruck und dann über die Brenner Autobahn nach Italien weiterfahren können.

Ausgelöst wurde die Sperrung der Landstraßen, weil zahllose PKW- und LKW-Fahrer auf der Suche nach Ausweichstrecken die kleineren Gemeinden blockieren und für eine unerträgliche Lärm- und Abgasbelästigung sorgen. Dies gilt im Besonderen für die Region Kufstein, einem der entscheidenden Grenzorte auf dem Weg von Deutschland nach Italien, oder für die Brenner-Autobahn. Genehmigt sind nur Fahrten, die zu oder von den Dörfern und Kleinstädten führen.

Selbstverständlich hagelt es Proteste aus Deutschland und Italien, da der Weg durch Tirol die wichtigste Verbindung zwischen den beiden Ländern ist. Der Landeshauptmann von Tirol, Günther Platter, bleibt hart und will sich nicht, wie seit Jahrzehnten, mit Versprechungen abspeisen lassen. Platter hat auch offengelassen, ob er an einem „Transit-Gipfel“ am 25. Juli teilnimmt, zu dem der deutsche Verkehrsminister Andreas Scheuer eingeladen hat.

EU-Rechnungshof: Es gibt keine europäische Verkehrspolitik

Dass die Tiroler zu drastischen Mitteln greifen, ist verständlich, auch wenn sie dadurch in allen drei EU-Staaten Deutschland, Österreich und Italien wirtschaftliche Schäden auslösen. Tirol verfügt auch nicht zum ersten Mal Verkehrs- oder Geschwindigkeits-Beschränkungen. Generell nimmt der Verkehr seit Jahren kräftig zu, wodurch sich eine enorme Belastung der Bevölkerung ergibt. Naturgemäß nicht nur in Tirol, wo aber die Effekte besonders gravierend sind: In den Tälern kommt eine besonders hohe Lautstärke zustande, Abgase bleiben lange hängen. Und der extrem starke Transit sorgt ständig für ein besonders umfangreiches Verkehrsaufkommen, zusätzlich zu den regionalen Fahrten.

Nachdem drei EU-Staaten betroffen sind, müsste man annehmen, dass hier eine europäische Lösung angestrebt wird. Zudem bemüht sich die EU-Kommission seit langem um ein europäisches Verkehrsnetz von leistungsfähigen Eisenbahnen und Autobahnen, die gemeinsam ein optimales Verkehrsnetz bilden sollten.

Dass davon nicht die Rede sein kann, hat der Europäische Rechnungshof im Jahr 2018 festgestellt. Der Titel seines Berichts lautet: „Hochgeschwindigkeitsschienennetz: keine Realität, sondern ein unwirksamer Flickenteppich.“ Und in einem weiteren Bericht hält der Rechnungshof fest: „Die Mitgliedstaaten sind nach wie vor in erster Linie für die Planung und Umsetzung der Verkehrsnetze zuständig. Sie allein entscheiden darüber, ob und wann die Infrastruktur gebaut wird. Somit besteht die Gefahr, dass das EU-Verkehrsnetz anstatt eines integrierten Systems, mit welchem dem Bedarf der EU als Ganzes in optimaler Weise Rechnung getragen wird, letztlich eine Aneinanderreihung einzelner Netze bildet.“

Der Brenner-Eisenbahn-Basistunnel – ein weiteres Milliardengrab

Diesem Problem versucht die EU-Kommission mit Hilfskonstruktionen zu begegnen. Eine Stelle vergibt Subventionen für Projekte aus den einzelnen Mitgliedstaaten, wodurch das Entstehen europäischer Netze gefördert werden soll. Dafür wurde die „Connecting Europe Fazilität (CEF)“ geschaffen, die allerdings für die gesamte Periode 2014 bis 2020 nur 13,17 Mrd. Euro zur Verfügung hatte und dieses Budget unter bestimmten Umständen auch aus dem Kohäsionsfonds ergänzen konnte. Mit etwa 3 oder 4 Mrd. Euro im Jahr das gesamte europäischen Straßen- und Bahnen Netz fördern zu wollen, mutet angesichts der tatsächlichen Kosten skurril an.

Dass es stets um viele Milliarden geht, kann man ebenfalls in Tirol an einem markanten Beispiel feststellen. Der Brenner-Basistunnel für die Eisenbahn sollte 2016 fertiggestellt sein und nun ist die Rede von 2027. Die Kosten wurden ursprünglich mit 6 Mrd. veranschlagt, derzeit werden mindestens 10 Mrd. erwartet.

Zur Orientierung: Die bestehende Brenner-Bahn über den Berg mit einer Reihe kleinerer Tunnel Eisenbahnen wurde innerhalb von drei Jahren von 1864 bis 1867 gebaut.

Und: Ein Straßentunnel durch den Brenner ist nicht vorgesehen. Es bleibt vorerst bei der Brenner-Autobahn durch das Gebirge. Auch auf dieser Strecke gilt das Verbot während des Hauptreiseverkehrs die Autobahn zu verlassen und durch die Anrainergemeinden zu fahren.

Eisenbahn-Projekte werden von der Politik derzeit gerne forciert, weil man hofft, den Lastenverkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Dies wird nicht nur durch den Umstand behindert, dass die Projekte, wie das Beispiel des Brenner-Tunnels zeigt, schwer zu realisieren sind. Auch die Praxis ist zu beachten: Nur wenige Produktionsbetriebe befinden sich bei Eisenbahnstationen, sodass auf jeden Fall ein LKW-Transport der Produkte zur Bahn erfolgen muss. Auch die Abnehmer sind nur selten bei einem Bahnhof angesiedelt, also muss auch bei der Lieferung ein LKW eingesetzt werden. Zudem ergeben die Strecken, die Zeitpläne und die Tarife der Bahn nicht immer ein attraktives Angebot. Oft ist ein LKW-Transport einfacher und billiger. Auch wenn längere Strecken zu überwinden sind.

Deutschland soll die LKW-Maut kräftig anheben

Auch hier hakt der streitbare Tiroler Landeshauptmann ein: „Durch die spottbillige Lkw-Maut in Bayern und Italien ist die Brenner-Strecke die billigste. 40 Prozent des Lkw-Transitverkehrs nehmen dafür einen Umweg in Kauf.“ Platter verlangt, Deutschland müsse seine Lkw-Maut erhöhen, um die Route für den Transit durch Österreich unattraktiver zu machen. „Darum wird es weiter Blockabfertigungen geben, bis eine erhöhte Lkw-Maut beschlossen ist“. In der Praxis erweisen sich derartige Maßnahmen nur beschränkt erfolgreich: Wenn der Bedarf besteht, wird gefahren, höhere Preise verteuern nur den Transport, verringern das Aufkommen aber nicht entscheidend.

Die Lösung kann nur in einem europaweit koordinierten umfangreichen Ausbau der Verkehrsinfrastruktur bestehen. Dies bedeutet ausreichende Eisen- und Autobahnen, Tunnels, wo notwendig, und nicht zuletzt Überdachungen, auch als Einhausungen bezeichnet, der Autobahnen im flacheren Gelände zum Schutz der Anrainer-Gemeinden.

Dazu gibt es nicht nur von der EU-Kommission Bekenntnisse, sondern auch vom EU-Rat, in dem alle Regierungen immer wieder versprechen, den Ausbau von Schiene und Straße zu forcieren.

Die Realität: Der Geldmangel verhindert eine Lösung

Allerdings bremsen hier mehrere Faktoren:

Nicht nur die schon erwähnte Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, die alle ihre eigenen Wege verfolgen, verhindert europäische Lösungen. Eine weitere Bremse bilden die Grünen Parteien und Bewegungen, die die Ansicht vertreten, dass das Verkehrsaufkommen durch bessere Angebote steigt und man durch schlechte Angebote für eine Drosselung sorgen könnte und sollte.

Vor allem aber, und das betont auch der EU-Rechnungshof, haben die Staaten kein Geld für große Investitionen. In diesem Zusammenhang sorgen zudem die Maastricht-Regeln für eine weitere Behinderung: Bei Großinvestitionen wäre rasch die ohnehin nur mühsam eingehaltene Defizit-Grenze von 3 Prozent des BIP überschritten.

Um das Maß voll zu machen, werden auch die Partnerschaften der Staaten mit den Versicherungen und anderen Institutionen zur Finanzierung von Infrastruktur-Projekten behindert: Finanzierungen müssen aufgrund der EU-Regeln mit enorm viel Eigenkapital unterlegt werden, sodass sich die Investition oft nicht lohnt.

Außerdem brauchen die Investoren eine angemessene Verzinsung. Diese ist aber nur bei entsprechenden Mautgebühren gegeben. Dazu kommt ein politisches Risiko: Wie kann man sicherstellen, dass nicht eine künftige Regierung, etwa vor einer Wahl, eine Maut publikumswirksam senkt und jede Kalkulation zunichtemacht?

Der beschämende Vergleich mit der Schweiz

Der Aufstand der Tiroler treibt derzeit Wochenende für Wochenende die Autofahrer zur Verzweiflung, wird aber keine Lösung des Problems bewirken. Dies ist besonders bitter, wenn man in die benachbarte Schweiz schaut, wo der Gotthard-Basistunnel nach siebzehn Jahren Bauzeit 2016 in Betrieb genommen wurde, mit 57 Kilometern der längste Eisenbahntunnel der Welt, und wo der fast 17 Kilometer lange Gotthard-Straßentunnel nach zehnjähriger Bauzeit schon 1980 eröffnet wurde. Von 2020 bis 2025 soll eine zweite Röhre gebaut werden.

Diese Projekte hat die 8,5 Millionen Einwohner zählende Schweiz allein geschafft, die EU mit – vor BREXIT – über 500 Millionen Einwohnern kommt da nicht mit. Man muss nicht die ganze EU in die Pflicht nehmen. Österreich allein wäre gefordert, auch eine Zusammenarbeit von Deutschland, Italien und Österreich würde sich anbieten. Davon ist nicht die Rede. Allein auf weiter Flur kämpfen die Tiroler gegen die Verkehrsflut. Man ist an den Freiheitshelden Andreas Hofer erinnert, der in den napoleonischen Kriegen den Tiroler Aufstand gegen die französisch-bayerische Besatzung anführte. Andreas Hofer wurde von einem französischen Kriegsgericht zum Tode verurteilt und 1810 erschossen. Dieses Schicksal wird Günther Platter erspart bleiben, aber auch er wird Europa nicht besiegen können.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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