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Die Stadtplanung folgt seit hundert Jahren ihren falschen Vorbildern

Lesezeit: 5 min
24.08.2019 08:12
Die Zeit der Ferienerinnerungen bricht an. Die Fotos aus den mittelalterlichen Städten, den Schlössern und Burgen oder den Prachtstraßen der Weltstädte werden freudig herumgereicht oder gepostet. Die Szenen finden zumeist in modernen Wohnungen statt, die sich vielfach in Blocks im Grünen befinden. Von den engen Straßen und den romantischen Plätzen der Urlaubsdestinationen ist da nichts zu spüren.

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Nicht selten taucht die Frage auf, warum denn die Atmosphäre der alten Städte nicht im Alltag der Neubauten gelebt werden kann. Die Antwort wirft ein beschämendes Bild auf die Stadtplaner, Bauunternehmen und Architekten: Es wäre sehr wohl möglich. Es ist nicht notwendig, Blocks verstreut in Grünzonen zu errichten, die keine urbane Atmosphäre aufkommen lassen.

Jährlich könnten in Deutschland zehn neue Kleinstädte entstehen

In Deutschland wurden im Jahr 2018 insgesamt 286.000 Wohnungen fertiggestellt. Nach Ansicht vieler Experten hätten es um hundert- bis hundertfünfzigtausend mehr sein sollen, doch auch 286.000 ergeben eine eindrucksvolle Größenordnung. Die Bandbreite der Bewohner reicht vom Single-Haushalt bis zur Mehr-Kinder-Familie, sodass die Zahl der Bewohner schwer zu schätzen ist. Man kann aber von etwa 400.000 Personen ausgehen. Die Rede ist also vom Gegenwert von zehn oder mehr neuen Kleinstädten, die eine ausreichende Größe hätten, um Arbeitsplätze und eine angemessene Versorgung zu bieten.

Das Geheimnis der mittelalterlichen Stadt

-   Mittelalterliche Städte wurden durch die Stadtmauern bestimmt. Der begrenzte Platz machte eine besondere Planung der Straßen und Plätze erforderlich, um die vielfältigen Aufgaben der Städte zu bewältigen.

-   Gerade Straßenzüge mussten nach Möglichkeit vermieden werden, da man sonst ständig auf die Stadtmauer zugelaufen wäre.

-  Gebogene Straßen führen den Blick der Menschen von einem Gebäude zum nächsten und eröffnen den Blick auf Plätze, von denen wieder Straßen weg- oder zuführen.

-   Das Ergebnis ist die von den Touristen geschätzte Geborgenheit.

-   Die vor dem Mittelalter bestimmenden Stadtpläne des römischen Reichs waren primär als Plätze für militärischen Einheiten geplant und hatten ebenfalls einen Festungscharakter, der für Geschlossenheit sorgte.

In der Folge wurden andere Interessen zu bestimmenden Faktoren.

Im neunzehnten Jahrhundert dominierte die Schaffung breiter Boulevards, die nicht zuletzt als Prunkstraßen zu Ehren der Herrscher gedacht waren. Die Touristen von heute sind zwar beeindruckt, klagen aber über die endlosen Fußmärsche und suchen die kleinen Gassen, die in dieser Periode vielfach vernichtet wurden.

Im zwanzigsten Jahrhundert wurde mit wenig Erfolg die Gartenstadt propagiert. Durchgesetzt hat sich der Drang zum Wohnen im Grünen, das zur Errichtung vereinzelt stehender Wohnblocks mit dazwischenliegenden, kleinen Grünflächen am Stadtrand geführt hat. Auch der Bau von Reihenhäusern und von zahllosen in der Landschaft verstreuten Einfamilienhäusern sollte die Sehnsucht nach Grün befriedigen. Diese Tendenz wurde auch durch den verbreiteten Wunsch nach einem einen eigenen Haus, gleichsam nach einer eigenen Burg, verstärkt. Die heute oft beklagte Zersiedelung der Landschaft ist die Folge.

Die Stadtplanung von morgen ist in alten Büchern nachzulesen

Wie sähe also eine optimale Anordnung der 286.000 Wohnungen des Jahres 2018 aus, und der hunderttausenden Wohnungen, die insgesamt laufend errichtet werden? Die richtigen und die falschen Antworten wurden bereits vor hundert Jahren gegeben.

Die richtigen Antworten:

Der große Wiener Architekt und Stadtplaner Otto Wagner hat 1911 das Konzept der „unendlichen Stadt“ entwickelt. Bei wachsender Bevölkerung sollten anschließend an die bestehende Stadt neue Bezirke errichtet werden, die selbst eigene Zentren haben, aber organisch mit den älteren Stadtteilen verbunden sind.

Der schottische Biologe und Stadtplaner Patrick Geddes hat 1927 die Straße neu definiert: Die Häuser sollten nicht verbunden sein, sondern durch kleine Abstände voneinander getrennt stehen. Bei großen Zwischenräumen geht der Straßencharakter verloren, die kleinen Abständen ermöglichen eine Bepflanzung, öffnen den Blick auf dahinterliegende Plätze und Bäume, sodass keine Hinterhöfe entstehen, und sorgen für eine gute Durchlüftung. Auf diese Art wäre die in vielen Projekten angestrebte „Gartenstadt“ in der Praxis zu realisieren.

Bereits 1889 hatte der Maler und Stadtplaner Camillo Sitte in seinem Buch „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ auf den Vorteil gebogener Straßen, die den Blick des Fußgängers führen, verwiesen, die geschickte Anlage der Plätze in den alten, italienischen Städten hervorgehoben und ein organisches Aufeinander-Abstimmen der Funktionen einer Stadt gefordert.

Allein diese drei Werke neben vielen anderen Ausführungen würden eine integrierte Gestaltung der Städte vorgeben, die Raum für Wohnungen, Unternehmungen, Freizeitangebote und Behörden bieten würde. Die Sehnsucht nach Grün könnte befriedigt werden, ohne dass eine breite Streuung der Bauten zu einer Zersiedelung der Landschaft führt, die für Verkehrsprobleme sorgt, die Nahversorgung erschwert und die Umwelt belastet.

Im 20. Jahrhundert haben sich die falschen Antworten durchgesetzt

Die geschilderten, klugen Konzepte haben die Städteplanung der vergangenen Jahrzehnte nicht dominiert. Vielmehr fanden zwei Architekten Beachtung, die einander zwar persönlich nicht schätzten, aber durch ihre Aussagen ähnliche Konsequenzen auslösten.

Der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier bestimmte maßgeblich die Entwicklung. In seiner Schrift „L’urbanisme“, 1925, und in der von ihm stark beeinflussten Charta von Athen, 1933, wurden die in der Folge bis heute vielfach angewendeten Konzepte formuliert.

  • Im Vordergrund steht die reine Funktionalität, Dekorationen werden abgelehnt.
  • Der Stahlbetonbau wird wegen der breiten Gestaltungsmöglichkeiten als entscheidender Baustoff definiert.
  • Die Aufgaben werden getrennt: Wohnungen in Satellitenstädten am Stadtrand und die Konzentration von Gewerbeflächen als Grundmuster.
  • Große Freiflächen und vor allem großzügige Möglichkeiten für den Autoverkehr.
  • Die gebogene Straße wird als Weg des Esels verhöhnt, die gerade Straße als einzig menschenwürdig bezeichnet.

Der US-amerikanische Architekt Frank Lloyd Wright, 1867-1959, wurde zum Vorkämpfer des von ihm entwickelten „Prairie Style“: Der Wohnbau soll sich in die Landschaft einfügen. Zwischen den Objekten können nach Wright auch größere Abstände sein, die man mit dem Auto leicht überwinden könne. Das Konzept der Stadt als ein Ballungsraum sei überholt, Land und Stadt werden zu einer Einheit.

Das Bild des Wohnbaus wird aktuell weltweit stark von Le Corbusier und Frank Lloyd Wright bestimmt. Die großen Wohnbausiedlungen am Stadtrand entsprechen der Charta von Athen und die zahllosen, verstreut in der Landschaft stehenden Einfamilienhäuser setzen den „Prairie Style“ um.

Das Bevölkerungswachstum und der Autoverkehr wurden unterschätzt

Die beiden Architekten konnten sich nicht vorstellen, dass

-          das Automobil als allgemeines Verkehrsmittel zum Verkehrskollaps führt und heute keine Rede davon ist, dass man jederzeit angenehm von einem Landhaus zum anderen fahren kann,

-          dass ein enormes Wachstum der Bevölkerung stattfindet und man daher Ballungsräume schaffen muss, die trotz der Größe eine hohe Lebensqualität aufweisen müssen.

-          Auch haben beide übersehen, dass Menschen kurze Wege zwischen der Wohnung, dem Arbeitsplatz, der Freizeitgestaltung und den Infrastruktureinrichtungen brauchen. Arztbesuche und Behördenwege dürfen nicht zu lange dauern.

Und genau diesen Anforderungen werden die Konzepte von Camillo Sitte, Otto Wagner und Patrick Geddes gerecht. Es würde sich anbieten, Ballungsräume mit viel Grün und menschengerechten Straßen und Plätzen zu schaffen, die durch ein funktionierendes, öffentliches Verkehrssystem versorgt werden. Dieser Ansatz hätte folgende Vorteile:

Man braucht weniger Flächen. Derzeit werden riesige Gebiete verbaut, die Entwicklung bestehender und die Schaffung neuer Städte ergäbe eine Entlastung, die sich auch auf die Bodenpreise auswirken sollte. Gerade die Bodenpreise sorgen für eine Verteuerung des Wohnbaus.

Eine Ironie der Geschichte: Otto Wagner hat vor mehr als hundert Jahren die Stadtverwaltungen aufgefordert, sich rechtzeitig Flächen für die Erweiterung der Städte zu sichern, um einer künftigen Preisexplosion vorzubeugen

Die Mobilität ist in der Stadt durch den öffentlichen Verkehr gut gestaltbar, das Konzept des „Prairie Style“ mit der Zersiedelung der Landschaft macht den Dauerstau zum Zwilling des Wohnens im Grünen. Die Kosten der Mobilität würden sinken.

Im ländlichen Raum wird die Nutzung durch die Landwirtschaft, den Forst und das Gewerbe erleichtert. Die optimale Aufteilung ist naturgemäß leichter, wenn nicht die gesamte Landschaft als Wohnraum verstanden wird.

Die hundert Jahre alten Konzepte wären solide Antworten auf die Umweltprobleme und den Klimawandel.

Echtes Leben statt musealer Fassaden für Touristen

Zurück zu den heimkehrenden Urlaubern: Es ist keineswegs gesagt, dass die Stimmung der Sehenswürdigkeiten nicht auch im Alltag erlebt werden kann.

-          Es müssten sich „nur“ die Stadtverwaltungen, Stadtplaner, Architekten und Bauunternehmer an Sitte, Wagner und Geddes halten.

-          Es müssten sich „nur“ die Menschen von der Illusion verabschieden, dass jeder seine eigene Burg im Grünen bauen kann.

Es käme zu lebendigen Städten, während die Urlauber-Erinnerungen von Illusionen geprägt werden. In den schönen Schlössen und Burgen wohnen kaum noch Adelige, in den mittelalterlichen Städten herrscht kein reges Treiben von Handwerkern, Händlern und Reisenden. Überall inszeniert die Tourismus-Industrie eine museale Fassade, hinter der kein echtes Leben stattfindet.

***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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