Wenige Tage nach der Verabschiedung des Regulierungsgesetzes durch das israelische Parlament, äußert sich der prominente und von allen Seiten geachtete israelische Schriftsteller, Abraham B. Yehoshua, empört über das Gesetz. Yehoshua spricht von einem „verabscheuungswürdigen und schändlichen Gesetz“.
Das Gesetz autorisiert nachträglich die israelischen Siedlungen, die illegal auf privaten Grundstücken erbaut wurden. Yehoshua kann an dem Gesetz nichts Gutes erkennen: „Es ist mir egal, was Trump sagt und ob er mir einen Freibrief gibt. Ich kümmere mich darum, was wir mit ihnen tun. Die Palästinenser, sie leben neben uns. Wir haben keine Situation wie mit Frankreich in Algerien. Sie sind unsere Nachbarn. Der Palästinenser, dessen Land wir geraubt haben, könnte Ihr Arzt in einem großen israelischen Krankenhaus sein. Mein Plan für eine mindestens teilweise Lösung zur Verbesserung ihrer Lebensumstände ist gültiger denn je“, sagte Yehoshua den Deutschen Wirtschafts Nachrichten.
Yehoshua setzt seit über drei Jahrzehnten gemeinsam mit dem Schriftsteller Amos Oz die Akzente im Diskurs der israelischen Linken. Amos Oz und Abraham B. Yehoshua, deren Werke in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden, prägten die israelische Rhetorik des liberalen Friedenslagers. Wie Missionare wanderten sie jahrelang von Tür zur Tür, um ihre Botschaft zu verbreiten. Das Wesentliche dieser Botschaft lag darin, kontinuierliche Kritik an der nunmehr 50 Jahre dauernden israelischen Besetzung der palästinensischen Gebiete zu üben und sich für einen palästinensischen Staat einzusetzen, der Seite an Seite mit dem israelischen Staat existieren kann.
Yehoshua und Oz waren die Propheten der Moderne, die ein apokalyptisches Szenarios verhindern wollten, indem sie für ein Ende der Besatzung und eine Zwei-Staaten-Lösung plädierten. Die jüdischen Siedler können sich seit Jahrzehnten der Unterstützung aller Regierungen sich sein. Die Palästinenser dagegen sind grenzenlosen Einschränkungen unterworfen. Oft werden ihnen grundlegende Menschenrechte verweigert.
Yehoshua hat nun einen Plan vorgelegt, der in Israel für viel Aufregung gesorgt hat: Yehoshua, der vor kurzem 80 Jahre alt geworden ist, hat mit seiner Idee vor allem die schrumpfende israelische Linke erschüttert. Sein Ansatz ist radikal neu und der aktuellen Situation geschuldet. Yehoshua schlägt vor, den Palästinensern, die in den besetzten Gebieten leben, die israelische Staatsbürgerschaft zu verliehen. Dies könnte eine Übergangslösung sein, weil die Zwei-Staaten-Lösung immer unrealistischer zu werden scheint. In den besetzten Gebieten leben derzeit etwa 450.000 israelische Siedler und 100.000 Palästinenser. Yehoshua schwebt nun ein bi-nationaler Staat vor, also eine multiethnische Struktur, wie es sie heute ja bereits in Israel gibt, wo Juden und Araber zusammenleben.
Der Vorschlag schlug in Israel wie eine Bombe ein. Die israelische Rechte, die das Regulierungsgesetz euphorisch begrüßte und die Annexion palästinensischer Gebiete fordert, interpretierte den Vorschlag als Zustimmung zu ihren radikalen Positionen. Sie begrüßt die Idee und sagt, dass Yehoshua vernünftig geworden sei. Die Linke reagierte dagegen empört, betrachtet Yehoshua als Verräter der linken Ideologie verraten hat erklärte ihn sogar für verrückt.
Die Linken, darunter auch der Verbündete Amos Oz, kritisierten Yehoshua einhellig und griffen ihn an. Viele sagten, er handle aus Verzweiflung, was wiederum die Linke untergrabe. Manche warfen ihm sogar vor, die Besatzung für alle Ewigkeit festschreiben zu wollen, indem der Status Quo legalisiert werde. Die heftigen Reaktionen zeigen die große Verunsicherung innerhalb des israelischen Friedenslagers.
Im Interview mit den Deutschen Wirtschafts Nachrichten klingt Yehoshua allerdings weder ängstlich noch defensiv: „Beide Seiten haben mich total missverstanden“, sagt er in dem Interview, das bei ihm zu Hause geführt wurde. „Die Besatzung ist bösartig. Die 100.000 Palästinenser, die in diesem Gebiet leben, sind die Hauptopfer dieser Bösartigkeit. Wenn sie eine Person mit einer blutenden Wunde sehen, heilen die zuerst die Wunde. Danach kann eine ganzheitliche Behandlung in Betracht gezogen werden. Die Besatzung verfolgt mich Tag und Nacht. Sie lässt mir keine Ruhe.“
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Haben Sie die Hoffnung auf eine Zwei-Staaten-Lösung aufgegeben?
Abraham B. Yehoshua: Die israelische Linke setzte immer auf internationalen Druck, um diese Lösung durchzusetzen. Wer genau soll jetzt den Druck ausüben? Trump, so wie wir ihn kennen, wird nicht nur seine Botschaft nach Jerusalem verlegen, sondern könnte die Botschaft auch in eine illegale Siedlung auf palästinensischem Boden verlegen, wenn die Miete dort günstiger ist. Europa ist entsetzt. Angela Merkel ist entsetzt. Die arabische Welt befindet sich im Chaos und kümmert sich nicht um die Palästinenser. Diese Komplexität lähmt die Linke. Deshalb bitte ich sie, neue Gedanken zu fassen. In der Zwischenzeit möchte ich das Leiden der 100.000 Palästinenser minimieren. Dann können wir weiter denken.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Nun wurden Sie Opfer von harten Reaktionen aus der Linken. Einige meinen sogar, sie hätten die Ideologie der radikalsten Rechten innerhalb der Regierung, wie der Chef der Partei HaBajit, Naftali Bennet, übernommen.
Abraham B. Yehoshua: Na und? Erstens rufe ich nicht zur Annexion des Territoriums auf – wie dies Bennet tut. Und ehrlich gesagt, sehe ich kein Problem in einer Ad-hoc-Allianz mit ihm. Der Linken sage ich: ,Und Sie bilden eine Allianz mit Premier Netanjahu, der zwar offiziell die Zwei-Staaten-Lösung unterstützt, doch alles dafür tut, um sie zu untergraben. In diesem Fall ziehe ich Bennet Bibi vor. Zumindest ist Bennet ehrlich, doch Netanyahu lügt die ganze Zeit.‘
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was denken Sie über die israelische Linke im Jahr 2017?
Abraham B. Yehoshua: Es tut mir leid, dass ich das sagen muss, aber die Linke denkt nicht mehr ideologisch. Ausschließlich die Rechte betreibt ideologische Arbeit. Faktisch denkt die Linke kaum noch. Die Linke ist müde und produziert keine Alternative. Es gibt kein kreatives Denken auf der linken Seite. Es gibt nur eine Fixierung. Sie übt noch nicht einmal Druck auf den palästinensischen Vorsitzenden Abbas aus, damit dieser zum Verhandlungstisch zurückkehrt – um an dieser Stelle auch Netanyahus Bluff zu nennen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was wäre denn kreatives Denken?
Abraham B. Yehoshua: Wenn man mit Ideen kommt, die an die veränderte Situation angepasst sind und sich nicht auf alte Konzepte berufen, die unter anderen Umständen entstanden sind. Denken wir doch mal über einen bi-nationalen Staat nach, eine Föderation oder Konföderation. Um dies zu erreichen, müssen wir aufhören, zueinander zu sprechen und einen Dialog unter Einbeziehung aller Segmente der israelischen Gesellschaft starten. Ein neuer gedanklicher Ansatz für Jerusalem ist ein gutes Beispiel. Jeder weiß, dass es ohne eine Lösung für dieses Problem keine generelle Lösung geben wird. Anstatt sich an das Alte zu klammern, wonach Jerusalem geteilt werden soll, was wiederum über die Jahre physisch und geografisch unmöglich geworden ist, sollten wir neue Ansatzpunkte finden. Wir sollten erklären, dass Jerusalem ein globales Ex-Territorium ist, das allen drei monotheistischen Religionen heilig ist – heiliger als der Vatikan. Doch stattdessen konfiszierten die rechten Regierungen palästinensisches Land und Häuser in Jerusalem, was aus einem nationalen Konflikt einen religiösen Konflikt machte.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Der Westen engagiert sich gegen den religiösen Krieg, der vom Islam ins Leben gerufen wurde.
Abraham B. Yehoshua: Das ist eine andere Geschichte. Aber warum wählen westliche Schriftsteller und Karikaturisten Mohammed aus und beleidigen den Propheten des Islams? Können Sie sich eine Karikatur vorstellen, in der Jesus Juden in die Gaskammer schiebt? Können Sie nicht. Ist Mohammed verantwortlich für islamischen Terrorismus? Nein, ist er nicht. Auf jeden Fall sollten Israelis besonders vorsichtig sein. Wir sind nicht Vietnam oder Algerien, wo sie nach dem Ende der Kriege einfach abgezogen sind. Wir sind hier, um als Nachbarn zusammen zu bleiben – Israelis und Palästinenser.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die meisten Israelis haben Angst vor der Vorstellung eines bi-nationalen Staats. Sie scheinen diese Stimmung nicht zu teilen.
Abraham B. Yehoshua: Ja, ich teile diese Stimmung wirklich nicht. Wenn wir dazu verdammt sind, in einem bi-nationalen Staat mit den Palästinensern zu leben, haben wir nur uns selbst die Schuld zu geben. Über Jahrzehnte hinweg haben wir nichts getan, um den Konflikt zu lösen, sondern bauten mehr und mehr Siedlungen in den besetzten Gebieten. Auf der anderen Seite haben wir bereits ein Mini-Modell eines bi-nationalen Staats, nämlich mit 20 Prozent arabischen Bürgern innerhalb des Staates Israel. Es funktioniert ganz gut.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Ich habe das Gefühl, dass ihre persönliche Geschichte aus ihnen spricht. Im Gegensatz zu den meisten Israelis, die Migranten sind, leben sie in der sechsten Generation in Israel und sind sephardischer Abstammung. Ihr Vater arbeitete gemeinsam mit Muslimen und war mit ihnen befreundet, bevor der israelische Staat gegründet wurde. Die Existenz ist eingebettet in Ihre Psyche und definiert nun Ihre Politik.
Abraham B. Yehoshua: Amos Oz sagte mir dasselbe während einer Diskussion, die kürzlich stattfand. Sie haben Recht. Mein Vater bezeichnete sich selbst als „Effendi“ – ein arabischer Adelstitel.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Ein bi-nationaler Staat bedeutet das Ende eines „jüdisch-demokratischen Staates“, der die Grundlage der israelischen Existenz ausmacht.
Abraham B. Yehoshua: Zuerst, warum „jüdisch-demokratisch“ und nicht „israelisch-demokratisch“? Es handelt sich um den Staat Israel. Außerdem habe ich keine Angst davor, unsere Identität in einem bi-nationalen Staat zu verlieren. Über die 70 Jahre der Koexistenz mit den Arabern in Israel und über die Jahrhunderte in der Diaspora wurde das Judentum stärker. Warum sollten wir Angst davor haben, unsere Identität auf unserem eigenen Boden zu verlieren? Es ist an der Zeit, dass wir das Selbstbewusstsein einer Mehrheit adoptieren.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Auf der anderen Seite sagen Sie, die Juden in der Diaspora seien nur teilweise Juden.
Abraham B. Yehoshua: Ganz sicher. Unsere Existenz in einem eigenen Staat erfordert moralische und praktische Lösungen, die die Juden in der Diaspora nicht finden müssen. Das macht einen großen Unterschied.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sind die Juden in Deutschland auf dieser Skala noch mehr „teilweise Juden“?
Abraham B. Yehoshua: Ich weiß es nicht. Deutschland ist anders. 70 Jahre nach Hitler ist Merkel die Anführerin der Freien Welt. Dennoch kann ich nicht verstehen, wie Israelis nach Deutschland gehen, um dort zu leben.
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Lily Galili ist eine der renommiertesten Journalistinnen in Israel. Sie arbeitete viele Jahre für die Zeitung Ha’aretz, war Nieman-Fellow in Harvard und ist heute Autorin für I24News. Schwerpunkt ihrer Reportagen sind die ethnischen Gruppen in Israel, Araber, Drusen und Russen. Sie hat ein vielbeachtetes Buch (Hebräisch) über die russischen Immigranten geschrieben. Sie ist Mitglied des Syrian Aid Committee.