Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist nervös: Er weiß, dass sich in der Türkei ein massiver "deep state" etabliert hat, der ihn jederzeit stürzen kann. Eine besondere Rolle spielt bei Umstürzen in der Türkei traditionell die Armee, weshalb Erdogan besonders empfindlich auf mögliche Spannungen in der Armee reagiert.
Erdogan attackierte am Dienstag in Anwesenheit des türkischen Generalstabchefs Hulusi Akar - in Zivil - die Zeitung Hürriyet frontal. Er sagte, dass der Titel der türkischen Tageszeitung Hürriyet in einem seiner Artikel über die Beziehungen des türkischen Militärs mit der Regierung „schlecht“ und „unhöflich“ sei. Der umstrittene Titel lautet „Das Hauptquartier fühlt sich unwohl“, was in der Türkei ein typischer Satz zur Ankündigung eines militärischen Umsturzes ist. In den vergangenen Jahrzehnten titelten die Medien in der Türkei kurz vor einem Putsch mit den Worten „Die jungen Offiziere fühlen sich unwohl“ oder „Die Streitkräfte fühlen sich unwohl“.
Interessant ist auch, dass der Titel wenige Tage vor dem 28. Februar gewählt wurde. Am 28. Februar 1997 drängten türkische Militärs den damaligen türkischen Premier Necmettin Erbakan unter Putschandrohung zum Rücktritt. Seitdem gilt der „28. Februar“ als Synonym für Putschversuche.
„Dieser Titel hat die türkischen Streitkräfte genauso gestört wie uns. Es ist nicht möglich, dass die türkischen Streitkräfte sich nicht durch ein Problem gestört fühlen, was uns auch stört. Die türkischen Streitkräfte sind ein Organ des Staats“, zitiert The Daily Sabah Erdoğan. Der türkische Staatschef fügte hinzu, dass eine Klage gegen den Titel eingereicht wurde.
In Bezug auf den Titel fuhr er fort: „Das sind alte Gewohnheiten, die in der Vergangenheit geblieben sind. Alle sollten sich ihrer Position bewusst sein.“
Erdoğan sagte, dass der türkische Generalstab in Kürze eine offizielle Erklärung zum Artikel veröffentlichen werde.
Der Artikel, der von der Journalistin Hande Fırat geschrieben wurde und sich auf anonyme militärische Quellen beruft, berichtete darüber, dass der türkische Generalstab sich durch die jüngsten Reformen im Militär gestört fühle. Zuvor hatte nämlich das türkische Verteidigungsministerium das Kopftuchverbot für weibliche Offiziere aufgehoben. Fırat, die das Hauptstadtbüro der Doğan Media Group leitet, war die Journalistin die in der Putschnacht vom 15. Juli auf CNN Turk einen Videoanruf zum türkischen Präsidenten aufbaute. Dieser hatte dann die Möglichkeit, die Menschen dazu aufzurufen, auf die Straße zu gehen, um sich den Putschisten in den Weg zu stellen. Der Videoanruf galt als Wendepunkt in der Putschnacht. Die Journalistin Fırat wurde anschließend von AKP-Anhängern als „Heldin“ gefeiert.
Die Zeitung Aydinlik berichtet, dass Fırat zu den erfolgreichsten jungen Journalistinnen des Landes gehört. Sie habe in ihrem Artikel auf den Unmut innerhalb des Militärs gegenüber dem Generalstab hinweisen wollen. Die Journalistin habe ganz deutliche Kritikpunkte am Generalstab formuliert, die nicht nur bei den Militärs, sondern auch bei den Bürgern benannt werden. Kritisiert wird vor allem, dass der türkische Generalstabschef Hulusi Akar ein zu enges Verhältnis zum US-Militär hat und vor zwei Jahren mit einer Verdienstmedaille des US-Militärs ausgezeichnet wurde. In den vergangenen sechs Monaten hat sich Akar mit dem US-Generalstabschef Joseph Dunford insgesamt fünf Mal getroffen. Die beiden trafen sich drei Mal in Ankara und zwei Mal auf dem US-Luftwaffenstützpunkt in Incirlik, der früheren Aussagen von AKP-Politikern zufolge in der Putschnacht vom 15. Juli eine wichtige logistische Rolle gespielt haben soll.
In einem Gefängnis bei Ankara müssen sich seit Dienstag rund 330 Verdächtige im bisher größten Prozess zum gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli verantworten, berichtet die Zeitung Milliyet. Die Angeklagten gehören der 58. Artilleriebrigade und der Kommandantur Artillerie- und Raketenschule Polatli in Ankara an, so die Milliyet. Ihnen wird Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und qualifizierte vorsätzliche Tötung vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft fordert für jeden der Angeklagten drei Mal lebenslängliche Haftstrafen. In der Putschnacht hatte Brigadegeneral im Generalstab, Mehmet Partigöç, den Brigadekommandeur der 58. Artilleriebrigade und der Kommandantur Artillerie- und Raketenschule Polatli, Murat Aygün, den ersten Putschbefehl erteilt, so die Zeitung Aydinlik. Partigöç gilt als wichtigste Figur des Putsches.
Bei dem Prozessauftakt in dem extra gebauten 12.500 Quadratmeter großen Gerichtssaal der Haftanstalt von Sincan, wo 1.558 Personen Platz finden, sagten mehrere Angeklagte aus, sie seien von Vorgesetzten irregeführt und für den Putsch instrumentalisiert worden: Ihnen sei befohlen worden, wegen eines Terroranschlags auszurücken.
Der erste Angeklagte, der Offiziersschüler Abdulkadir Kahraman, sagte aus, sein Kommandeur habe ihm und seinen Kameraden Munition ausgehändigt und gesagt, dass es einen Terroranschlag gegeben habe.
Andere Angeklagte gaben an, ihnen sei gesagt worden, sie sollten sich nach dem Angriff „bereit halten“ sein und wenn notwendig von ihren Waffen Gebrauch machen.
Bisher wurden bei weiteren Putschisten-Prozessen in anderen Städten sechs Soldaten verurteilt. Der bisher größte Prozess läuft in Erzurum, wo 270 Menschen angeklagt sind. Am meisten Aufmerksamkeit erregte ein Verfahren im westtürkischen Mugla, wo 47 mutmaßliche Putschisten angeklagt sind, in der Putschnacht versucht zu haben, Erdogan in Marmaris zu ermorden, wo er mit seiner Familie im Urlaub war. Der Angeklagte Hauptmann İsmail Yiğit sagte dem Gericht, dass er und seine Kameraden Erdoğan nicht töten, sondern lediglich festnehmen und nach Ankara bringen wollten. „Ich bin gegen jegliche Putschversuche. Die Soldaten sollen ihre Sache und die Politiker ihre Sache machen. Sollen die ihr Wettrennen untereinander austragen. Ich will damit nichts zu tun haben. Ich habe nur einen Befehl ausgeführt. Ich bin nur ein Hauptmann. Trage ich nun die Verantwortung?“, zitiert die Zeitung Aydinlik.
Für den Umsturzversuch, bei dem 249 Bürger von den Putschisten getötet und weitere 1.536 Bürger verletzt wurden, macht die Regierung die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen verantwortlich. Die Bewegung, die lange ein enger Verbündeter der regierenden AK-Partei war, heute aber als Terrororganisation verboten ist, soll über Jahre systematisch den Staat infiltriert haben. Gülen, der seit Jahren im Exil in den USA lebt, bestreitet jede Verwicklung.
Tatsächlich hat Erdogan bisher keinerlei Belege über die Gülen-Verwicklung vorlegen können. Die AKP-Spitze tappt über die Drahtzieher im wesentlichen im Dunkeln. In der türkischen Öffentlichkeit wird die CIA verdächtigt, auch die Nato wird kritisiert. Die Nato hat allerdings deutlich und früh jede Verwicklung zurückgewiesen. In den vergangenen Wochen haben dutzende Nato-Offiziere um Asyl in Deutschland angesucht.