Der demokratische Entscheidungsprozess wird von vielen Politikern als viel zu mühsam erlebt. Auch Frankreichs neuer Präsident, Emmanuel Macron, möchte ohne lästige Auseinandersetzungen Entscheidungen im Sozialbereich treffen können. Und so soll das im Juni zu wählende Parlament Macron die Ermächtigung geben, mit Verordnungen nach seinen Vorstellungen Reformen zu beschließen. Dazu braucht es eine Mehrheit. Ob Macrons neue Partei, „La République en Marche“, diese Vorgabe erreicht, ist fraglich, ob die anderen Parteien ihre Macht an den Präsidenten abgeben wollen, wohl auch.
Tatsächlich bildet die französische Sozialpolitik die Hauptursache für das schwache, wirtschaftliche Abschneiden des Landes, das die gesamte EU entscheidend belastet. Somit ist eine Sozialreform in Frankreich ein zentrales europäisches Thema. Dass diese gelingt ist entscheidender als die Frage, ob die französische Regierung konstruktiv und kooperativ in den EU-Institutionen mitarbeitet. Welche Perspektiven eröffnet nun Macron in Frankreich und auf europäischer Ebene?
Der Kündigungsschutz lähmt die französische Wirtschaft
Das zentrale Problem der französischen Wirtschaft ist der extreme Kündigungsschutz. Dieses Problem hat auch die bisherige Regierung unter François Hollande erkannt und mit der „Loi Travail“ eine Lockerung durchzusetzen versucht. Im Sommer 2016 wurde das Gesetz von der Regierung unter Ausschaltung des Parlaments beschlossen. Diese Möglichkeit sieht die Verfassung im Artikel 49,3 vor. Hier wirkt die Ära de Gaulle nach: Als die Vierte Republik im Chaos streitender Parteien und im lähmenden Algerien-Krieg versank, wurde 1958 unter General Charles de Gaulle die V. Republik mit umfassenden Rechten des Präsidenten installiert.
Somit wurde bereits eine Sozialreform ohne Parlament beschlossen. Die von Macron angestrebten Verordnungen würden also nichts anderes als eine Neuauflage bedeuten. Tatsächlich wurde aber die bisherige Regierung von den Gewerkschaften, aber auch von der Jugend und den Intellektuellen derart unter Druck gesetzt, dass das Gesetz nur bescheiden wirken kann. Die Möglichkeit der Kündigung von Mitarbeitern ist zwar gegeben, doch nur unter Beachtung zahlloser Auflagen möglich, sodass sich letztlich wenig geändert hat.
Macron will mit einer neuen Strategie die Gewerkschaften schwächen
Macron spricht auch nicht über den Kündigungsschutz. Die von ihm mit Verordnungen angestrebten Reformen sollen in erster Linie die Gewerkschaften schwächen. Die Strategie ist deutlich erkennbar: Erst wenn dieser jede Reform behindernde Machtblock geschwächt ist, werde sich Frankreich erholen und eine flexible Kündigungsregelung möglich sein. Die Methode: Die derzeit dominierenden und von den Gewerkschaften maßgeblich bestimmten Kollektivverträge sollen an Bedeutung verlieren. Löhne, Zulagen, Arbeitszeiten, kurzum, alle entscheidenden Themen sollen in den Unternehmen im Rahmen von Betriebsvereinbarungen entschieden werden. Ein Erfolg wäre tatsächlich entscheidend, da in vielen Firmen die Gewerkschaften keinen Einfluss haben.
Die Gewerkschafter haben die Strategie durchschaut und bereits am Tag nach der Wahl mit Protesten und Demonstrationen begonnen. Somit ist eine Fortsetzung der heftigen Auseinandersetzung um die „Loi Travail“ angesagt und fraglich, ob Macron erfolgreicher sein wird als Hollande. Man darf zudem nicht vergessen, dass Macron bereits Wirtschaftsminister unter Hollande war.
Warum der Kündigungsschutz negative Folgen hat
Der Kündigungsschutz produziert Arbeitslosigkeit und behindert den Fortschritt. Das klingt paradox, weil der Schutz bei oberflächlicher Betrachtung als Vorteil für die Arbeitnehmer erscheint. Diese Position vertreten auch die Gewerkschafter und die französischen Intellektuellen und sehen nicht die ökonomischen Zusammenhänge:
- Der Kündigungsschutz bewirkt, dass Firmen nach Möglichkeit keine Mitarbeiter aufnehmen, weil diese in wirtschaftlich kritischen Phasen nicht gekündigt werden können. Man verzichtet deshalb sogar auf Aufträge.
- In schwierigen Perioden können Belegschaften nicht verkleinert werden, also müssen ganze Betriebe geschlossen werden und alle Beschäftigten verlieren den Job.
- Kündigungsschutz ist für die Arbeitnehmer ein Argument, in einer Firma zu bleiben, auch wenn die Arbeit unbefriedigend ist. Neue Unternehmen haben daher Probleme, Mitarbeiter zu bekommen. Der entscheidende Faktor für wirtschaftlichen Erfolg, die Abstimmung der Menschen zugunsten innovativer Firmen, wird behindert.
Die Zusammenhänge kann man in Deutschland nachvollziehen, wo der Kündigungsschutz das grundsätzlich erfolgreiche Land zum „kranken Mann Europas“ gelähmt hat. Seit der Lockerung im Jahr 2004 durch die Regierung Schröder bildet der flexiblere Arbeitsmarkt die Basis für den Erfolg Deutschlands. Dabei erfolgte nur eine Lockerung, keineswegs eine Beseitigung der Schutzmaßnahmen, die von vielen Kritikern immer noch als übertrieben empfunden werden.
Das teuerste Wahlversprechen: Der Rentenantritt mit 62 wird nicht angetastet
Macrons Wahlprogramm enthält eine Vielzahl von Versprechen, deren Umsetzung Milliarden kosten würde. Allerdings sind die Konzepte meist nur plakativ angesprochen, sodass in der Praxis viele Varianten offen bleiben. Auch will der neue Präsident das Budgetdefizit sogar schon jetzt unter 3 Prozent des BIP halten und damit die EU-Vorgabe einhalten. Somit müssen die Ankündigungen wie Umsetzungen kritisch betrachtet werden.
Das teuerste Wahlversprechen ist allerdings eindeutig und kann auch in der Praxis kaum korrigiert werden: Macron hat angekündigt am Rentenantrittsalter von 62 nicht zu rütteln. Die Anhebung ist seit Jahren ein heißes Eisen in Frankreichs Politik und hat alle Vorgänger-Regierungen in Probleme gestürzt. Der neue Präsident umgeht somit von vornherein den neben dem Kündigungsschutz größten politischen Sprengstoff. Die Konsequenz: Jeder Versuch, Frankreich zu reformieren ist allein mit diesem Versprechen von Anfang an in Frage gestellt.
Frankreich zählt 14 Millionen Pensionisten, das sind 21,6 Prozent der Bevölkerung bei steigender Tendenz. Die Aufwendungen für Renten erfordern über 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nachdem die durchschnittliche Lebenserwartung schon über 82 Jahre ist und weiter ansteigt, erhalten die Rentner ihre Bezüge im Schnitt über zwanzig Jahre. Dies stellt, wie in zahlreichen anderen Industriestaaten auch, eine Überforderung der Aktivbevölkerung dar, die die Mittel für die Rentner erwirtschaften muss.
Diese Situation trägt neben anderen Faktoren entscheidend zu einem ökonomisch nicht vertretbaren Zustand bei: Die öffentlichen Haushalte nehmen in Frankreich mehr als 56 Prozent des BIP in Anspruch. Wenn weniger als 44 Prozent der Wertschöpfung den Unternehmen und Privathaushalten für Investitionen und Konsumausgaben zur Verfügung stehen, kann ein Land nicht florieren. In gesunden Volkswirtschaften beträgt die Relation nicht 56 Prozent Staat zu 44 Prozent privat, sondern 40 Staat zu 60 privat.
Macron hat diese Problematik im Wahlkampf angesprochen und eine Korrektur in Aussicht gestellt. Eine Realisierung dieses Versprechens ist allein durch die Beibehaltung des Rentenantrittsalters unmöglich. Dabei darf man die anderen Ankündigungen nicht außer Acht lassen:
- Die Unternehmen sollen entlastet werden. Der Staat würde einen Teil der Beiträge zur Sozialversicherung übernehmen.
- Die Wohnsteuer, die stets im Herbst in allen Haushalten für Ärger sorgt, will Macron abschaffen.
- Die Arbeitslosenbeiträge würde man einschränken, auch dürften die Betroffenen nur zwei Angebote der Arbeitsmarktverwaltung ablehnen. Allerdings soll der Kreis der Bezugsberechtigten erweitert werden.
- Tausende zusätzliche Polizisten sollen die Sicherheit erhöhen.
- Das Bildungssystem, das im internationalen Vergleich stark gelitten hat, ist als Schwerpunktgebiet für die nächsten fünf Jahre definiert.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit soll die Liste den üppigen Charakter des Wahlprogramms illustrieren.
Der „Retter Europas“ pflegt unrealistische Vorstellungen
Der Sieg Macrons über die nationalistische Kandidatin Marine le Pen, die die EU und den Euro in Frage stellt, macht den neuen Präsidenten Frankreichs zum Retter Europas. Tatsächlich würde ein FREXIT das Ende der EU bedeuten und eine europaweite Krise auslösen.
Die Bewertung des Wahlresultats ist nicht einfach: Macron hat zwar 66 Prozent der gültigen Stimmen erhalten, aber nur 43 Prozent der Wahlberechtigten haben ihn gewählt. Nun ist zu beachten, dass kein Präsident, auch nicht de Gaulle, 50 Prozent erreicht hat. Zudem muss man einwenden, dass nicht Macron gewonnen, sondern Le Pen verloren hat, sich also die Wahl auf die Frage Ja oder Nein zur EU reduziert.
Was will nun der „Retter Europas“? Macron möchte die Euro-Zone neu gestalten. Die 19 Euro-Länder sollen ein eigenes Parlament bilden, die Abgeordneten der 19 Euro-Länder würden einmal als EU-Abgeordnete im EU-Parlament agieren, ein anderes Mal als Mitglieder eines Euro-Parlaments. Außerdem soll ein Euro-Finanzminister nominiert werden. Dieser würde über ein gesondertes Budget verfügen, das aus Steuern und gemeinsamen Anleihen gespeist wird und zur Finanzierung von Investitionen eingesetzt werden soll. Somit käme gleichsam eine Verdoppelung der EU zustande: Neben dem bestehenden EU-Parlament und dem existierenden EU-Budget gäbe es dann eine Euro-Welt. Schon zeigen die Analysen, dass die 160 Milliarden des bestehenden EU-Budgets nur sehr bedingt effektiv eingesetzt werden. Es ist also nicht zu erwarten, dass ein Euro-Fonds mehr bewirken kann. Auch lehnt Bundeskanzlerin Angela Merkel gemeinsame Euro-Anleihen strikte ab.
Macrons Vorschlag zielt auf eine weitere Komplizierung der ohnehin schon komplizierten EU ab und geht am Problem vorbei. Trotz niedriger Zinsen ist die Investitionsquote in der EU unter 20 Prozent gesunken. Hier zeigt sich überdeutlich, dass die Konjunkturbremsen stärker wirken als die vermeintlich fördernde Politik des billigen Geldes der EZB.
Als Bremsen wirken die Behinderung der Kreditfinanzierung durch Basel III und die hohen Staatsquoten, die den Spielraum der Unternehmen und der Privathaushalte einengen. Diese beiden Problemfelder gilt es zu entschärfen, ein neuer Zentralfonds ist nicht die Lösung, genauso wenig wie das bestehende EU-Budget oder das von EU-Kommissionspräsident Juncker betriebene Projekt, das 30 Milliarden mobilisieren soll.
Ein Blick auf die Daten zeigt die tatsächlichen Herausforderungen
Zu beachten sind die Daten: Die Euro-Zone hat ein BIP von knapp 11.000 Milliarden Euro. Ein Investitionsvolumen von 20 Prozent bedeutet Aufwendungen von der Höhe 2.200 Milliarden Euro. Der Euro-Raum ist international nur bedingt konkurrenzfähig. Also sind diese 2.200 Milliarden nicht ausreichend oder zumindest nicht effektiv eingesetzt.
Jedenfalls ist eine Ausweitung des Investitionsvolumens erforderlich. Um wieder das Niveau zu erreichen, dass etwa vor etwa zehn Jahren gegeben war, also eine Investitions-Quote von 22-23 Prozent des BIP, ist das Volumen von 2.200 auf etwa 2.500 Milliarden zu steigern.
Diese zusätzlichen Milliarden sind zum Teil über Kredite zu finanzieren, müssen aber auch durch eine Verringerung der Staatsquote ermöglicht werden. Nur wenn den Betrieben mehr Geld zur Verfügung bleibt, kann investiert werden.
Wie sieht aber die Realität aus: Die Euro-Staaten haben 10.000 Milliarden Schulden und produzieren jährlich ein Defizit von knapp 160 Milliarden Euro. Dieser Betrag ist nur durch die niedrigen Zinsen ermöglicht. Allein 1 Prozent mehr Zinsen würde das Defizit um 100 Milliarden Euro in die Höhe schnellen lassen. Noch hält die EZB die Zinsen bei null, unter dem Druck der internationalen Entwicklung muss aber in absehbarer Zeit mit einer Erhöhung gerechnet werden.
Unter diesen Umständen ist eine Entlastung der Wirtschaft im Ausmaß von 100 oder 200 Milliarden illusorisch. Die Zeichen stehen vielmehr auf Steuererhöhung. Der Punkt ist: Die europäischen Staaten und in erster Linie die Sozialsysteme ersticken die Wirtschaft.
Emmanuel Macron weiß als früherer Wirtschaftsminister um die Gefahren, die von dieser tickenden Bombe ausgehen. Frankreich ist mit einer Staatsquote von über 56 Prozent, 2.100 Milliarden Staatsschulden und einem Defizit von 75 Milliarden vorrangig gefordert, die Entschärfung der Bombe zu betreiben.
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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.