Politik

In der Sackgasse: Die EU zerfällt in einen losen Staatenbund

Lesezeit: 6 min
25.02.2018 00:50
Die EU verliert ihr Momentum und ist auf dem Weg zu einem losen Staatenbund.

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Den europäischen Regierungen wird angst und bang: Die Europäische Zentralbank wird in absehbarer Zeit den großzügigen Kauf von Staatsanleihen reduzieren und letztlich einstellen. Somit ist nun ein hektisches Bemühen um die Erschließung anderer Geldquellen zur Finanzierung der Staatshaushalte entstanden. Nachdem der Euro-Rettungsschirm ESM – Europäischer Stabilitäts-Mechanismus - über 400 Milliarden Euro verfügt, haben die Finanzminister Begehrlichkeiten entwickelt. Beim nächsten Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs am 22. und 23. März 2018 soll der Zugriff zu den Mitteln ermöglicht werden. Bei diesem Projekt zeichnet sich eine europäische Einigung ab, ganz im Gegensatz zu anderen Fragen, wo die Mitgliedstaaten nicht zu einer gemeinsamen Politik finden und eher nationalistische Desintegration als europäische Integration betreiben.

Der ESM als Geldproduktionsmaschine ohne Kontrolle durch die EU-Kommission oder durch das EU-Parlament

Die EU-Staaten haben insgesamt ein jährliches Defizit von etwa 250 Mrd. Euro, davon entfallen auf die EURO-Staaten, für die der ESM in erster Linie gegründet wurde, etwa 165 Mrd. Euro. Somit kann der Griff nach den Reserven des ESM von 400 Mrd. Euro doch eine beträchtliche Zeit lang die Sorgen der Finanzminister mildern. Auch hier bietet sich, wie bei der in den vergangenen Jahren erfolgten Finanzierung durch die EZB, eine Illusion an: Man brauche diese Hilfe nur zur Überbrückung bis die Budgets in Ordnung gebracht sind. Aber auch jetzt, trotz mancher Erfolge, zeichnet sich keine dauerhafte Sanierung der Staaten ab.

Im Kreis der Staats- und Regierungschefs wie der Finanzminister setzt sich immer deutlicher die Absicht durch, den ESM ohne Mitwirkung der EU-Kommission neu zu gestalten. Die Kommission würde alles nur komplizieren und eine effektive Vorgangsweise behindern, heißt es. Somit soll der ESM auf der Basis einer Übereinkunft der Staaten funktionieren und nicht auf der Grundlage des EU-Rechts und nicht unter Kontrolle der EU-Kommission und des EU-Parlaments. Dies sei rechtlich einfach durchzuführen, wogegen eine Konstruktion innerhalb des EU-Rahmens eine Novellierung der Verträge, Beschlüsse der nationalen Parlamente, wahrscheinlich auch Referenden in den Staaten und eine komplizierte Gesetzwerdung über eine Einigung zwischen Rat, Kommission und Parlament erforderlich mache. Dass die Kommission und das Parlament gegen dieses Konzept protestieren, ist naheliegend. Die Finanzminister dürften ihr schlechtes Gewissen – sofern sie darunter leiden – mit dem Hinweis beruhigen, dass ja der ESM nur durch die Haftungen der Staaten ermöglicht wird.

Der ESM als „Europäischer Währungsfonds“

Der neue ESM wird als „Europäischer Währungsfonds“ gesehen, womit sich Europa von der Kontrolle durch den „Internationalen Währungsfonds“ abkoppeln würde. Der IWF agiert derzeit weltweit als eine Art Stabilitätspolizei, auch in Griechenland, wo der Fonds allerdings seit 2013 keine Zahlungen mehr leistet. Also soll Europa mit einem eigenen „EWF“ die Durchsetzung von Reformprogrammen und die Zahlung von Hilfsgeldern an Staaten und Banken in Not betreiben.

Im ESM wird dieses Projekt sehr positiv gesehen. Schon bei der Griechenland-Sanierung sprach sich der Chef des ESM, Klaus Regling, gegen den Begriff „Troika“ für die internationale Reform-Kommission aus. Es seien nicht drei – EZB, IWF und EU-Kommission –, sondern vier am Werk, nämlich auch der ESM, der Griechenland mitfinanziert hat. Nun könnte der ESM als Europäischer Währungsfonds eine zentrale Rolle bei der Kontrolle und Sanierung der Staatsfinanzen einnehmen. Dies wäre auch für den heute 68jährigen Reglimg die Krönung seiner Karriere, die ihn mehrfach zu entscheidenden Positionen beim IWF, bei deutschen Regierungen und in der EU geführt hat.

Die Finanzminister fürchten die Rute der EU-Kommission

Fraglich ist allerdings ob die noch 28 EU-Staaten oder auch nur die 19 Euro-Staaten akzeptieren werden, dass ihnen Regling die Finanz- und Wirtschaftspolitik diktiert. Zu bezweifeln ist auch, ob Regling hart bleibt. Als Deutschland und Frankreich die vereinbarten Defizitgrenzen 2002 und 2003 überschritten, sorgte Regling für ein Verfahren der EU-Kommission gegen die beiden Länder. Es war aber auch Regling, der 2005 maßgeblich an einer Reform der Bestimmungen beteiligt war, die nun die Versprechen und die Bemühungen eines Landes, die Verschuldung in den Griff zu bekommen, stärker würdigen.

Die Staats- und Regierungschefs reagieren nun wie viele Bürger: Man ist über die Regelwut und die Komplikationen der EU-Kommission verärgert und sucht Wege der Zuständigkeit der Kommission zu entgehen. Diese Strategie der Staaten ist besonders frivol, da die Regierungen in der Vergangenheit der EU-Kommission zumeist die Stange gehalten haben und sich nur selten zum Anwalt der Bürgerproteste gegen die oft lähmenden Vorschriften gemacht haben. Jetzt, da es um die Finanzierung der Budgets geht, weiß man plötzlich was die Überregulierung und Überbürokratisierung anrichtet.

Es geht bei der Reform des ESM aber in Wahrheit nicht um die Regulierungswut der EU-Kommission. Die Regierungen befürchten, dass die Kommission und das Parlament Budgetdisziplin einfordern würden und ein ESM unter der Knute der Staaten laxer sein werde. Man will der Rute der Kommission entkommen.

Nur scheinbar in eine andere Richtung gehen die Bekenntnisse des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der eine starke EU einfordert und einen gemeinsamen Finanzminister installieren will, dies aber aus einem dubiosen Grund: Der EU-Finanzminister soll EU-Anleihen auflegen und die Mittel den Staaten für Investitionen zur Verfügung stellen. Dann müssten die Mitgliedstaaten selbst weniger Schulden machen.

Auffallend sind die vagen und wenigen Erklärungen zur EU im neuen, deutschen Regierungsprogramm von Angela Merkel und Martin Schulz. Deutschland ist im Gegensatz zu früher derzeit nicht der Vorreiter einer starken und finanz-stabilen Gemeinschaft.

Die EU auf dem Weg zu einem losen Staatenbund

Während die leeren Kassen die Regierungen bei der Suche nach neuen Geldquellen eint, ist man im Übrigen eifrig unterwegs die EU in ihrer derzeitigen Form zu demontieren und zu einem losen Staatenbund umzubauen.

Obwohl die europäische Bevölkerung wegen der niedrigen Geburtenrate schrumpft, wird die Bewegung gegen die ohnehin bereits im Gefolge von drastischen Restriktionen abgeflaute Zuwanderung immer stärker. Es war und ist unmöglich, dass sich die EU zu einer koordinierten Politik bekennt und eine kluge und abgestimmte Einwanderungspolitik betreibt. Eine derartige Vorgangsweise könnte den langfristig drohenden Rückgang der Einwohnerzahl und die Alterung der Bevölkerung abfangen, ohne ¬ bei entsprechenden Bedingungen ¬ die europäische Gesellschaft zu überfordern.

Polen, Tschechien und Ungarn haben im Wesentlichen die Grenzen geschlossen. Österreich hat sich mit der seit Dezember amtierenden Regierung dieser Bewegung angeschlossen. Das Land übernimmt in der zweiten Jahreshälfte den EU-Vorsitz und hat bereits einen „Flüchtlings-Gipfel“ der Staats- und Regierungschefs angekündigt. Nicht zu vergessen ist Bayern, das auch in Deutschland eine Bremse gegen die Zuwanderung von Flüchtlingen durchgesetzt hat.

Die Ablehnung von Zuwanderung geht Hand in Hand mit einem erstarkten Nationalismus, der die EU-Institutionen schwächen und die Staaten stärken will. Auch das Vorgehen der spanischen Regierung gegen die Autonomiebestrebungen von Katalonien wird als Betonung des Nationalstaates Spanien und somit aller Nationalstaaten erlebt.

Das plötzliche Erwachen: Europa hat keine Sicherheitspolitik

Die Tendenz zu einer Umwandlung der EU in einen losen Staatenbund ist voll im Gang, da realisieren plötzlich dieselben Regierungen, die nach dem ESM greifen und die Flüchtlinge jagen, dass sie ein ernsthaftes Sicherheitsproblem haben. Das nicht, wie von Vielen ständig wiederholt wird, im Flüchtlingsproblem besteht. Die USA verstehen sich nicht mehr als Schutzmacht der Europäer, sondern stehen auf dem Standpunkt, dass Europa selbst für seine Verteidigung zu sorgen habe. Somit wird offenkundig, dass die vielen Erklärungen zur europäischen Verteidigung- und Sicherheitspolitik nur hohle Phrasen waren. Man hat sich stets auf die USA als Führungsmacht der NATO verlassen und keine eigene Strategie entwickelt.

Kaum jemand hat auf General de Gaulle gehört, der bereits im Jahr 1962 darauf gepocht hat, dass der Sitz der NATO aus Frankreich verlegt wird und dass Frankreich eine eigene Force de dissuasion, eine Abschreckungsmacht, aufbaut. Dass dieser Weckruf nicht nur sein Land, sondern ganz Europa betraf, wurde wenig zur Kenntnis genommen. Die Aktion wurde eher als eine Marotte abgetan und ironisch kommentiert, man wolle in Paris „Grande Nation“ spielen. Zudem war zu dieser Zeit eine Aufrüstung Deutschlands angesichts des immer noch nachwirkenden, von Hitler-Deutschland ausgelösten Weltkriegs, tabu. Auch waren die anderen Länder nicht in der Lage, das Verteidigungsthema ernsthaft abzugehen. In den Folgejahren gewöhnte man sich an den NATO-Schutz und als die Sowjetunion 1991zusammenbrach, pflegte man die Illusion, dass es keine Bedrohungen mehr gebe.

Und jetzt ist die EU wehrlos. Jedes Land unterhält eine eigene Armee, die im Ernstfall wenig bewegen kann. Eine Koordination all dieser Klein-Armeen existiert nur in bescheidenen Ansätzen. Auch ist schwer vorstellbar, dass Regierungen, die sich gerade mit der Rückeroberung ihrer vermeintlichen Macht beschäftigen, ihre Armeen einem gemeinsamen Kommando unterstellen oder gar in eine europäische Armee einbringen. Dazu kommt, dass der derzeit gültige Lissabonner Vertrag, der eine Art Verfassung der EU darstellt, die Kooperation mit der NATO ausdrücklich statuiert. Nicht zuletzt fühlen sich die EU-Staaten an der EU-Ostgrenze durch die von der NATO und somit von den USA ermöglichten Militär-Stützpunkte eng mit Washington verbunden. Obwohl Präsident Donald Trump in Polen ein Bekenntnis zu dieser Art „Ost-Wall“ abgegeben hat, ist man in Warschau nicht mehr so sicher, dass man noch unter dem Schutz der USA steht.

Die EU hat in der Ukraine versagt

In der europäischen Hilflosigkeit dominiert die Kritik an Trump, das Bemühen um eigene Lösungen verendet in Ankündigungen. Wie man aber nicht zur Kenntnis nimmt, dass die EU die Umsetzung einer intelligenten Sicherheitspolitik und einer pragmatischen Zuwanderung verabsäumt hat, wird auch ein weiteres großes Versagen nicht gesehen: Die Ukraine-Krise ist nicht in erster Linie durch Russland, sondern vor allem durch die NATO und die EU verursacht.

Statt die krisengeschüttelte Ukraine durch ein Aufbauprogramm wirtschaftlich zu stärken und auf diese Weise zu einem interessanten Partner zu entwickeln, wurde immer wieder die Aufnahme des Landes in die NATO und in die EU in Aussicht gestellt.

Dass die Bemühungen, die Ukraine an die NATO und die EU zu binden, Russland auf den Plan rufen musste, war unvermeidlich. Für die russische Verteidigungspolitik bildet die Ukraine eine Art Glacis. Außerdem ist die russische Schwarzmeer-Flotte an der Krim stationiert. Die NATO auf der Krim und an der russischen Grenze ist für Russland inakzeptabel. Folgerichtig kam es zur Annexion der Krim und zu den Unruhen an der Ostgrenze der Ukraine zu Russland. Die EU und die USA haben die Annexion der Krim, die sie selbst provoziert haben, zum Anlass genommen, um Russland zum Aggressor zu erklären und Sanktionen zu verhängen, wodurch eine konstruktive Zusammenarbeit mit Russland unmöglich wurde.

Fazit: Die Krim ist immer noch russisch, die Ukraine ist wirtschaftlich in einer katastrophalen Lage, die europäische Wirtschaft selbst erleidet durch die Sanktionen Verluste und Russland hat zusätzliche Probleme bei der Modernisierung seiner rückständigen Volkswirtschaft.

Und auch aus dieser Sackgasse weiß man in Brüssel keinen Ausweg.

***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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