Die angebliche Vergiftung eines britisch-russischen Ex-Spions bleibt rätselhaft: Zwar behauptet die Regierung in London, dass "höchstwahrscheinlich" die Russen dahinter stecken. Doch Belege gibt es nicht. Es gibt auch keine für die Öffentlichkeit zugänglichen, unabhängig überprüfbaren Fakten über das Geschehen. Es ist nicht klar, ob überhaupt jemand vergiftet wurde und wenn ja wie: Einer gutgläubigen Öffentlichkeit werden widersprüchliche Fakten aufgetischt: So hieß es, das höchst gefährliche Gift sein mit Geschenken aus Moskau geliefert worden. Wie das durch den Zoll und gekommen und die lange Flugreise ohne Gefährdung überstanden haben soll bleibt ungeklärt. Dann hieß es, das Gift sei in einem Blumenstrauß gewesen. Wie man einen vergifteten Blumenstrauß in ein Flugzeug und durch den britischen Zoll bringen soll ist rätselhaft.
Es ist mit freiem Auge nicht zu erkennen, wer an einer schweren Störung des britisch-russischen Verhältnisses interessiert sein könnte.
Was zu erkennen ist, ist die Tatsache, dass um Großbritannien seit geraumer Zeit ein Energiekrieg tobt, der seine Ursache im Einstieg der Amerikaner in das Flüssiggas-Geschäft (LNG) hat. In den USA wird die Gewinnung von Erdgas mit Hilfe der Fracking-Methode massiv subventioniert. US-Präsident Trump hat angekündigt, die USA zum Weltmarktführer auf dem Energiesektor zu machen. Begonnen haben diese Bestrebungen bereits unter Obama: Die US-Regierung will die Russen aus demeuropäischen Energiemarkt drängen und selbst das Geschäft machen. Doch nicht nur die Amerikaner würden von einer Störung der britisch-russischen Beziehung profitieren: Auch Katar und Norwegen wollen mit London ins Geschäft kommen.
Daher warnt Mark Gyetvay, Chief Financial Officer des Novatek-Konzerns bei Bloomberg: Russlands politische Spannungen mit Europa und den USA sollten kein Grund sein, die Energieversorgung des Landes zu denunzieren. Alle Ladungen werden von Händlern gekauft, die den profitabelsten Anbieter wählen. Die Wettbewerb um die Energie solle auf den Warenmärkten ausgetragen werden, nicht über die Politik.
Premierministerin Theresa May hat als eine der Maßnahmen um die Spionageaffäre angekündigt, Großbritannien werde versuchen, Erdgas aus Quellen außerhalb Russlands zu beziehen. Während Europa insgesamt mehr als ein Drittel seines Gases aus Russland bezieht, ist dieser Anteil im Vereinigten Königreich niedriger, wo der Großteil des Treibstoffs von den Nordseefeldern und Norwegen stammt. Die BBC berichtet, die Regierung habe den Anteil des russischen Erdgases mit einem Prozent angegeben. Allerdings sei es wegen der Lieferungen aus Europa schwierig, den genauen Anteil festzustellen. So bezieht Großbritannien sein Erdgas aus Belgien, welches als Verteilknoten fungiert und auch das von Russland gelieferte Gas weiterleitet. Die Gazprom PJSC mit Sitz in Moskau im vergangenen Jahr der zweitgrößte Lieferant für industrielle Großverbraucher in Großbritannien, so der britische Energieregulierer Ofgem.
Die Russen haben also einiges zu verlieren: Die Hälfte der britischen Importe von LNG-Gas kam im laufenden Jahr aus Russland. Damit fließt ein Großteil der Energieausgaben der britischen Haushalte an russische LNG-Lieferanten.
Seit Januar 2018 erhielt Großbritannien sechs LNG-Ladungen. Drei davon kamen aus Russland. Alle drei russischen Lieferungen stammen aus dem Jamal-LNG-Projekt in Sibirien.
Die Inbetriebnahme der Jamal-LNG-Produktionsstätte, die in Russland als Segen für die heimische Wirtschaft eingestuft wurde, hat dazu geführt, dass nicht nur LNG-Ladungen an Großbritannien, sondern auch an die Ost-Küste der USA geliefert wurden, da dort bis Ende Januar eine polare Kälte herrschte und das Gas knapp wurde.
Während LNG-Importe bisher nur einen kleinen Teil der britischen Gasnachfrage ausmachten, die bis 2018 auf jährlich drei bis fünf Prozent geschätzt wurde, könnte die Gasnachfrage nach der Schließung des wichtigsten Gas-Speichers Großbritanniens (“Rough”) drastisch ansteigen.
“Wir sind sehr auf Gasimporte angewiesen, um den Winter überstehen zu können (...) Nachdem wir unseren größten Speicher geschlossen haben, sehen wir uns mit potenziell volatilen und höheren Preisen konfrontiert”, zitiert die Financial Times Trevor Sikorski, Chef-Gasanalyst bei Energy Aspects in London.
Novatek, das Unternehmen, das das Jamal-Projekt im Rahmen eines Konsortiums mit Frankreichs Total und China entwickelt hat, wurde Ende vergangenen Jahres vom Kreml gelobt. Denn der Transport der LNG-Güter von Ost-Russland nach Europa ist mit logistischen Schwierigkeiten verbunden. Die Lieferungen nach Großbritannien haben auch einen symbolischen Wert, da Russland damit seine Widerstandskraft gegen die westlichen Sanktionen unter Beweis stellen kann.
Das britische Wirtschaftsministerium erklärte am vergangenen Dienstag, dass Großbritannien “in keiner Weise auf russisches Gas angewiesen” sei. Weniger als ein Prozent des britischen Gases würde aus Russland kommen. Doch die Lieferung von drei russischen LNG-Frachten nach Großbritannien deutet nach Angaben der Financial Times darauf hin, dass diese Aussage nur bedingt stimmt.
Zwei der Lieferungen wurden von Petronas aus Malaysia nach Großbritannien verschifft. Das Unternehmen hat einen Handelsstützpunkt in London und ist am Dragon-LNG-Terminal in Südwales beteiligt. Die andere Lieferung wurde Anfang dieses Monats nach einem heftigen Kälteeinbruch in Großbritannien von Royal Dutch Shell verschifft.
USA
Im März 2018 soll Großbritannien eine LNG-Lieferung vom US-amerikanischen LNG-Terminal Cove Point erhalten, berichtet Marine Link. Der Gemmata-Tanker soll am 20. März im britischen Terminal Dragon landen, teilte die lokale Hafenbehörde in Milford Haven mit. Cove Point ist das zweitgrößte LNG-Terminal in den USA.
Nach einem Bericht des englischsprachigen Diensts von Reuters sollen die USA im aktuellen Jahr zum drittgrößten Exporteur von LNG werden. Die US-amerikanische LNG-Exportkapazität wird bis zum Ende des Jahres 2020 voraussichtlich von 3,8 Milliarden Kubikfuß auf 10,1 Milliarden Kubikfuß pro Tag (bcfd) steigen. Ein bcfd kann etwa fünf Millionen Haushalte mit Strom versorgen.
Im Juli 2017 erhielt Großbritannien seine erste LNG-Lieferung aus den USA. Die LNG-Lieferung stammte von der Sabine Pass-Anlage am Golf von Mexiko und wurde an das LNG-Terminal in Isle of Grain geliefert. Die Lieferung erfolgte mit dem Maran Gas Mystras-Tanker des französischen Energie-Riesen Total, berichtet die Financial Times. Das Blatt führt aus, dass US-LNG für Großbritannien und andere europäische Staaten in den kommenden Jahren zu einer wichtigen Alternative gegenüber den russischen Gaslieferungen darstellen könnte. Das LNG-Terminal Isle of Grain im Südosten Englands hat eine Regasifizierungs-Kapazität von fast 15 Millionen Tonnen pro Jahr - oder fast 21 Milliarden Kubikmeter.
Unklar bleibt, ob Großbritannien seine russischen Gas-Importe durch US-LNG ersetzen kann. Im vergangenen Jahr importierte Großbritannien russisches Gas im Wert von 2,85 Milliarden Dollar. Am vergangenen Mittwoch hatte die britische Premierministerin Theresa May angekündigt, die Gas-Importe aus Russland zu drosseln. Der russische Energieminister Alexander Nowak stufte diese Ankündigung als “politisch motiviert” sein. “Jedes Land hat das Recht, seine eigene Energiepolitik zu bestimmen (...) Jede Entscheidung (von Großbritannien zur Drosselung der russischen Gas-Importe) wäre politisch motiviert und nicht darauf ausgerichtet, den Wettbewerb auf dem europäischen (Gas-) Markt zu entwickeln”, zitiert der englischsprachige Dienst von Reuters Nowak.
Katar
Die BBC führt aus, dass Großbritanniens Abhängigkeit von Gas-Importen kontinuierlich ansteigt. Das Land importiert Gas, um 47 Prozent seiner Nachfrage decken zu können. In zehn Jahren wird dieser Anteil auf 67 Prozent und bis 2035 auf 73 Prozent ansteigen. Seit dem Gas-Streit zwischen der Ukraine und Russland hat Großbritannien versucht, seine Gas-Versorgung zu diversifizieren. Die Gas-Preise für britische Kunden sind in den vergangenen zwei Jahren um 30 Prozent gestiegen.
Im September 2016 hatte die in Großbritannien ansässige Centrica einen fünfjährigen Liefervertrag mit Qatargas unterzeichnet, um ab Januar 2019 bis zu zwei Millionen Tonnen pro Jahr (mta) an LNG-Gas zu erhalten. "Wir freuen uns, unsere enge Beziehung zu Centrica und Großbritannien zu erweitern. Diese Vereinbarung unterstreicht Qatargas Ruf als sicherer und zuverlässiger Lieferant von LNG-Gas. Darüber hinaus hat diese Vereinbarung das Potenzial, in den kommenden Jahren positiv zur Energiesicherheit Großbritanniens beizutragen", zitiert LNG World Shipping den Qatargas-Chef Saad Sherida al-Kaabi.
Auf Nachfrage der Deutschen Wirtschafts Nachrichten, wie abhängig Großbritannien von den ausländischen Gaslieferungen ist, sagte ein Sprecher von Centrica: "Was wir sagen können, ist, dass Großbritannien heute eine vielfältigere Gasversorgung hat als je zuvor - mit unserer eigenen Inlands-Nordsee-Produktion, ergänzt durch LNG-Ladungen und erhebliche Gasmengen aus Norwegen und Kontinentaleuropa. In Bezug auf die Versorgungssicherheit Großbritanniens verweisen wir auf die britische Regierung."
Norwegen
Der norwegische Gasinfrastruktur-Betreiber Gassco exportierte im vergangenen Jahr 117,4 Milliarden Normkubikmeter Erdgas durch das Pipelinesystem vom norwegischen Kontinentalschelf (NCS) nach Kontinentaleuropa und Großbritannien.
Das macht nach Angaben von Gassco einen Anstieg von acht Prozent gegenüber dem Vorjahr aus.
Frode Leversund, Chef von Gassco, sagt, dass die Lieferungen im vergangenen Jahr etwa ein Viertel des europäischen Gasverbrauchs deckten, berichtet LNG World News.
Nach Angaben der LNG Edge Analytics-Plattform hat Isle of Grain 2017 sieben LNG-Ladungen aus Ländern wie Katar, Nigeria, Algerien, Peru und der Dominikanischen Republik erhalten.
“Neben dem Gas, das aus Pipelines geliefert wird, werden sich Großbritannien und Europa auf LNG aus Algerien, Nigeria und Katar verlassen. Die USA werden in Zukunft eine weitere Option bieten”, so Ed Cox, Herausgeber von Global LNG Markets bei ICIS. Die globale Versorgung mit LNG wird zwischen 2015 und 2020 um fast 50 Prozent zunehmen, was die Preise unter Druck setzen und sie gegenüber Kohle und anderen Energiequellen wettbewerbsfähiger machen wird.
Da die USA neben Australien und Russland zu einem großen Exporteur von LNG werden, wird erwartet, dass die Exporte nach Europa in den kommenden Jahren zunehmen werden.
Die LNG-Lieferungen nach Europa sind in den ersten sechs Monaten dieses Jahres um 10 Prozent gestiegen, wie Branchendaten zeigen, verglichen mit dem gleichen Zeitraum im Jahr 2016.