Im milliardenschweren Anlegerprozess gegen Volkswagen und Porsche hält das Gericht einen Teil der Schadenersatzforderungen im Zusammenhang mit dem VW-Abgasskandal für verjährt. Richter Christian Jäde sagte in einer vorläufigen Einschätzung am ersten Verhandlungstag vor dem Oberlandesgericht Braunschweig am Montag, dass wahrscheinlich nur Ansprüche berücksichtigt werden könnten, die sich auf die Zeit ab Juli 2012 bezögen. Die Höhe der Ansprüche ließ er offen. Klägeranwalt Andreas Tilp schätzt, dass Klägeransprüche im Volumen von zwei Milliarden Euro aussichtsreich sind: "Wir sind sehr zuversichtlich, dass es da am Ende des Tages Geld gibt."
Der 3. Zivilsenat verhandelt über eine Klage der Fondsgesellschaft Deka Investment wegen erlittener Kursverluste. Hinter der Musterklägerin stehen knapp 1700 vergleichbare Fälle, die Summe der Forderungen beläuft sich auf rund neun Milliarden Euro. Davon wurde ein Teil der Klagen mit einem Volumen von knapp vier Milliarden Euro ausgesetzt. Diese Kläger können ihre Forderungen bei einem positiven Urteil für Deka Investment im Anschluss vor dem Landgericht durchsetzen.
Anders als der Richter hält der auf Kapitalanleger-Musterverfahren spezialisierte Tübinger Rechtsanwalt Tilp Ansprüche ab 2008 für begründet. Seiner Ansicht nach hat der Abgasbetrug mit der Zulassung des ersten betroffenen Dieselautos in den USA im Jahr 2008 begonnen.
Volkswagen erklärte, das Gericht habe deutlich gemacht, dass es ausschließlich eine kapitalmarktrechtrechtliche Beurteilung vornehmen wolle. "Bewertet wird also nur das Verhalten gegenüber Anlegern." Eine relativ deutliche Absage habe das Gericht angeblichen Ansprüchen aus der Zeit vor dem 10. Juli 2012 erteilt.
"Die rechtlichen Problemstellungen sind zum Teil so komplex, dass eine Festlegung des Senats auf einen Lösungsweg zum jetzigen Zeitpunkt – also bevor die Beteiligten Gelegenheit zur ergänzenden Stellungnahme hatten – nicht möglich ist", sagte der vorsitzende Richter. Von der Einschätzung des Senats zu diesen Problembereichen aber hänge es ab, inwieweit die hierzu vorgetragenen Tatsachen wesentlich seien und eine Beweiserhebung nötig sei. Ein abschließender Zeitplan für diesen Prozess liege daher noch nicht vor.
Eine Herausforderung des vorliegenden Falles besteht nach den Ausführungen des vorsitzenden Richters darin, dass es sich um einen zeitlich gestreckten Vorgang handelt, der – jedenfalls nach Ansicht der Musterklägerin und der Beigeladenen – zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Verletzung der Ad-hoc-Mitteilungspflicht gibt. Problematisch sei in diesem Zusammenhang, auf wessen Kenntnis der Manipulation für die kapitalmarktrechtliche Mitteilungspflicht abzustellen sei. Nicht weniger schwierig sei die Beurteilung, ob die Tatsachen kursrelevant gewesen seien.
Am ersten Verhandlungstag begann das Gericht damit, die so genannten Feststellungsziele nacheinander abarbeiten, von denen 183 Volkswagen betreffen und zehn die Konzernmutter Porsche SE. Dabei hob der Richter hervor, dass seiner Ansicht der Zeitraum ab dem Frühjahr 2014 für Entscheidungen über die Kapitalmarktrelevanz von "Dieselgate" wichtig ist. Zu dem Zeitpunkt hatten VW-Mitarbeiter von einer Untersuchung in den USA erfahren, die zum Ergebnis kam, dass Dieselautos der Wolfsburger auf der Straße ein Vielfaches mehr an Stickoxid ausstießen als im Labor.
Für das Verfahren ist nach Meinung von Juristen entscheidend, wann dem Unternehmen das Ausmaß der Abgasmanipulation und deren finanzielle Folgen bewusst wurden. Davon hängt ab, wann der Konzern die Börse mit einer Pflichtmitteilung informieren musste. Die Kläger - überwiegend institutionelle Investoren - werfen den Wolfsburgern vor, die Information zu lange geheim gehalten und ihnen dadurch einen Wertverlust eingebrockt zu haben. Dem hält VW entgegen, die Kursrelevanz sei erst durch die Veröffentlichung der US-Umweltbehörde am 18. September erkennbar geworden. Die EPA hatte damals eine Strafe von bis zu 18 Milliarden Dollar angedroht. Die Wiedergutmachung des Abgasskandals kostete Volkswagen allein in den USA bisher umgerechnet mehr als 25 Milliarden Euro. Einschließlich eines Bußgelds von einer Milliarde in Deutschland sowie weiteren Rückstellungen türmen sich die Kosten inzwischen auf mehr als 27 Milliarden Euro.