Die guten Konjunkturdaten des vergangenen Jahres sorgen für einen rosaroten Nebel, der den Blick auf die Realität trübt. Tatsächlich muss sich Europa auf ein Jahrzehnt der Krisen einstellen, die vermeidbar gewesen wären, aber heute vermutlich nur mehr in bescheidenem Umfang korrigiert werden können. Diese Feststellungen klingen wie die Prophezeiungen eines notorischen Pessimisten, hier wird aber nur auf Fakten Bezug genommen, die nachvollziehbar sind.
Ähnlich einem Kraken ersticken gegenwärtig die Kosten der Renten Europa. 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung sind bereits in Pension oder verlassen in Kürze den Arbeitsmarkt und beziehen im Schnitt zwanzig und mehr Jahre Rente: In allen Staaten wird die Höhe der Beiträge zur Sozialversicherung und der Steuern durch die Kosten der Altenversorgung bestimmt. An diesem Zustand kann sich unmittelbar nichts ändern. Die Ansprüche sind gesetzlich abgesichert. Auch sind Rentenkürzungen abzulehnen, da man im Alter kaum ergänzende Einnahmen erschließen kann.
Die Entwicklung der nächsten fünf Jahre ist schon vorgegeben:
In die Renten drängen derzeit und in den kommenden Jahren die geburtenstarken Jahrgänge der Baby-Boomer. Diese Bewegung hat zwei gegensätzliche Konsequenzen:
- Die Kosten der Renten für die öffentlichen Rentensysteme explodieren, der Druck auf die zahlenden Aktiven steigt. Auf Deutsch übersetzt die Steuern und Sozialbeiträge müssen angehoben werden. Da nicht alles über höhere Abgaben finanziert werden kann, wächst auch der Schuldenberg der Staaten weiter an. Und die Tendenz, Renten zu kürzen steigt.
- Aber viele Baby-Boomer sind keineswegs arm und verfügen über beträchtliche Reserven, die ihnen zumindest für einige Jahre ein fröhliches Pensionisten-Dasein ermöglichen. Der Konsum der wohlhabenden Jung-Rentner wird viele Unternehmen erfreuen und auch den Blick auf die Tatsachen trüben.
- Wie immer, kein Vorteil ohne Nachteil: Die Basis für das komfortable Rentner-Leben bilden nicht zuletzt Eigentumswohnungen und Anteile an Wertpapier-Fonds, die die Jungrentner aber zur Geld machen müssen um gut leben zu können. Man muss somit mit einem Preisverfall bei diesen Vermögenswerten rechnen.
- Hinzu kommt, dass angesichts des Geldbedarfs der Staaten die Zinsen nicht auf Dauer niedrig gehalten werden können, da sonst die Anleger keine Anleihen kaufen. Und die Europäische Zentralbank wird kaum auf Dauer die Staaten finanzieren. Höhere Zinsen freuen zwar die Sparer, lassen aber die Immobilienpreise und die Aktienkurse sinken.
In den kommenden fünf Jahren werden somit die Abgaben, aber auch die Staatsschulden steigen. Die Märkte werden den Verkauf von so genannten Vorsorgewohnungen und Fonds-Sparprogrammen verkraften müssen. Aber ein Teil der Wirtschaft wird vom Konsum der lebenslustigen Jungrentner aus der Baby-Boom-Generation profitieren.
Was wäre in diesen kommenden fünf Jahren vonnöten?
Das Gebot der Stunde müsste lauten: Jetzt sollten in Europa alle Anstrengungen unternommen werden, um die Digitalisierung tatsächlich umfassend umzusetzen und die Unternehmungen wie auch die staatliche Infrastruktur fit zu machen. Gelingt dies nicht, so droht eine Krisenperiode, die länger als zehn Jahre dauern dürfte. Derzeit wird viel von Digitalisierung geredet, die enormen Möglichkeiten werden aber nur zögerlich umgesetzt.
- Das mag an der Mentalität liegen, die viele Menschen das Neue mit ablehnender Skepsis betrachten lässt. In diesem Zusammenhang ist an die Zeit zwischen den Weltkriegen zu erinnern.
- In dieser Periode wurden zahlreiche Innovationen entwickelt, die erst in den Jahren nach 1945 zur Perfektion gebracht wurden und heute selbstverständlich sind. Gekennzeichnet war die Zeit durch ein Vordringen allerdings damals noch vielfach mangelhafter Techniken. In der Literatur wurde aber vor einem Sieg der Technik über den Menschen gewarnt, eine Entmenschlichung des Menschen prophezeit. Diese Tendenzen wurden stark von den Denkern Ortega y Gasset und Martin Heidegger beeinflusst. Und was hört man heute: Die Computer werden zu eigenständigen, selbst denkenden, selbst entscheidenden Wesen, den Menschen beherrschende Monster. Keine Botschaft, die zu einem unbefangenen Umgang mit Computern einlädt.
- Es liegt aber jedenfalls an der Politik und der Bürokratie, die derzeit in beklemmender Weise sämtliche Lebensbereiche mit Vorschriften zudeckt, die die Auseinandersetzung mit neuen, zukunftsträchtigen Projekten behindern.
- Die Groteske: In vielen Betrieben wird die Digitalisierung weniger eingesetzt um neue Geschäftsfelder zu erschließen, aber intensiv genützt, um den Wust an Vorschriften besser verwalten zu können.
- Vor allem aber fehlt es an Geld. Die Erschließung neuer Techniken, die Umstellung der Betriebe, die Schulung der Mitarbeiter, all das kostet Geld, sehr viel Geld. Die Staaten, vor allem getrieben durch die Kosten der Renten, ziehen im Schnitt 40 Prozent und mehr der Wirtschaftsleistung über Steuern und Sozialabgaben ab. Dieser Faktor bestimmt die Finanzlage der Betriebe und der Privathaushalte in der EU. In den USA machen die Steuern und Abgaben etwa 26 Prozent aus, in der Schweiz 28 Prozent, in Japan 31 Prozent.
Die erschreckende Perspektive ab 2025: Das Armenhaus Europa
Für die nächsten Jahre zeichnet sich keine Änderung der Situation ab. Somit erfolgt unweigerlich eine immer höhere Belastung der Aktiven durch steigende Steuern und Sozialabgaben. Da nach dem Baby-Boom Jahrzehnte mit geringen Geburtsraten folgten, schrumpft in den nächsten Jahren auch die Zahl der Aktiven, die die Kosten der Staaten und der Renten finanzieren müssen. Auf der anderen Seite wird die wachsende Zahl der Rentner bei immer länger dauernden Rentenperioden mit Kürzungen der Leistungen konfrontiert sein. Die Gesamtbevölkerung muss also mit einer verringerten Kaufkraft leben, worunter naturgemäß die Wirtschaft insgesamt leiden wird, sodass auch die Leistungen aus der betrieblichen Altersvorsorge, die ohnehin europaweit nur wenige haben, sinken werden. Sind einmal die Vermögen der Baby-Boomer aufgebraucht und der aus dieser Quelle finanzierte Wirtschaftsimpuls verebbt, driftet Europa in die Armut.
Der Ausweg aus der Falle: Die richtigen Rezepte der Vergangenheit
Derzeit vermittelt die Politik den Eindruck, es gäbe keinen Ausweg aus der Falle: Man sei nun einmal in das Korsett der hohen Rentenkosten, der bereits hohen Abgaben und der hohen Schulden eingezwängt. Als einzige Hoffnung winkt scheinbar die unrealistische Perspektive, dass die Europäische Zentralbank weiter Milliarden zu niedrigsten Zinsen produziert und auf diese Weise die Staaten vor dem Ärgsten bewahrt.
Notwendig und Erfolg versprechend wäre eine Politik, die Europa in die Lage versetzt, mit einer umfassenden Investitionstätigkeit die Herausforderungen der Digitalisierung zu meistern, den Untergang vieler Firmen durch neue, wachsende Betriebe mehr als auszugleichen und ein größeres Aufkommen an Steuern und Sozialabgaben zu generieren. In dieser Situation sollte man sich an die guten und an die schlechten Rezepte der Vergangenheit erinnern.
- Derzeit dominieren Initiativen der EU, die an die erfolglose Planwirtschaft in Frankreich nach 1945 erinnern. Mit zentralen Förderstellen und Investitionsplänen soll Europa wettbewerbsfähig gemacht werden. Diese Tendenz rückt Europa in die Nähe der sowjetischen Planwirtschaft, deren katastrophale Ergebnisse nicht in Vergessenheit geraten dürfen. In Brüssel müssten dringend diese Konzepte vernichtet werden. Stattdessen nehmen die Pläne für immer neue Investitionsförderämter in der aktuellen Diskussion über das EU-Budget für die entscheidende Periode 2020 bis 2027 eine vorrangige Stelle ein.
- In volkwirtschaftlich kritischen Phasen hat sich vielfach das so genannte „Deficit spending“ bewährt: Der Staat nimmt hohe Defizite in Kauf, investiert selbst viel und fördert die Investitionstätigkeit der Unternehmen. Dieser Weg erscheint allerdings derzeit problematisch, da die Staaten Defizite dazu nützen, um die Renten zu finanzieren und die oft ineffiziente Bürokratie zu alimentieren, aber nicht um die Investitionstätigkeit zu forcieren. Defizite, die naturgemäß zusätzliche Schulden bedeuten, sind aber nur zu rechtfertigen, wenn die Mittel in Investitionen fließen.
- Somit sei an eine Methode erinnert, die insbesondere in Deutschland, Österreich und Japan nach 1945 sich als äußerst wirksam erwiesen hat. Den Unternehmungen wurden hohe Steuervorteile gewährt, wenn sie investiert haben, aber hohe Steuern aufgebürdet, wenn sie Gewinne nicht für Investitionen genützt haben. Dieses Zusammenspiel ergab eine Art „Investitionspeitsche“, die sich als äußerst wirksam erwies, da sie in allen Betrieben die Modernisierung vorantrieb und die Wettbewerbsfähigkeit stärkte.
- Die „Investitionspeitsche“ als steuerpolitisches Instrument rückte in den vergangenen Jahrzehnten in den Hintergrund, weil die Staaten möglichst alle Steuerquellen nützen.
- Auch wurde argumentiert, dass die Steuerbegünstigungen einen Eingriff in die unternehmerische Freiheit darstellen. Die Firmen sollen selbst entscheiden, ob sie investieren oder nicht. Die Systemkorrekturen liefen darauf hinaus, die Begünstigungen der Innenfinanzierung abzubauen und im Gegenzug die Gewinnsteuern zu senken.
- Auch wurde argumentiert, so könnten die Ausschüttungen höher ausfallen und zu einem lebendigeren Markt für Beteiligungskapital über Aktien und Gesellschaftsanteile beitragen.
Zurück an den Start des „Nachkriegswirtschaftswunders“
Ein Markt für Beteiligungskapital wäre, hätte er sich in Europa tatsächlich entwickelt, sehr wohl in der Lage, entscheidend zur die Modernisierung der Wirtschaft beizutragen. Das Geldvermögen der Europäer ist beträchtlich und umfasst Milliarden, die bei Banken liegen, aber nicht für die Refinanzierung von Krediten und sonstigen Anlagen benötigt werden. Diese Mittel sollten zumindest teilweise über Beteiligungen den Weg in die Firmen finden. In der Praxis werden die Milliarden vor allem verwendet, um die Renten aufzubessern und generell den Konsum zu finanzieren. Man muss leider zur Kenntnis nehmen, dass über den Aktienmarkt nach wie vor nur ein kleiner Teil der Volkswirtschaft finanziert wird und im dominierenden Bereich der Klein-und Mittelbetriebe die Außenfinanzierung über Beteiligungskapital eine geringe Rolle spielt.
Europa ist somit paradoxer Weise gut beraten, im Jahr 2018 geistig zurückzukehren an den Start des „Nachkriegswirtschaftswunders“: Die großzügige Förderung der Investitionstätigkeit über Steuererleichterungen ist die billigste Form der Wirtschaftsförderung, da jedes angeschaffte Wirtschaftsgut ein Steueraufkommen auslöst. Dieses System hat zudem den Vorteil, dass nicht irgendwelche, amtliche Förderstellen über Investitionen entscheiden, sondern die Unternehmensleiter dort investieren, wo sie hoffen in Zukunft erfolgreich zu sein.
Dass eine aktuelle Steuerpolitik nicht einfach die Regeln der fünfziger Jahre übernehmen kann, ergibt sich aus den veränderten Bedingungen. Konzentrierte man sich damals überwiegend auf Fabriken und Maschinen, so liegen heute die größten Kosten und Risiken in der Entwicklung der Programme. Die Berücksichtigung derartiger Bereiche durch die Finanz ist, wie sich seit langem an der Anerkennung von Forschungskosten zeigt, schwierig. Hier werden die Vertreter der Steuerbehörden sich der neuen Zeit stellen und akzeptieren müssen, dass ein Programm nicht aus Ziegel und Mörtel, sondern aus Algorithmen besteht, die entscheidend sind, aber nicht angegriffen werden können.
Die Rückkehr zur Förderung der Innenfinanzierung aus den Gewinnen wird unweigerlich auch eine Anhebung der Gewinnsteuern in den Vordergrund rücken. Diese Korrektur muss zu Protesten führen, wenn es nicht gelingt, den Betroffenen klar zu machen, dass sie über die Investitionsförderung im Endeffekt weniger Steuern zahlen und über die Erneuerung der Betriebe die Zukunft gewinnen.
Hilfreich wäre in diesem Zusammenhang eine bessere Datenqualität. Die Europäische Statistik weist aus, dass in der EU 3.000 Mrd. Euro investiert werden, also 20 Prozent des Gesamt-BIP der Union von rund 15.000 Mrd. Euro. 20 Prozent sind jedenfalls als Gesamtwert zu wenig. Zudem werden in diesem Wert Ausgaben der Unternehmen, der Staaten und die privaten Aufwendungen für den Wohnbau nicht klar erkennbar differenziert, sodass der vermutlich unterschiedliche Handlungsbedarf in den Bereichen nicht angesprochen werden kann.
Wunder darf man sich auch von einer konstruktiven Steuerpolitik nicht erwarten. Sie kann nur erfolgreich sein im Zusammenwirken mit einer Anhebung des Renteneintrittsalters, die wiederum europaweit nur möglich ist, wenn der Arbeitsmarkt entsprechend angepasst wird. Gelingt es allerdings über die Steuerpolitik die Investitionstätigkeit anzukurbeln, dann werden durch das folgende Wachstum die sich abzeichnenden Krisen entschärft.
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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.