Der spektakuläre Kursrückgang an der New Yorker Börse vergangene Woche wirkte im ersten Moment wie ein Crash. Bei näherer Analyse zeigt sich, dass der US-Finanzmarkt auf dem Weg aus einem Höhenflug zurück zur Normalität ist. In Europa setzt die Europäische Zentralbank den gefährlichen Versuch fort, die Realität durch billiges Geld zu ersticken. Die übrigen Wirtschaftsräume, insbesondere die Schwellenländer kommen unter Druck. Den Schlüssel bilden die US-Zinsen, die über 3 Prozent liegen und die Niedrigzinsperiode beenden. Die Anpassung an die neuen Bedingungen könnte ohne spektakuläre Verwerfungen verlaufen, wenn nicht der US-chinesische Handelskrieg eskaliert und die EU, ausgelöst vom BREXIT, in eine politische Krise gerät.
Dow Jones in weniger als zwei Jahren um 40 Prozent gestiegen
Der Dow Jones Industrial Average, der entscheidende Index der New Yorker Börse,
- startete am 10. Oktober noch mit einem Kurs von 26.441 Punkten.
- Nach turbulenten Stunden lag der Wert am 11. Oktober bei 25.051 Zählern. Das sah nach einer Katastrophe aus,
- bis Freitagnachmittag hatte sich der Kurs wieder auf 25.329 erholt und die Aufregung ebbte ab.
Aus mehreren Gründen: Der Dow Jones notierte zwischen 2015 und 2017 bei etwa 17.000 bis 18.000 Punkten. Somit kam es in den vergangenen Monaten zu einem Kursanstieg um mehr als 40 Prozent. Aus dieser Perspektive ist die Korrektur der vergangenen Woche nicht aufregend. Dass nach einer derartigen Hausse viele den Kursgewinn nützen um die Kassa zu füllen, gehört zum Börsenalltag.
10-Jahres-US-Anleihen fast bei 3,2 Prozent Rendite
Der spektakuläre Anstieg der vergangenen Jahre war durch die Niedrigzinspolitik der US-Notenbank Federal Reserve Board ausgelöst, die die Anleger zu den Aktien trieb und die Kurse in die Höhe schnellen ließ.
Seit längerem hebt die Fed die Zinsen wieder an, zuletzt im September heuer zum dritten Mal auf 2 bis 2,25 Prozent. Eine weitere Anhebung im Dezember ist möglich:
- Die Fed argumentiert: Im Gefolge der boomenden Konjunktur könnte die hohe Nachfrage die Preise zu weit in die Höhe treiben und da sollen höhere Zinsen für eine Beruhigung sorgen.
- Dieser währungspolitische Kurs hatte bereits entsprechende Folgen. In den vergangenen Wochen stieg das Zinsniveau, gemessen an den 10jährigen Staatsanleihen, deutlich an, durchstieß Anfang des Monats die 3-Prozent-Marke und näherte sich vergangene Woche 3,2 Prozent um am Wochenschluss bei 3,167 zu enden.
3,2 Prozent war für die Anleger das Signal, dass nun neu gerechnet werden müsse: Bei höheren Zinsen können Anleihen wieder als Alternative zu Aktien attraktiv sein. Und die Rechnung sieht so aus:
- Vergleicht man eine 3,2 prozentige Anleihe-Rendite mit dem Ertrag der Aktien, so bedeutet dies, dass bei einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 31, also wenn der Preis der Aktie dem 31fachen des Gewinns je Aktie entspricht, das gleiche Ergebnis von 3,2 Prozent als Aktienrendite zustande kommt.
- Allerdings betrug das durchschnittliche Kurs-Gewinn-Verhältnis der Dow-Jones-Aktien sogar bei 26.400 Punkten erst 22 und entsprach somit einer Rendite von 4,5 Prozent.
Ein KGV unter 20, somit eine Kapitalrendite von 5 Prozent, als Mass
Durch die Kurskorrektur der vergangenen Woche nähert sich das KGV wieder der Marke 20.
- Erfahrungsgemäß fühlen sich die in New York investierenden Anleger am wohlsten, wenn das KGV unter 20 bleibt, also im Schnitt eine Kapitalrendite von 5 Prozent in Relation zu den Aktienpreisen erwirtschaftet wird. Dies zeigt sich auch am Verlauf des zweiten großen Index, dem S&P 500.
- Somit ist damit zu rechnen, dass der Dow Jones in den kommenden Wochen und Monaten tendenziell weiter sinken wird und zwischen 24.000 und 25.000 pendeln dürfte. Eine stärkere Korrektur nach unten ist angesichts der derzeit hohen Gewinne der US-Firmen unwahrscheinlich.
- Bei 3,2 Prozent Anleiherendite kann man in Ruhe vergleichen: Aktien, die weniger verdienen oder besonders wenig ausschütten, kommen unter Druck, andere behalten ihre Attraktivität.
Der Zinsanstieg dürfte bei knapp 3,2 Prozent Pause machen
Nach dem rasanten Kursanstieg der vergangenen ein bis zwei Jahre findet der US-Finanzmarkt zu gewohnten Verhältnissen zurück. Die aktuelle Rendite von 3,167 Prozent für zehnjährige Staatsanleihen zeigt, dass der Markt nicht nur die Zinsanhebung der Fed vom September eingepreist hat, sondern auch schon eine mögliche, weitere Korrektur im Dezember vorwegnimmt. Vermutlich wird sich die Fed die Zinserhöhung im Dezember sparen, womit sie die Normalisierung des Marktes unterstützen und auch Präsident Donald Trump beruhigen würde, der über die bisherigen Zinserhöhungen wütend ist.
Trumps Ärger ist aus mehreren Gründen verständlich:
- Die jüngsten Umfragen zeigen extrem schlechte Werte, auch in den wirtschaftlich schwächeren Regionen Mittelamerikas, wo Trump bei den Wahlen besonders erfolgreich war. Der Ausgang der Mid-term-Elections im November ist also ungewiss, auch wenn bei einzelnen Wahlgängen in letzter Zeit Trump-Kandidaten erfolgreich waren.
- Höhere Zinsen könnten die kommerziellen und privaten Kreditnehmer überfordern, die derzeit boomende Wirtschaft bremsen und zu einem Anstieg der momentan extrem niedrigen Arbeitslosigkeit von weniger als 4 Prozent führen.
- Das aktuelle Wachstum ist nicht zuletzt durch die anfangs des Jahres erfolgte extreme Steuersenkung ausgelöst. Die Steuersenkung muss aber mit Milliarden an zusätzlichen Staatsschulden finanziert werden und da wird jeder Prozentpunkt mehr zur Gefahr.
- In der Fed ist man überzeugt, dass das nun erreichte Zinsniveau von den Schuldnern verkraftbar ist, den Staat nicht überfordert und der Volkswirtschaft nützt.
Der Versuch, aus Europa eine Insel der Seligen zu machen
Mit 3,2 Prozent ist der US-Anleihemarkt für alle Anleger weltweit attraktiv, da die entscheidenden Märkte in der Regel weit weniger bieten. In Europa stemmt sich allerdings die Europäische Zentralbank unter der Führung von Präsident Mario Draghi gegen diese letztlich durch das Marktverhalten der Anleger unvermeidliche Entwicklung.
- Im September hat die EZB beschlossen, die Zinsen bei 0 und 0,25 Prozent zu belassen und Guthaben von Banken bei der Zentralbank weiterhin mit einem Strafzins von -0,40 Prozent zu belegen.
- Man geht davon aus, dass das ohnehin überschaubare Kreditgeschäft der Banken mit Firmen und Privathaushalten aus den Kundeneinlagen finanziert wird und im Rahmen der niedrigen Zinsen funktionieren kann. Die Masse der Sparer begnügt sich mit niedrigen, die Inflation nicht abgeltenden Zinsen.
- Ein größerer Kapitalbedarf kommt nur von den Staaten, da greift aber die EZB ein:
- Bis September wurden monatlich 30 Mrd. Euro Anleihen von der EZB übernommen.
- Von Oktober bis Dezember werden monatlich 15 Mrd. gekauft.
- Dann soll zwar das Programm auslaufen, allerdings wird die EZB ihren Bestand an Anleihen behalten und die Tilgungen wieder in Staatsanleihen anlegen.
- Nachdem die gute Konjunktur gekoppelt mit den Sparprogrammen dafür sorgt, dass die Euro-Staaten derzeit nur ein Jahresdefizit von insgesamt etwa 100 Mrd. Euro haben, könnten die EU-Finanzminister aufatmen: Die EZB würde im Endeffekt weiter die Finanzierungssorgen beseitigen oder zumindest verringern, also wären die Staaten nicht gezwungen, mit hohen Zinsen um die Gunst der Anleger zu buhlen.
- Folglich müsste sich ein Kapitalabfluss in die USA zumindest vorerst nicht negativ auf die Finanzierung der Staaten auswirken.
- Die europäischen Aktien- und Immobilienmärkte würden weiterhin durch die niedrigen Zinsen für Anleger attraktiv bleiben und hohe Kurse und Preise aufweisen. Nicht zuletzt auch US-amerikanische Investoren anziehen.
- Die Unruhe, die angesichts der Verluste in New York vergangene Woche auch Europa erfasst hat, sollte sich also wieder legen.
Die EZB bemüht sich auf diese Weise, Europa zu einer Art „Insel der Seligen“ zu machen, die von Entwicklungen auf anderen Märkten unberührt bleibt. So will man die Finanzkrise, die durch die katastrophale Finanzlage der Staaten und der mit ihnen verbundenen Sozialsysteme droht, weiter hinausschieben. Offenbar hofft man auf ein Wunder, wodurch die Kosten der Bürokratie und der Renten von selbst verschwinden.
Die Ruhe, die die USA und Europa verbreiten, ist trügerisch
Aus den Entwicklungen in den USA und Europa lässt sich durchaus eine gewisse Ruhe ablesen. In den USA werden die 3,2 Prozent Zinsen zu einer verkraftbaren Normalisierung führen und in Europa wird die EZB-Gelddruckmaschine noch für einige Zeit funktionieren. Diese zwei Punkte bedeuten aber keineswegs, dass die Weltwirtschaft in ruhigen Bahnen verläuft.
- Die Schwellenländer befinden sich aktuell in einer Umbruchsphase, die von Brasilien über Russland bis zur Türkei und Indien für Krisen sorgt. Nach wie vor haben aber diese Länder ein besonders attraktives Wachstumspotenzial, das langfristig wirken wird.
- Der Anstieg der Zinsen belastet die Schwellenländer durch die Geldkosten, die sie zu tragen haben, und durch den Abfluss von Kapital, das den Weg zu höher verzinsten Anlagen findet, insbesondere in den USA. Die gegenwärtige Schwäche wird also durch den Zinsanstieg verschärft.
- Bisher haben die Auseinandersetzungen zwischen den USA und China nichts an der Situation geändert: Das Handelsbilanzdefizit zugunsten Chinas und zulasten der USA wächst weiter. Kommt es aber, wie angedroht, zu drastischen Maßnahmen, so würden beide Volkswirtschaften leiden, somit die Weltwirtschaft belasten und die aus dem Zinsenanstieg resultierenden Probleme vergrößern.
- Die Daten über die Handels- und sonstigen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Großbritannien und der EU zeigen, dass der BREXIT keine dramatischen Folgen haben müsste. Aus den Verträgen mit Kanada, der Schweiz und Norwegen lassen sich ausreichend Lösungen ableiten.
- Allerdings entwickelt sich das Thema zu einem extrem emotionalen und politischen Problem:
- Die Anhänger der EU empfinden den BREXIT als Verrat.
- Allerdings agieren die verbleibenden 27 Staaten nicht als Union. So mancher Politiker meint, man könnte den BREXIT zum Anlass nehmen und die ohnehin nicht extrem weit gediehene, europäische Integration zugunsten der Nationalstaaten reduzieren.
- Hier droht der „Insel der Seligen“, die die EZB gerne inszenieren möchte, eine Zerreißprobe,
Fazit: Die Fed wäre gut beraten, in den nächsten Monaten keine weiteren Zinserhöhungen vorzunehmen und zu warten, bis sich die Weltwirtschaft, von den Kreditnehmern in den USA über die Schuldner in den Schwellenländern und den mehr oder weniger Betroffenen in den anderen Wirtschaftsräumen an die neuen Verhältnisse gewöhnt haben. 3,2 Prozent scheint kein hohes Zinsniveau zu sein, gegen 0,5 Prozent bedeutet die neue Realität aber eine Steigerung auf das 6fache.
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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.