Das Gerangel rund um den „Deal“, den die britische Premierministerin Theresa May mit der EU vereinbart hat, hält derzeit ganz Europa in Atem. Dabei handelt es sich bei diesem Übereinkommen, das die Bedingungen für den Austritt Großbritanniens aus der Gemeinschaft klären soll, um ein inhaltsarmes Papier. Die Weigerung der Mehrheit der britischen Abgeordneten, den Deal zu akzeptieren, wäre daher sehr verständlich. Die Begleitumstände im Parlament in London legen aber die Vermutung nahe, es würde eine innenpolitische Schlammschlacht stattfinden und weniger ein ernsthaftes Ringen um die Zukunft des Vereinigten Königreichs. In Brüssel wird der „Deal“ als ultimative Lösung dargestellt, die nicht korrigiert werden könne. Oder vielleicht doch?
Großbritannien will einen Deal, nur nicht den von May präsentierten
Wie es jetzt weitergehen soll, ist völlig unklar. Großbritannien möchte offenbar weiterhin die EU verlassen, da ein neuerliches Referendum über den BREXIT vom Parlament abgelehnt wurde. Man will aber einen Deal, nur nicht den von May ausgehandelten. Aber May ist weiterhin zuständig und will über ihren Deal ein drittes Mal abstimmen lassen. Also kein anderer Deal? Eine Verschiebung des für den 29. März vorgesehenen Austritts scheint schon unvermeidlich. Vor den EU-Wahlen im Mai? Oder doch erst später, da würden die Briten an der kommenden EU-Wahl teilnehmen. Einer Verschiebung müssten die anderen 27 EU-Mitglieder zustimmen. Also Chaos pur. Und wofür?
Der „Deal“ enthält gravierende Nachteile für Großbritannien
Der „Deal“ ist aus mehreren Gründen für Großbritannien inakzeptabel und es ist daher unverständlich, dass Theresa May für dieses Abkommen kämpft. Angesichts der Umstände könnte man fast meinen, May will eigentlich den BREXIT nicht, was auch ihrer ursprünglichen Haltung entsprechen würde:
- Im Wesentlichen würde in dieser Übergangsperiode alles bleiben wie bisher, nur dass die Briten nicht mehr im EU-Parlament, in der EU-Kommission und im EU-Rat vertreten wären.
- Geplant ist, dass in den kommenden eineinhalb Jahren bis Ende 2020 alle Fragen geklärt werden, die in den schon seit zwei Jahren laufenden Verhandlungen nicht beantwortet wurden. Diese Perspektive ist unrealistisch, nicht zuletzt angesichts des bekannt langsamen Tempos von EU-Entscheidungen.
- Somit besteht die Wahrscheinlichkeit, dass Ende 2020 kein brauchbarer Vertrag vorliegen dürfte und somit nur eine Verlängerung der aktuellen, unbefriedigenden Vereinbarung beschlossen werden könnte. Großbritannien würde für längere Zeit zu einem EU-Mitglied zweiten Rangs.
Die irische Frage kann nicht in Brüssel gelöst werden
Zum großen Problem aufgewertet wurde die irische Frage:
- Die Republik Irland bleibt in der EU, Nordirland als Region des Vereinigten Königreichs tritt aus. Also könnten die Spannungen zwischen den beiden Teilen Irlands wieder aufbrechen.
- Ohne Zweifel ist dieses Thema gravierend. Die lange von Terroranschlägen begleiteten Auseinandersetzungen ruhen seit dem 1998 geschlossenen so genannten „Karfreitagsabkommen“ und nun wird ein neuerliches Aufflammen der blutigen Konfrontation befürchtet.
- Die Erneuerung des seit Jahrhunderten andauernden Konflikts dürfte nur durch eine Vereinbarung zwischen der britischen und der irischen Regierung zu verhindern sein. Zu erwarten, dass in Brüssel, vom grünen Tisch aus, eine haltbare Lösung gefunden werden kann, ist illusorisch.
- Dass alle Iren auf den Pässen einen Stempel bekommen, der den Bürgern von Nord und Süd den ungehinderten Verkehr auf der Insel sichert - das wäre offenbar viel zu einfach. Auch wird da gleich ein Missbrauch befürchtet: Es könnten doch Bürger aus anderen Staaten, je nach Vorliebe, um die Staatsbürgerschaft in Irland oder im Norden ansuchen.
Abseits von der Innenpolitik zeigt der Rechenstift Londons interessante Position
Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen derzeit die heftigen Auseinandersetzungen im britischen Parlament, die stark durch die innenpolitische Stimmung geprägt sind: Die Opposition möchte Neuwahlen erreichen und hofft Theresa May zu stürzen. In Mays Partei, den konservativen Tories, gibt es keine einheitliche Linie. Manche wollen einen BREXIT ohne Vereinbarung mit der EU, einige sind für einen anderen Deal. Tatsächlich könnten die Bedingungen für Großbritannien besser aussehen.
- Wenn Großbritannien ohne Abkommen die EU verlässt, dann würde sich das Land die rund 14 Mrd. Euro ersparen, die jährlich nach Brüssel zur Finanzierung des EU-Budgets gezahlt werden. Im Deal ist vorgesehen, dass London noch einige Zeit das EU-Budget mitfinanzieren muss.
- Außerdem könnte London die Zolleinnahmen behalten, die derzeit von Importen aus Nicht-EU-Ländern kassiert und nach Brüssel abgeliefert werden. Diese Beträge bewegen sich in der Größenordnung von 3,5 Mrd. Euro jährlich. Mit dem Deal bliebe Großbritannien vorerst Teil der Zollunion.
- Kommt kein Freihandel zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Kontinent zustande, dann wären auch die Importe aus den anderen EU-Ländern zu verzollen. Dadurch würden weitere etwa 5 Mrd. Euro in die britische Staatskasse fließen.
- Ein harter BREXIT bedeutet also für Großbritannien zusätzliche Einnahmen von mehr als 20 Mrd. Euro im Jahr.
- Die gravierende Gegenrechnung ergibt sich aus der Konsequenz, dass dann auch Kontinentaleuropa Zölle von Lieferungen aus dem Vereinigten Königteich kassieren würde. Schon bisher leidet das Land unter einem enormen Handelsbilanzdefizit, sodass jede zusätzliche Belastung vermieden werden sollte.
- Allerdings ergibt das Handelsdefizit umgekehrt einen Überschuss von 100 Mrd. Euro im Jahr zugunsten der Kontinentaleuropäer, deren Interesse an einem zollfreien Handel mit dem Vereinigten Königreich daher besonders groß ist.
Die EU-Vertreter vernachlässigen die Interessen der Mitgliedstaaten
Die EU-Sprecher benehmen sich, als ob sie Vertreter einer gefestigten Großmacht wären, die von einem unbedeutenden Land unverständlicher Weise verlassen wird. Die Interessen der verbleibenden Mitgliedstaaten werden vernachlässigt:
- Tatsächlich ist das Vereinigte Königsreich einer der entscheidenden Absatzmärkte für die kontinentaleuropäischen Exporteure, die ein dauerhaftes über 2020 hinausreichendes Freihandelsabkommen mit Großbritannien brauchen.
- Die City von London ist die vermutlich größte Steuer-Oase der Welt, wobei die enge Verbindung zu den Inseln der britischen Überseegebiete, die kaum Steuern kassieren, eine entscheidende Rolle spielt. Angesichts der ständigen Bemühungen der EU-Staaten um zusätzliche Steuereinnahmen müsste die Rolle der City geklärt werden. Das war schon bisher nicht möglich, nach dem BREXIT hätte Brüssel noch weniger Einflussmöglichkeiten.
Beide Themen sind im „Deal“ nicht geklärt, aber Detailfragen werden lang und breit diskutiert. Die EU wird angesichts der vielen Problemfelder unweigerlich in Zukunft mit größten Herausforderungen konfrontiert sein. Wie der BREXIT gemanagt wird, lässt nichts Gutes erwarten, eher hat man den Eindruck Zeuge einer Generalprobe für den Untergang der EU zu werden. Wie leider oft in der EU rücken die wesentlichen Themen in den Hintergrund.
Nach den Ursachen für den BREXIT wird nicht gefragt
Vor allem wird in Brüssel nicht die entscheidende Frage gestellt: Was hat dazu geführt, dass eine Mehrheit der Briten für den Austritt aus der EU gestimmt hat? In der Diskussion rund um BREXIT wurde oft argumentiert, die Briten würden sich vor eine Überfremdung fürchten und insbesondere die große Zahl ausländischer Gastarbeiter ablehnen. Dass dieses Thema allein zum BREXIT geführt hätte, ist unwahrscheinlich. Die Gründe sind vielschichtig und müssten die Spitzen der EU zu einer grundlegenden Neuorientierung veranlassen.
- Im Vordergrund und für jeden erkennbar steht die Flut an oft sinnlosen Regularien, die in alle Lebensbereiche eingreifen. Dies ist für alle EU-Bürger unerträglich, sorgt aber in dem traditionell liberalen Großbritannien für besonderen Unmut.
- Weniger offenkundig, aber fundamental wirksam ist das 2009 mit dem Lissabonner Vertrag installierte Rechtswesen: Das EU-Parlament beschließt nur noch vage „Prinzipien“ und die EU-Kommission sorgt im Rahmen von „delegierten Verordnungen“ für die „Details“, also für die tatsächlichen Bestimmungen. Die Kommission ist auch zuständig für die Durchsetzung und die bei Missachtung zu verhängenden Strafen. Die Verwaltungsbehörde EU-Kommission entwickelt sich immer mehr zu einem Machtzentrum, das an Diktaturen gemahnt.
- Das ist für das angelsächsische Rechtswesen unerträglich. Deswegen ist die Rückführung der Rechtsfindung nach London ein entscheidendes Anliegen des BREXIT.
Die Wurzel des Übels liegt in Brüssel, nicht in London
Die Macht und vor allem die Machtausübung durch die Kommission trägt auch entscheidend zu Reaktionen aus anderen EU-Staaten, insbesondere aus Ungarn und Polen bei: Diese Länder haben bereits die Verfassungen geändert und dabei unter Verletzung demokratischer Grundprinzipien die Basis für nationale, autoritäre Regierungen geschaffen. Dementsprechend wurden auch korrekter Weise Verfahren gegen die beiden Staaten angestoßen, um sie zu Wiederherstellung von Verfassungen auf der Basis des EU-Rechts herzustellen.
Allerdings muss man die Frage stellen: Wer sorgt dafür, dass das EU-Parlament wieder zu einem tatsächlichen Gesetzgeber wird und die EU-Kommission als Verwaltungsinstanz sich mit der Umsetzung der Gesetze begnügt? Es gibt keine Stelle, die ein Verfahren gegen das Parlament und die Kommission einleiten kann. Die beiden Institutionen müssten selbst zur Demokratie, zur Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung und Verwaltung zurückfinden und in ihrer besonderen Rolle im Rahmen einer Staatengemeinschaft die Freiräume der Mitgliedstaaten respektieren. Wenn dies nicht rasch geschieht, dann ist BREXIT der Auftakt für das Ende der EU und somit das Ende des europäischen Friedensprojekts.
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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehendsten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift "Der Volkswirt" sowie Moderator beim ORF.