Wie die Deutschen Wirtschaftsnachrichten bereits am 7. Mai 2019 angekündigt hatten, hat der ehemalige Finanzminister der AKP, Ali Babacan, die Regierungspartei verlassen, um eine neue Partei zu gründen. Babacan und der ehemalige türkische Präsident Abdullah Gül möchte eine Partei ins Leben rufen, die die Opposition gegen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan unter einem Dach vereint. “Unter den Bedingungen, in denen wir uns befinden, braucht die Türkei eine brandneue Zukunftsvision”, zitiert die Financial Times Babacan.
Ein Berater von Babacan sagte Ende Juni 2019 unter der Bedingung der Anonymität, dass die neue Partei die Politik der Regierungspartei AKP ihrer Anfangsjahre umsetzen werde. Es sei möglich, dass sich einige Parlamentarier der AKP-Fraktion loslösen, um eine eigene Fraktion zu gründen, die dann den Kern der neuen Partei darstellen würde, zitiert der türkischsprachige Dienst der BBC den Berater. Um eine eigene Fraktion im Parlament zu gründen, werden mindestens 20 Abgeordnete benötigt.
Hochrangige AKP-Politiker teilten dem Journalisten İsmet Özçelik von der Zeitung Aydınlık mit, warum diverse Politiker der Regierungspartei sich nach einer Alternative zur aktuellen Politik umschauen. Sie hätten dem Journalisten gebeichtet, dass die politische Rhetorik sich ändern müsse. Die Gesellschaft habe genug von der aktuellen offensiven Rhetorik. Die Bürger hätten kein Interesse an einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft und würden kritisieren, dass die öffentlichen Finanzen willkürlich genutzt werden.
Insbesondere im Zusammenhang mit dem luxuriösen Leben einiger Bürokraten seien die Bürger unzufrieden, zumal die Armut im Land steigt. Bürokraten, die keine Verdienste vorweisen können, aber trotzdem Karriere machen, würden zur Politikverdrossenheit führen. Mehrere Minister seien in den Augen der Bürger unfähig und die Bürger hätten kein Interesse daran, dass im neuen Präsidialsystem das Parlament ausgehebelt wird.
Ein Insider der türkisch-amerikanischen Beziehungen sagte Özçelik unter der Bedingung der Anonymität, dass die USA ein Interesse daran hätten, Erdogan und die AKP zu schwächen, zumal der türkische Präsident außenpolitisch eine unabhängige Linie vertreten möchte. “Ich denke, dass der Plan folgendermaßen ablaufen soll. Die neue Partei wird nicht die AKP des Jahres 2002 sein. Das eigentliche Ziel ist es, die AKP zu verkleinern. Es würde sogar ausreichen, wenn die AKP auf zehn Prozent abrutscht. Stattdessen soll eine Koalition aus der CHP (Sozialdemokraten, Anm. d. Red.), der IYI Partei (Mitte-Rechts-Partei, Anm. d. Red.) und der HDP (der politische Arm der PKK, Anm. d. Red.) entstehen. Doch wir befinden uns hier in der Türkei. Hier kann sich alles sehr schnell verändern. Man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben. Übrigens befinden sich die USA selbst in einer schwierigen Lage”, so der Insider.
Yılmaz Özdil von der Zeitung Sözcü führt sarkastisch aus: “Für unseren ,Staatsmann des Jahrhunderts’ hat die Talfahrt begonnen. Egal, wohin er sich dreht, sieht er bekannte Gesichter, die seine Zähne knirschen lassen.”
PKK unterstützt neue Partei
Zuvor hatte der aktuelle Chef der PKK-Chef im irakischen Kandil-Gebirge, Cemil Bayık, angekündigt, dass mit der Wahl des CHP-Kandidaten İmamoğlu als Oberbürgermeister Istanbuls das Ende der Regierungspartei AKP eingeläutet wird. Bayık sagte dem PKK-nahen Blatt Yeni Özgür Politika: “Wenn der ehrenwerte İmamoğlu die Wahl in Istanbul gewinnen sollte, wird dies nachhaltige Veränderungen in der politischen Landschaft nach sich ziehen (...) Die 17-jährige Regierungszeit der AKP würde zu Ende gehen. Das ist auf jeden Fall so”, sagte Bayık vor der Oberbürgermeister-Wahl.
Die PKK wird in den USA und in der EU als Terrororganisation eingestuft. Trotzdem hat Bayık am 3. Juli 2019 einen Gastbeitrag bei der Washington Post veröffentlicht. Die Washington Post gehört Amazon-Chef Jeff Bezos. Bayık führt in dem Gastbeitrag aus: “Die Welt hat ein Interesse daran, unsere Ziele zu unterstützen. Die heutige Krise in der Türkei ist im wesentlichen eine politische”, so der PKK-Chef.
Durch den Verlust von Istanbul an die Opposition fühlen sich offenbar nicht nur Karrieristen innerhalb der Regierungspartei AKP, die über Jahre hinweg maßgeblich an der Inhaftierung von Kritikern beteiligt gewesen sind, ermutigt, das “sinkende Schiff” zu verlassen, sondern auch kurdische Nationalisten, die ein Interesse an der Spaltung der Türkei haben. Sie alle haben ihre partikularen Interessen, die sie durchsetzen wollen. Doch Erdogan will offenbar nicht aufgeben.
Auf Nachfrage von Reportern, was er denn von dem Vorstoß seiner ehemaligen Weggefährten, wonach eine neue Partei gegründet werden soll, hält, sagte er: “Sie werden alle umkippen wie leere Säcke.”