Am Mittwoch treffen in Berlin die Spitzen der EU zusammen, um wieder einmal über die ziemlich verfahrene Lage in den Euro-Staaten zu beraten. Es geht um die Jugendarbeitslosigkeit.
Vordergründig.
Tatsächlich geht es, wieder einmal, um das Überleben der EU.
Die Staatsschuldenkrise, die den alten Kontinent in eine tiefe Rezession treibt, wird immer greifbarer.
Lösungen werden immer dringlicher.
Angela Merkel ist nicht naiv: Sie weiß, dass sich die europäische Staatsschuldenkrise nicht einfach in Luft auflösen wird. Sie weiß, dass die Krise auf eine Entscheidung zusteuert. Daher hat sich Merkel in den vergangenen Wochen immer auffälliger zurückgehalten: Sie spielt auf Zeit, vertröstet, legt sich noch weniger fest als zu normalen Zeiten.
Wenn sie von der EU spricht, klingt das wie eine Pflichtübung.
Merkel will sich nicht festlegen, weil sie weiß: Sie wird - eher früher als später - zwischen zwei Alternativen zu entscheiden haben.
Entweder kommt es zu einer vollständigen Übernahme der europäischen Staatsschulden durch die Euro-Staaten. Dies würde bedeuten: Die deutschen Sparer werden in einem noch viel stärkeren Maß enteignet, als dies bereits heute durch die niedrigen Zinsen und die hohen Schulden auch in Deutschland der Fall ist. Die EU setzt bereits die ersten Maßnahmen, die eine solche Schulden-Union einleiten sollen (hier).
Oder Deutschland tritt aus dem Euro aus, wie es der Star-Investor George Soros geraten hat.
Anfang Juni hat der Bundesrat die neuen Renten beschlossen. Es kommt dabei erstmals zu einer deutlich spürbaren Rentenkürzung in den ehemals westdeutschen Bundesländern. Dort werden die Renten nur um 0,25 Prozent steigen. Die aktuelle Inflation von 2 Prozent beschert der größten und wichtigsten Wählergruppe reale Verluste. Für die gesetzliche Rentenversicherung, die Alterssicherung der Landwirte und die Unfallversicherungen bedeutet dies im Jahr 2014 Mehraufwendungen von 2,4 Milliarden Euro jährlich.
Angesichts dieser Zahlen wäre die Übernahme von Schulden aus den europäischen Krisenstaaten politischer Selbstmord. Das weiß Angela Merkel. Und das will sie nicht riskieren.
George Soros hat bei seinem Frankfurt-Besuch im April deutlich gemacht, dass – soll die Euro-Zone überleben – ein politischer Selbstmord Deutschlands unumgänglich sei. Nur mit Euro-Bonds könnten Länder wie Italien oder Spanien die sich abzeichnende, lang anhaltende Rezession in Deutschland überleben.
Deutschland muss sich also opfern, wenn der Euro überleben soll.
Oder aber es muss aus dem Euro austreten.
In jedem Fall ist es an Deutschland zu entscheiden, wie es in Europa weitergeht.
Genauer gesagt an Angela Merkel.
Denn Deutschland macht, was Merkel will. Die SPD ist in der Euro-Frage planlos wie in keiner anderen Problematik. Die Grünen haben sich mit dem Thema nicht beschäftigt, weil sie glauben, dass man mit höheren Steuern ohnehin jedes Problem lösen kann. Die FDP kämpft ums eigene Überleben und macht daher, was die jeweilige Regierung ihr befiehlt – sofern sie überhaupt in den Bundestag kommt. Und der Bundestag selbst ist in der Frage der Euro-Rettung zu einer kritiklosen und uninformierten Abstimmungsmaschine verkommen.
Angela Merkel lässt sich von drei einfachen politischen Prinzipien leiten: Alles ist machbar, nichts ist für die Ewigkeit und ohne Macht herrscht Chaos.
Und nach diesen Prinzipien wird sie auch die Entscheidung über die EU treffen.
Der Ausgang ist, anders als manche denken, ungewiss.
Merkel hat in den vergangenen Monaten einige auffällige Initiativen gestartet: Sie hat mit dem französischen Staatspräsidenten François Hollande vereinbart, dass der ESM für nationale Bankenrettungen auch ohne harte Sparauflagen in Anspruch genommen werden darf.
Sie hat außerdem Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble beauftragt, über die staatliche KfW-Förderbank Kredite an Spanien zu vergeben. Auch Portugal und Griechenland sollen bedient werden. Zugleich hat Schäuble in Merkels Auftrag die EU kritisiert: Die Bürokraten in Brüssel arbeiteten zu langsam, sagte Schäuble. So könne man die EU nicht retten.
Die Bundesregierung halt also die Initiative übernommen, wenngleich die Aktivitäten eher symbolischen Charakter haben. Denn die Summen, um die es geht, sind vergleichsweise bescheiden und reichen bei Weitem nicht aus, um irgendein Land wirklich zu „retten“.
Brüssel schäumt dennoch: EU-Währungskommissar Olli Rehn sagte, es könne nicht sein, dass die EU plötzlich nur noch aus Frankreich und Deutschland bestehe. Er drängt weiter auf die rasche Gründung der Bankenunion. Doch Merkel blockt ab und verkündet, eine Bankenunion sei sinnvoll, dürfe aber nicht überhastet eingeführt werden. Die Kanzlerin bekommt hier vor allem Druck von den Sparkassen, zu denen auch die Landesbanken gehören. Die Sparkassen lehnen in erster Linie eine gemeinsame Einlagensicherung ab, weil sie fürchten, dass damit die deutschen Spareinlagen ohne Rücksicht auf Verluste zur Rettung von europäischen Pleite-Banken herangezogen werden.
Es steht also viel auf dem Spiel. Eigentlich geht es um alles: Es geht um die Frage, ob die EU überleben soll oder nicht.
Und diese Frage wird nicht in Brüssel entschieden. Sie wird nicht einmal von Mario Draghi entschieden, der mit der EZB noch bis vor kurzem bereit war, alles zu unternehmen, um den Euro zu retten. Stets bekam er Widerspruch von Bundesbank-Chef Jens Weidmann. Weidmann agiert mitnichten im luftleeren Raum, als isolierter Kämpfer, wie gerne behauptet wird. Weidmann war von Angela Merkel im Jahr 2006 zum Leiter der Abteilung IV für Wirtschafts- und Finanzpolitik im Bundeskanzleramt bestellt worden. Er wirkte als Stimme Merkels bei den wichtigen G-20 und G-8-Treffen der wichtigsten Wirtschaftsnationen.
Weidmann warnt seit geraumer Zeit in immer deutlicheren Worten vor einem Crash in Europa, auch wenn er das nicht so nennt.
Weidmann spricht nicht für sich selbst oder für die Bundesbank.
Weidmann sagt, was Angela Merkel denkt.
Und daraus kann man folgern, dass Merkel auf Distanz geht zur EU.
Vorsichtig zwar, gewissermaßen auf Sicht.
Aber zugleich ist doch deutlich zu erkennen: Die Euphorie ist weg.
Die Bundeskanzlerin soll, so wird überliefert, sehr erschrocken gewesen sein, als sie vor einigen Monaten von den Massendemonstrationen in Spanien, Frankreich, Griechenland und Portugal erfuhr. Merkel zögerte mit einer Griechenland-Reise, weil sie Angst hatte: Sie soll gefragt haben, ob sie sich denn dort überhaupt hintrauen könne. Bei ihrem jüngsten Italien-Urlaub hat sie symbolträchtig ihren ehemaligen Kellner zu Hause besucht, als sie erfuhr, dass er wegen der schlechten Wirtschaftslage entlassen worden war.
Angela Merkel hat Angst vor Demonstrationen, mit denen die verlorene Generation Europas ihre Wut gegen die Politik zum Ausdruck bringen könnte.
Schon heute kann Merkel kaum hinsehen, wenn in Europa demonstriert wird.
Die Demonstranten auf den Straßen erinnern Merkel an die Anfänge ihrer politischen Laufbahn. Dabei hat sie als junge Wissenschaftlerin in der DDR allerdings nie selbst an großen Demonstrationen teilgenommen. Als Politbüro-Mitglied Günter Schabowski irrtümlich die Öffnung der Mauer bekanntgab, ging sie erst einmal unter die Dusche. Später arbeitete sie beim „Demokratischen Aufbruch“ mit – einer Bewegung, die erst entstand, als das Ende der DDR schon unabwendbar geworden war.
Merkel wurde in einer Zeit politisiert, in der sie unmittelbar miterleben konnte, wie ein Regime vom Volk zum Teufel gejagt wurde. Sie hat gesehen, wie Machtpositionen verschwanden, weil die Leute auf der Straße „Wir sind das Volk!“ skandierten. An diese Zeit wird sie zurückdenken, wenn sie heute die Fernsehbilder aus Rom, Madrid oder Lissabon sieht. Auch dort rufen die Leute „Wir sind das Volk!“, wenngleich mit anderen Worten und in anderen Sprachen.
Angela Merkel fürchtet ihre politischen Gegner nicht. Die meisten hat sie brillant aus dem Weg geräumt, vor allem mögliche Konkurrenten aus der eigenen Partei. Was die Kanzlerin wirklich fürchtet, sind „die Menschen“: das Volk, die Bürger. Sie betont oft, dass man „für die Menschen“ doch dieses oder jenes tun müsse. Als Pressereferentin beim DA und später beim letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière soll sie sich dadurch ausgezeichnet haben, „den Menschen“ zu vermitteln, was die Partei will. Merkel ist keine leutselige Politikerin. Die Biografen Ralf Georg Reuth und Günther Lachmann haben Merkel in ihrem neuen Buch als verschlossen und zurückhaltend beschrieben. In der DDR sei sie zunächst für den „Dritten Weg“ gewesen, also die Existenz zweier deutscher Staaten. Erst als klar wurde, dass „die Menschen“ auf der Straße nur ein Volk in einem gemeinsamen Staat sein wollten, hat sie ihren Kurs geändert.
Merkel kämpft nicht für politische Ideen. Sie lebt im jeweiligen System und passt sich diesem perfekt an.
Reuth und Lachmann haben ihr Buch über die Wende-Merkel „Das erste Leben der Angela M.“ genannt.
Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland hat sie ein „zweites Leben“ gelebt, in dem sie sich schnell auf die neuen Gegebenheiten eingestellt hat: Hatte sie wenige Jahre zuvor noch für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz geworben, war sie nun Verfechterin einer „sozialen Marktwirtschaft“, in der sie sich gerne dem Rat der Banken anvertraute. Der Chef von Goldman Sachs, Alexander Dibelius, gilt als einer ihrer engsten Berater. In Investmentbank-Kreisen lästert man: Was Dibelius Merkel auch sage, sie glaube ihm. Auch wenn es heute dies und morgen das sei.
Solch ein flexibles Denken gefällt Angela Merkel. Denn sie weiß, dass kein System für die Ewigkeit ist. Dass man es nur richtig machen muss, damit alles plan- und machbar bleibt. Und dass ohne Macht Chaos herrscht.
Die Macht kann von ganz unterschiedlichen Gruppen ausgeübt werden: Mal ist es die FDJ, deren begeistertes Mitglied Merkel war, dann ist es Michael Gorbatschow und seine Perestroika, an der sie zunehmend Gefallen fand, als sich abzeichnete, dass Gorbatschow länger leben würde als Honecker. Jetzt üben die Banken die Macht aus – auch das ist ihr recht.
Die entscheidende Frage, ob Merkel Deutschland in die Schuldenunion oder in den Euro-Austritt führen wird, ist: Hängt Angela Merkels Herz an der EU als einem politischen System? Wird sie für dieses System kämpfen?
Ostdeutsche, die Merkels Werdegang aus der Nähe verfolgt haben, sagen: Die EU war aus DDR-Sicht immer nur ein bürokratischer Apparat. Zu Brüssel existieren keinerlei ideologische oder gar emotionale Beziehungen. Merkel sei immer der Überzeugung gewesen, dass die Sowjetunion das überlegene System gewesen sei. Ein Journalist eines Nachrichtenmagazins, der, wie die meisten anderen, die sich kritisch zur Kanzlerin äußern, namentlich nicht genannt werden will, sagt: Merkel habe immer die Landkarte von Europa vor Augen gehabt. Da waren die Sowjetunion und die Ostblockstaaten eine riesige rote Fläche. Die rote Fläche vermittelte Macht. Daher habe Merkel an den Sieg des Kommunismus geglaubt.
Als die Niederlage sich abzeichnete, machte Merkel Charles Darwin alle Ehre: Sie demonstrierte, dass die These mit dem Überleben der Anpassungsfähigsten keine reine Theorie ist.
Merkel hält an einem System jedoch nur solange fest, solange es auch Aussicht auf Erfolg hat. Wenn Angela Merkel in ein Fußballstadion geht, jubelt sie mit den Siegern. Oft weiß sie nicht, wer auf dem Platz steht. Aber sie weiß am Ende, wer gewonnen hat.
Daher dürfte die immer schroffere Art, mit der sie der Laienspieltruppe aus Brüssel begegnet, keine kurzfristige Verstimmung sein. Ihr Ausspruch „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ belegt, dass sie auch die gemeinsame Währung nicht als eine innere Notwendigkeit begreift, sondern als ein zufälliges System. Sie wird für dieses System nur solange kämpfen, solange sie glaubt, dass es sich am Ende durchsetzen wird.
Daher nimmt sie auch mit sicherem Instinkt jene Zeichen wahr, die auf ein Systemende hindeuten könnten. Die Demonstrationen, die Proteste, eine Volkswut – das fürchtet sie am meisten und kann es mit ihrer DDR-Wendeerfahrung als sicheres Indiz dafür deuten, dass das Ende nah ist. Aber auch andere, kleine Bewegungen registriert sie: Die neue, eurokritische Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) etwa.
Die AfD spielt Merkel in die Karten. Die Bundeskanzlerin beschäftigt sich lieber mit einer kleinen Partei aus ehrenwerten Professoren als mit hunderttausend Demonstranten vor dem Kanzleramt. Merkels erste Partei aus der DDR, der Demokratische Aufbruch, war noch kleiner als die AfD. Sie erreichte bei der ersten freien Wahl zur Volkskammer 0,9 Prozent. Merkel weiß, dass eine kleine Partei dennoch viel bewegen kann. Die Wahlbewegung der letzten Wahl in der DDR hieß originellerweise „Allianz für Deutschland“. Der DA hatte sich mit der Ost-CDU und der Deutschen Sozialen Union zusammengeschlossen. Abgekürzt hätte auch diese Gruppe „AfD“ geheißen.
Die ersten Absetzbewegungen von Merkel deuten darauf hin, dass sie auf jeden Fall eine Revolution vermeiden will. Sie hat erlebt, dass Revolutionen tatsächliche Systeme ändern können. Daher will sie einen geordneten Übergang. Auch beim Übergang der DDR zu BRD hatte Merkel immer darauf gedrungen, dass die Sache geordnet über die Bühne geht. Das ist vor allem aus Sicht der Herrschenden entscheidend: Wenn Macht verlorengeht, folgt Chaos. Und dann gehen vor allem die Posten derjenigen verloren, die während des Chaos gerade an der Macht sind.
Angela Merkel wird so lange mit einer Entscheidung über die Zukunft der EU warten, bis die Fakten einen Entschluss erzwingen. Sie hat ein Faible für das Alternativlose. Denn es nimmt ihr die Entscheidung ab.
Sie kann dann das tun, was sie am besten kann: Sich auf neue Verhältnisse einstellen und an die Spitze der Bewegung stellen – auch wenn die Bewegung das Gegenteil dessen will, was Merkel jahrelang für richtig gehalten hat.
Das ist Politik, wie Merkel sie versteht.
Und in dieser Form der Politik ist sie allen in Europa haushoch überlegen.
Ob diese Politik am Ende zum Glück oder zum Unglück der EU führt, ist dann nicht mehr ihr Problem.
Entscheidend ist für sie nur, dass das Chaos verhindert wird. Ob Deutschland in der EU bleibt oder aus dem Euro austritt, macht für sie keinen Unterschied.
Sie kann in jedem System überleben.
Das hat sie zweimal bewiesen.
Warum sollte es daher nicht auch ein „drittes Leben der Angela M.“ geben?