Wohl über kaum eine Gruppe von Unternehmen wird so viel diskutiert wie über den deutschen Mittelstand – und zwar nicht zuhause in Deutschland, sondern weltweit. „Ein Aushängeschild Deutschlands“, sagte beispielsweise Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier.
„The German Mittelstand, die Exporte und die Sparsamkeit – das sind die wichtigsten Dinge, auf die die Deutschen stolz sind“, schreibt kein geringes Blatt als der „Economist“ und wies darauf hin, dass Deutschland dadurch im vergangenen Jahr mit 300 Milliarden Dollar den höchsten Leistungsbilanzüberschuss der Welt erzielt habe.
Darüber hinaus taucht der Germanismus in nahezu allen internationalen Zeitungen, Agenturen und Online-Wörterbüchern auf – beispielsweise bei „Bloomberg“, aber auch in der spanischen „El Pais“ oder in der indonesischen Version von Wikipedia. Eine wichtige Organisation, die den Mittelstand fördert, ist die Oskar-Patzelt-Stiftung, die jedes Jahr einen Preis an die besten Vertreter dieser Gruppe verleiht. Sie hat gerade bei der UNESCO beantragt, den „Mittelstand“ in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes der Menschheit aufzunehmen.
Die Weltorganisation zeichnet damit kulturelle Ausdrucksformen aus, die unmittelbar von menschlichem Wissen und Können getragen und von Generation zu Generation weitervermittelt werden. Im Oktober 2019 wird die UNESCO die Entscheidung darüber fällen.
Der Mittelstand ist also politisch bedeutsam, drückt der deutschen Wirtschaft seinen Stempel auf und wird von allen internationalen Fachleuten geschätzt. Zudem werden die Unternehmen sogar zu einem urdeutschen Kulturgut erhoben. Ein höheres Loblied lässt sich wohl kaum auf eine Firmengruppe singen.
Das Problem: Es ist grundsätzlich sehr schwer, diese Unternehmen überhaupt zu fassen, weil es sehr viele Definitionen gibt. Beispielsweise zählt die EU-Kommission alle Firmen dazu, die zwischen 50 und 250 Mitarbeiter beschäftigen und Jahresumsätze zwischen 10 und 50 Millionen Euro oder eine Jahresbilanzsumme von maximal 43 Millionen Euro aufweisen.
Gablers Wirtschaftslexikon hingegen definiert den Mittelstand etwas anders: So müssen die Firmen jährliche Umsatzgrößen zwischen einer und 50 Millionen Euro verzeichnen und zwischen zehn und 499 Beschäftigte haben. Das Institut für Mittelstandsforschung (IfM) in Bonn berücksichtigt auch noch einen anderen Aspekt: So müssen bis zu zwei natürliche Personen oder ihre Familienangehörigen mindestens 50 Prozent der Anteile halten und an der Geschäftsführung beteiligt sein.
Wenn man diese Definitionen zugrunde legt, dann gehört der Hersteller von Schuhleisten, Brüder Winkle, aus der baden-württembergischen Stadt Pirmasens dazu – also ein klassischer Handwerksbetrieb. Aber auch streng genommen könnte Aldi-Nord Mittelstand sein, weil dort nach wie vor die Nachkommen von Unternehmensgründer Theo Albrecht Mehrheitsanteile kontrollieren.
„Letztlich definiert jeder den Mittelstand so, wie es ihm gerade am besten passt“, sagte ein Sprecher der Oscar-Patzelt-Stiftung den Deutschen Wirtschaftsnachrichten (DWN). „Wir orientieren uns hingegen an der Definition der EU-Kommission. „Wer diese Kriterien nicht erfüllt, darf bei unserer Preisverleihung nicht teilnehmen“, unterstrich der Sprecher der Organisation.
Damit geben selbst die Betroffenen zu, dass es schwierig ist, diese Firmengruppe zu fassen – allen Lobeshymnen der Politiker zum Trotz. Das heißt, wenn es keine eindeutige Definition gibt, dann können die Wirtschaftsjournalisten vom „Economist“ oder andere Experten auch nicht errechnen, wie politisch oder wirtschaftlich wichtig diese Unternehmen für Deutschland sind.
Und das ist nicht das einzige Problem: Die Firmen sind in dem, was sie tun, dermaßen heterogen, dass es schwerfällt, sie in einem Topf zu schmeißen. Denn da sie auf so unterschiedlichen Geschäftsfeldern aktiv sind, lässt sich auch kaum sagen, welche grundsätzlichen Bedürfnisse und Interessen sie haben. Ein Hersteller von Laborbedarf mit 15 Mitarbeitern muss eben tagtäglich andere Aufgabe lösen als ein Produzent von Döner-Kebab-Fleisch, dessen Eigentümer türkische Wurzeln hat.
Letztlich ist der Mittelstand nur eine Art Werbe-Slogan der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaftsexperten, um die Wirtschaft zuhause und im Ausland im besten Licht darzustellen. Das ist ihnen allerdings hundertprozentig gelungen. Das muss man uneingeschränkt zugeben.
Etwas, was es eigentlich gar nicht gibt, so zu verkaufen, dass sogar Wirtschaftsblätter wie der „Economist“ davon berichten, ist eine riesige Marketing-Leistung, die man Deutschland erst einmal nachmachen muss.
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