Politik

Das Jahrhundert der Städte, Teil 1: Warum die großen Metropolen über unsere Zukunft entscheiden

Lesezeit: 8 min
26.12.2019 11:09
Weltweit zieht es immer mehr Menschen in die großen Städte. Noch im Jahr 2000 lebte dort nur knapp über die Hälfte der Weltbevölkerung – nach Berechnungen der UN werden es im Jahr 2050 etwas mehr als zwei Drittel sein. Dementsprechend werden die wichtigen Zukunftstrends des 21. Jahrhunderts von den Metropolen ausgehen.
Das Jahrhundert der Städte, Teil 1: Warum die großen Metropolen über unsere Zukunft entscheiden
Der Sitz des Nationalkongresses in Brasiliens Hauptstadt Brasilia. (Foto: dpa)
Foto: Fabian Sommer

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Mitte dieses Jahrhunderts werden mehr Menschen ein urbanes Ballungszentrum ihre Heimat nennen als zu Beginn des Jahrhunderts überhaupt lebten. UNO-Generalsekretär Kofi Annan bilanzierte vor 19 Jahren in Berlin anlässlich der ‚Weltkonferenz zur Zukunft der Städte´: „Wir sind ins Jahrtausend der Städte eingetreten – dort liegt die Zukunft der Menschheit.“

Befürworter des Land- und Kleinstadtlebens mögen das bedauern. In gewisser Hinsicht zu Recht: Mit der Abwanderung gehen viele traditionelle Werte verloren. Und der Mensch verlässt eine Umgebung, die Jahrtausende lang sein natürlicher Lebensraum war. Aber: Fortschritt und Entwicklung sind immer von den Städten ausgegangen, dort, wo Menschen unterschiedlicher Glaubens- und Weltanschauung aufeinandertrafen, wo das starre Korsett dörflicher Moral- und Wertvorstellungen die Freiheit der Ideen und Gedanken nicht einschnürte. „Nobelpreise werden nun mal nicht in Dörfern geholt“, hat Ricky Burdett gesagt, Leiter des einflussreichen Forschungsprojekts „Städte und das urbane Zeitalter“ der renommierten „London School of Economics and Political Science“. Tatsache ist: Die Antworten auf die drängenden Fragen, die sich den Menschen des 21. Jahrhunderts stellen, werden in den Städten gefunden werden müssen.

Paradoxerweise auch die Antwort auf die Frage, wie die Megastädte der Dritten Welt wie Lagos in Nigeria, Dhaka in Bangladesch oder Jakarta in Indonesien ihrer Misere entkommen können. Große Teile dieser Riesen-Metropolen sind nicht mehr als gigantische Slums, wo „Ausbeutung, Krankheit, Gewaltverbrechen, Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und extreme Armut“ regieren, wo große Teile der Bevölkerung „ohne Trinkwasserversorgung, Abwasserbeseitigung und sonstige grundlegende kommunale Dienstleistungen auskommen müssen“ (Kofi Annan, ebenfalls in Berlin). Dies sind die Kehrseiten der Urbanisierung – wobei eins außer Frage steht: Der Zustrom in die Metropolen ist nicht aufzuhalten. Aufgabe von Wissenschaftlern, Stadtplanern, Politikern und Verwaltungsspezialisten ist es und wird es in den kommenden Jahren verstärkt sein, die negativen Folgen dieser Massenbewegungen abzufedern und lebenswerte urbane Räume zu schaffen.

Nomaden in Seilbahnen? Ein Blick auf Deutschlands Städte von morgen

Auch wenn sich die Vermögensverteilung in den westlichen Gesellschaften zusehends zuungunsten der Einkommensschwachen entwickelt: Zustände wie in den Molochs der Dritten Welt finden sich im europäisch geprägten Kulturraum nicht (höchstens in einigen Stadtvierteln südosteuropäischer Großstädte wie Bukarest und Sofia). Tatsache ist, dass unsere Städte – „unsere“ im Sinne von westlich – noch nie so gesund, sicher und lebenswert waren wie heute. Die Zeiten, in denen die Berliner Arbeiterschaft – mithin also die überwiegende Zahl der Einwohner – in beengten, feuchten, Tuberkulose-verseuchten Mietskasernen dahinvegetierte, sind noch nicht einmal ein Jahrhundert her. Und noch Anfang der 1980er Jahre mussten die Hausfrauen im Ruhrgebiet die draußen aufgehängte Wäsche rasch von der Leine nehmen, wenn sich der Wind drehte und die Abgasschwaden der nächstgelegenen Zeche in die Hinterhöfe der Bergmannssiedlungen trieb.

Aber auch wenn die Lebensbedingungen in westlichen Großstädten heute ein recht hohes Niveau erreicht haben: Vor den Stadtplanern liegen keine leichten Aufgaben. Dies sind die wichtigsten Herausforderungen, die sie meistern werden müssen:

Umweltschutz

Der menschliche Ressourcenverbrauch findet zu 80 Prozent in Großstädten statt. Die Planer müssen Mittel und Wege finden, die Städte so zu organisieren, dass der Verbrauch endlicher Rohstoffe beschränkt und die Umweltbelastung verringert wird. Im flächenmäßig kleinen und einwohnerstarken Deutschland bedeutet das den Umbau im Bestand, weil es eine weitere Zersiedelung der Landschaft nicht geben darf, auch kaum geben kann (das heißt, der „Prairie Style“ des amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright mit seinem sich in die Landschaft einfügenden Wohngebäude-Bau kann hierzulande keine Rolle spielen; vielmehr wird sich eine Symbiose von Nachverdichtung – also der intensiveren Nutzung bereits bebauter Fläche – und der gleichzeitigen Schaffung urbaner Freiräume durchsetzen). Wobei bei diesem Umbau die folgenden Punkte mitbedacht werden müssen.

Verkehrslenkung

Wir stehen vor möglicherweise revolutionären Umwälzungen im Verkehrswesen. Die Ära des Automobils in seiner heutigen Form geht langsam, aber sicher zu Ende. Was danach kommt, weiß niemand. Werden die Nachfolger des Benzin- beziehungsweise Diesel-angetriebenen PKW einfach nur autonom fahren und ihren Vorgängern ansonsten mehr oder weniger vollkommen gleichen oder zumindest stark ähneln? Dann würde sich möglicherweise nicht besonders viel ändern. Was aber, wenn sich die neuen Fahrzeuge – zu einem großen Teil oder gänzlich – nicht mehr im Privatbesitz befinden werden, das heißt, wenn der innerstädtische Transport primär oder vollständig von Mietwagen geleistet wird, die man nach der Nutzung einfach am Straßenrand abstellt (so wie heute schon beim Ridesharing üblich)? Oder wenn – wie in der kolumbischen Hauptstadt Bogota in Ansätzen schon verwirklicht – die Menschen mit Seilbahnen befördert werden? Welchen Einfluss werden Drohnen haben, die einerseits eine Reduzierung des Lieferverkehrs mit sich bringen, für die andererseits aber auch eine geeignete Infrastruktur geschaffen werden muss? Was, wenn sich das Flugtaxi – allen Unkenrufen der meisten Experten zum Trotz – in den nächsten Jahren durchsetzen wird?

Eine Idee wird in einigen Städten – vor allem in den USA sowie Australien – bereits umgesetzt: Die Schaffung der „fußläufigen“ Stadt (im Englischen: walkable city), in der innerhalb einer bestimmten Zeit – meist sind es 20 Minuten – alle wichtigen Infrastruktur-Einrichtungen zu Fuß erreichbar sein sollen, das heißt, wo innerhalb vieler kleinflächiger Quartiere ein jeweils flächendeckendes, dicht getaktetes Angebot vorhanden ist beziehungsweise vorhanden sein soll.

Einkommensverteilung und soziale Spaltung

Wie bereits oben erwähnt, gibt es in westlichen Großstädten keine Verslummung, wie sie aus den gigantischen Ballungsräumen der Dritten Welt bekannt sind. In Deutschland wird es sie, solange eine bundesrepublikanische Gesellschaftsordnung herrscht, auch niemals geben. Dennoch ist es eine Tatsache, dass die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinandergeht, dass heute soziale Verwerfungen existieren, wie sie noch vor wenigen Jahrzehnten unbekannt waren. Aus dieser Faktenlage ergeben sich für die Stadtplaner zwei Notwendigkeiten: Zum einen, die neue gesellschaftliche Situation zur Kenntnis zu nehmen und in ihre Planungen miteinzubeziehen. Nun sind die meisten Planer in ihrer politischen Einstellung tendenziell links-liberal. Konservative, die einen eher technisch-wirtschaftlich-funktionalen, auf Effizienz ausgerichteten Ansatz verfolgen, mag es geben, sie bilden innerhalb ihrer Profession jedoch die Minderheit. Links der politischen Mitte angesiedelte Stadtplaner müssen akzeptieren, dass es gesellschaftliche Realitäten gibt, die sie nicht ändern können, deren Missstände sie lediglich bis zu einem gewissen Grade mit ihren Planungen abfedern können. Sie müssen einsehen, dass das egalitäre Gesellschaftsmodell, das in der Bundesrepublik bis in die 70er Jahre hinein herrschte, bis auf weiteres der Vergangenheit angehört – und ihre Planungen an dieser Einsicht ausrichten, anstatt zu versuchen, gutgemeinte, aber von vornherein zum Scheitern verurteilte Sozialexperimente durchzuführen.

Gleichzeitig sollten die Stadtplaner jedoch darauf hinarbeiten, mit ihrer Planung der weiteren sozialen Spaltung nicht Vorschub zu leisten. Was das heißt, lässt sich treffend am Beispiel von Brasilia veranschaulichen. Gebaut wurde die heutige brasilianische Hauptstadt in der zweiten Hälfte der 1950er und Anfang der 1960er Jahre, und zwar primär für Politiker und Beamte, das heißt, Angehörige der Ober- und (oberen) Mittelschicht. Nicht bedacht hatten die Planer allerdings, dass zur Aufrechterhaltung der Infrastruktur ein Heer von Angehörigen der unteren Mittel- sowie der Unterschicht notwendig sein würde. Auch das zog nach Brasilia – allerdings wegen fehlender finanzieller Ressourcen nicht in die Kernstadt, sondern in die Vorstädte, wo es zwar nicht zugeht wie in den Barrios von Rio de Janeiro oder Sao Paulo, wo die soziale Lage jedoch – zurückhaltend ausgedrückt – angespannt ist.

Digitalisierung und neue Formen von Erwerbsarbeit

Die Zahl der in der Fertigung tätigen Menschen nimmt ab, gleichzeitig werden die Produktionsstätten zunehmend umweltfreundlicher. Das bedeutet, dass es die Fabrik am Stadtrand zwar auch in Zukunft noch geben wird, dort aber immer weniger Menschen beschäftigt sein werden. Die Arbeitnehmer von morgen (beziehungsweise die Selbständigen und Freiberufler, denn in Zukunft werden viele keinen Festvertrag mehr haben) werden vermehrt vor dem Bildschirm sitzen, und zwar immer häufiger in kollaborativer Form. Entwickler, Designer, Texter werden als sogenannte „digitale Nomaden“ vorübergehende Arbeitsgemeinschaften in Co-Working-Spaces bilden, lose Zusammenschlüsse, die der einzelne jederzeit wieder verlassen kann, wenn er sein Projekt beendet hat und für das nächste Projekt in ein anderes, weil auf die Bedürfnisse des neuen Projekts besser zugeschnittenes Co-Working-Space zieht. Die für diese Art von Arbeit notwendige Infrastruktur müssen Stadtplaner unbedingt in ihre Überlegungen miteinbeziehen, genau wie den Umstand, dass sich das geballte Auftreten von Arbeitnehmern an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten nicht mehr so leicht vorhersagen lässt wie heute.

Aber, und das ist ein wichtiger Vorbehalt: Die Planer dürfen sich von Prognosen in Hinblick auf das Fortschreiten der Digitalisierung auch nicht zu stark beeinflussen, nicht blenden lassen. Auch in Zukunft wird nicht jeder Werktätige vor dem Bildschirm sitzen – es wird weiterhin Feuerwehrleute geben, Bäckerei-Verkäuferinnen und Pflege-Personal. Zukunftsforscher tendieren dazu, Digitalisierung und Technologisierung zu überschätzen (zu Beginn des 20. Jahrhunderts glaubten die Menschen, ihre Nachfahren würden sich im Jahr 2000 fast ausschließlich in Luftfahrzeugen fortbewegen).

Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass in Zukunft wieder mehr Fertigungsstätten in den Städten angesiedelt sein werden. Möglich wird das, weil die Umweltverträglichkeit der Produktion zunehmen wird. Die räumliche Nähe von Wohnung und Arbeitsplatz ist ein Faktor, der für die Überlegungen der Stadtplaner zunehmend an Bedeutung gewinnen wird.

Technologisierung der Städte

Digitalisierung, Künstliche Intelligenz (KI), Robotik – die Technik wird in unseren Städten eine zunehmend größere Rolle spielen. Das ist prinzipiell eine gute Sache; man denke nur an den Bau der Kanalisation und die Einführung der elektrischen Beleuchtung (was die Zahl der Brandkatastrophen erheblich verringerte). Kurioserweise ist gerade im Hightech-Land Deutschland die Angst vor Innovationen besonders ausgeprägt, was für die Stadtplaner die Schwierigkeit schafft, zu entscheiden, in welchem Maße sie (absehbare) neue Technologien in ihre Planung der Städte von morgen miteinbeziehen sollten – sie können ja nicht wissen, wie stark der Widerstand sein und ob er die Implementierung (zumindest mittelfristig) vielleicht sogar verhindern wird. Allerdings wird auch der heftigste Widerstand den Durchbruch der wichtigen Innovationen nicht verhindern, sondern allerhöchstens aufschieben können. Die Tendenz geht daher zweifellos zur sogenannten „Smart City“.

Im zweiten Teil des "Jahrhunderts der Städte" lesen Sie:

  • Was Utopia, Chaux und die Gartenstädte von morgen gemeinsam haben
  • In welchem einzelnen Gebäude 1,5 Millionen Menschen leben sollen
  • In welcher Stadt die Einwohner bereits heute fast vollständig überwacht werden


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