Die Geschichte Lateinamerikas ist gekennzeichnet von Staatsstreichen, Militärinterventionen und Unruhen, die immer mit politischen Wenden nach Rechts oder Links einhergehen. Mittlerweile hat die internationale Wissenschaft nachweisen können, dass externe Staaten nahezu immer eine Rolle bei den Umwälzungen in der Neuen Welt gespielt haben. Das internationale Interesse an Lateinamerika hängt direkt mit den dortigen Bodenschätzen zusammen.
So tobt zwischen den USA, China und Russland ein Verteilungskampf um die lateinamerikanischen Rohstoffe und Märkte. Dabei sah es während der Amtszeit von Barack Obama so aus, als ob sich die USA aus Lateinamerika durch die Aufkündigung der Monroe-Doktrin zurückziehen würden. Schließlich hatte US-Außenminister John Kerry im Jahr 2013 verkündet: „Die Ära der Monroe-Doktrin ist vorbei”. Mit dieser Aussage machte Kerry klar, dass sich die USA von einer Doktrin, die über 190 Jahre alt ist, distanzieren, um den Einfluss ausländischer Staaten in der westlichen Hemisphäre zuzulassen. Dieser Ansatz stand im Gegensatz zur Außenpolitik des demokratischen Präsidenten John F. Kennedy, der ein vehementer Verfechter der Monroe-Doktrin gewesen ist.
Russland und China nutzten in der Obama-Ära die Gelegenheit, um ihre Bündnisse zu diversen lateinamerikanischen Regierungen auszubauen. Sie stärkten ihre wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen zu den Staaten des „bolivarischen Bündnisses”, zu denen Venezuela, Ecuador, Nicaragua und Bolivien zählten. Mittlerweile haben Ecuador und Bolivien das Bündnis verlassen.
Unter US-Präsident Donald Trump fanden die USA zurück zur Monroe-Doktrin. Fortan sollten sich die USA aktiv in Lateinamerika betätigen. In Venezuela forderte Trump den Sturz des sozialistischen Präsidenten Nicolás Maduro und stellte sich hinter den demokratischen Oppositionsführer Juan Guaidó, den er und ein Großteil des Westens für den legitimen Präsidenten des Landes einstufen. Die USA verhängten schwere Sanktionen gegen den Ölsektor Venezuelas. Maduro festigte als Reaktion seine Beziehungen zu Russland und China. Schließlich haben Russland und China Milliarden von Dollars in Venezuela investiert, was Pekings und Moskaus Aktivitäten in Venezuela logisch erscheinen lassen. Beide Länder wollen ihre Investitionen sichern.
China in Venezuela
China hat etwa 70 Milliarden US-Dollar in Form von Darlehen sowie sozialen Projekten und in die Instandhaltung der Ölförder-Infrastruktur des Landes investiert, berichtet Bloomberg. Die meisten dieser Kredite werden in Form von venezolanischem Rohöl an China zurückgezahlt. Darüber hinaus haben China und Venezuela mehrere Joint Ventures gegründet, unter anderem zur Herstellung von Mobiltelefonen und Computern. Diese Investitionen und Verbindungen machen China zum mit Abstand größten und einflussreichsten ausländischen Sponsor und Gläubiger von Maduro, so das US-Magazin Foreign Policy. Das Magazin wörtlich: „Wenn Venezuela zusammenbricht (...), ist China einem großen Risiko eines diplomatischen und finanziellen Rückschlags ausgesetzt. Oppositionspolitiker wissen, dass China die Herrschaft von Maduro gestützt hat. Eine neue venezolanische Regierung könnte es ablehnen, den Verpflichtungen aus der Maduro-Ära nachzukommen und stattdessen nach Washington ausschwenken.”
Russland in Venezuela
Russland hat Venezuela seit dem Jahr 2006 Darlehen und Kredite im Wert von 17 Milliarden Dollar gewährt, berichtet die Washington Post. Zudem hat Moskau über staatliche Unternehmen wie Rosneft bedeutende Eigentumsbeteiligungen an mindestens fünf großen venezolanischen Ölfeldern sowie mehrere Jahrzehnte zukünftiger Erträge von venezolanischen Erdgasfeldern in der Karibik erworben.
Rosnefts Interessen in Venezuela sind so groß, dass sein Vorstandsvorsitzender Igor Sechin im Jahr 2017 nach Angaben der staatlichen russischen Nachrichtenagentur TASS erklärte: „Wir werden Venezuela niemals verlassen. Und niemand wird uns rauswerfen”.
Doch der Bloomberg-Analyst Leonid Bershidsky führt in einem Artikel vom 25. Januar 2019 aus: „Wenn Maduro fällt und durch eine von den USA unterstützte Regierung ersetzt wird, ist es sehr wahrscheinlich, dass die russischen Projekte ausgesetzt und Venezuelas Schulden nicht zurückgezahlt werden.”
Nach Angaben des englischsprachigen Dienstes von Reuters soll Moskau im vergangenen Jahr 100 Soldaten nach Caracas entsandt haben, zu denen sowohl Spezialeinheiten als auch Cybersicherheitsexperten gehören. Der Wettkampf um Venezuela, das über die weltweit größten bisher bekannten Ölreserven verfügt, ist noch nicht entschieden.
Washington geht es in Venezuela nicht darum, die Ölressourcen für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Vielmehr besteht die Gefahr, dass China über den Zugang zu den Ressourcen seine energiepolitische Abhängigkeit gewährleisten könnte, was den Aufstieg des Reichs der Mitte nur noch beschleunigen würde. Zu Russland haben die USA ein ambivalentes Verhältnis. Doch auch Moskau dürfte kein Interesse an Chinas Expansion in Venezuela haben. Wenn es China gelingen sollte, seine Energiezufuhr autonom zu bestimmen, würde dies zwangsläufig seine wirtschaftliche und demografische Expansion nach Zentralasien und Sibirien beflügeln, was eine Gefahr für Russland darstellt.
Russland und China in Bolivien
In Bolivien sieht die Lage ähnlich aus. Während der Amtszeit von Ex-Präsident Evo Morales fand eine Annäherung an China und Russland statt. Im Juli 2019 ratifizierten Russlands Präsident Wladimir Putin und Morales ein strategisches Abkommen, das insbesondere die Partnerschaft im Energiesektor fördern sollte. Während eines Treffens im Kreml betonte Putin, dass die Entwicklung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in den letzten Jahren fortgesetzt worden sei. Ebenso verwies das russische Staatsoberhaupt auf den Bau eines Atomforschungszentrums in Bolivien.
Die Annäherung hatte aus Sicht von Morales auch einen ideologischen Hintergrund, wohingegen für Moskau die Realpolitik entscheidend ist. Morales betonte die Bedeutung Russlands als „Inspiration” für diejenigen in der Welt, die das multipolare Modell, die Souveränität der Staaten und das Völkerrecht unterstützen. Diese Worte waren als klarer Affront gegen Washington zu werten. Morales hielt an der Russischen Universität für Völkerfreundschaft (RUDN) einen Vortrag über die Lithium-Vorkommen in Bolivien. Er sprach sich im Verlauf seiner Rede ausdrücklich dafür aus, dass Russland Bolivien bei der Industrialisierung unterstützt, um die Lithium-Ressourcen des Landes auszubeuten. Im September 2017 hatte Rosatom mit der bolivianischen Regierung eine Absichtserklärung im Bereich der Lithium-Industrie unterzeichnet, zumal Bolivien über die weltweit größten Lithium-Reserven verfügt.
China benötigt das Lithium Boliviens
Doch auch China hat ein großes Interesse an den Lithium-Ressourcen Boliviens. Im Februar 2019 unterzeichnete das bolivianische Lithium-Unternehmen YLB einen Vertrag mit China über eine Lithiumproduktion im Wert von 2,3 Milliarden US-Dollar. Das dringende Interesse Chinas an den Lithium-Reserven ist aufgrund des rasanten Wachstums des chinesischen Elektroauto-Markts nachvollziehbar. So wurden in China im Jahr 2018 über eine Million Elektro-Autos verkauft. Ein Jahr zuvor wurden 576.000 Elektro-Autos verkauft. Bis zum Jahr 2025 soll der Anteil an Elektro-Autos an den gesamten Autoabsätzen in China auf 20 Prozent ansteigen, weshalb die Nachfrage nach Lithium-Batterien unweigerlich ansteigen wird.
Der chinesische Botschafter in Bolivien, Liang Yu, schätzt, dass China bis 2025 rund 800.000 Tonnen Lithium benötigen wird, so der englischsprachige Dienst von Reuters. Elektro-Autos mit der heutigen Technologie benötigen massive Mengen an Lithium, etwa 63 Kilogramm für einen einzelnen 70 kWh Tesla Model S-Akku. Nach Informationen des US Geological Survey befinden sich in Salar de Uyuni, die die größte Salzwüste der Welt ist, ein Viertel aller weltweit bekannten Lithium-Reserven.
Obwohl Moskau, und vor allem China, ein großes Interesse an der Stabilität der Morales-Regierung hatten, gelang es ihnen nicht, den Sturz von Morales im November 2019 zu verhindern. Morales floh nach Mexiko und wurde durch die Politikerin Jeanine Áñez ersetzt. Zuvor hatte er dem Generalstab befohlen, die landesweiten Proteste gegen seine Person einzudämmen. Doch Generalstabschef Williams Kaliman weigerte sich dem englischsprachigen Dienst der Nachrichtenagentur AP zufolge gegen „jene Menschen vorzugehen, mit denen wir zusammenleben”. Die Polizeikräfte weigerten sich ebenfalls, gewaltsam gegen die Demonstranten vorzugehen.
Noch ist unklar, ob sich Áñez, die eine ablehnende Haltung gegenüber China und Russland hat, an der Macht halten wird. In der Außenpolitik verfolgt sie eine pro-amerikanische Haltung und setzt sich eindeutig für die Privatisierung der bolivianischen Staatsunternehmen ein. Allerdings ist Áñez aufgrund ihrer rassistischen Kommentare gegenüber der indigenen Bevölkerung des Landes, die schließlich 41 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, hoch umstritten. Sie wäre auf langfristige Sicht auch für Washington nicht tragbar.
Es ist davon auszugehen, dass sie im Verlauf des Sturzes von Morales eine vorübergehende „Bulldozer-Funktion” ausgeübt hat, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein. Eine denkbare Alternative für Áñez als Präsidentschafts-Kandidatin bei den kommenden Wahlen wäre eine Person, auf die sich Washington und Moskau unter Ausschluss Pekings einigen könnten.
Brasilien sitzt zwischen den Stühlen
In Brasilien sind die außenpolitischen Konturen von Präsident Jair Bolsonaro noch nicht deutlich genug. Als Bolsonaro am 1. Januar 2019 sein Amt als Präsident Brasiliens antrat, wurde er in der internationalen Presse als „Tropen-Trump” umschrieben. Zu Beginn seiner Amtszeit sprach er sich für die Vertiefung der Beziehungen zu den USA aus, indem er sich für die Errichtung eines US-Militärstützpunkts in Brasilien einsetzte. Im März 2019 flog er nach Washington, um die militärischen Beziehungen mit den USA auszubauen. Während seines Rückflugs nach Brasilien erklärte Bolsonaro, er werde den US-Amerikanern erlauben, den Alcântara-Stützpunkt in Maranhão zu nutzen, obwohl der brasilianische Generalstab diesen Plan mit Argwohn betrachtet. Der Alcântara-Stützpunkt ist ein Luftwaffenstützpunkt mit einer Raumfahrtbasis. Da Brasilien am Äquator liegt, erfordern Starts von geostationären Satelliten dort weniger Treibstoff als in äquatorferneren Gegenden wie Florida mit dem US-Startplatz Cape Canaveral. Zudem kann vom Alcântara-Stützpunkt aus eine lückenlose elektronische Überwachung des Übergangs vom Nord- zum Südatlantik und der gesamten Karibik erfolgen.
Bolsonaro klüngelt mit China
Auf der wirtschaftlichen Ebene verfolgte Bolsonaro eine Linie, die sich von seinen öffentlichen Bekundungen unterschied. Die Regierung in Brasilia will ihre Sojabohnen-Exporte nach China drastisch erhöhen. Bolsonaro ließ eine neue Handelsabteilung aufbauen, die sich ausschließlich mit Exporten nach China beschäftigt. Dieser Schritt ist deshalb bemerkenswert, weil Bolsonaro die Chinesen während seiner Wahlkampagne im Jahr 2018 noch als „herzlos” beschrieben hatte, die wie „Raubtiere” nicht nur in andere Länder investieren, sondern diese besitzen wollen, so Bloomberg. Mittlerweile fallen 40 Prozent der brasilianischen Exporte auf China. Doch damit nicht genug. Der brasilianische Präsident weigert sich, den chinesischen Technologie-Riesen Huawei von der Teilnahme an einer zukünftigen Auktion zur Implementierung der 5G-Technologie in Brasilien auszuschließen, obwohl Washington genau dies fordert.
Chinas große Nachfrage nach Rohstoffen trug dazu bei, den gesamten Handel mit Brasilien im Jahr 2018 auf etwa 100 Milliarden US-Dollar anzukurbeln. Brasilien beabsichtigt hingegen, neue Märkte in China zu erschließen. Larissa Wachholz, die einen Master-Abschluss von der Renmin University of China besitzt und die neue China-Handelsabteilung leitet, sagte Bloomberg, dass die Regierung in Brasilia chinesische Investitionen in die Infrastruktur des Landes anziehen möchte. Dadurch könnte China auch seine Rohstoffinteressen im Land festigen. „China legt Wert auf langfristige Planung”, meint Wachholz.
„Die Beziehung zwischen Brasilien und China hat sich vom reinen Handel zu einer komplexeren Investitions- und Partnerschaftsbeziehung entwickelt. Brasilien [ist] ein attraktiver Markt für chinesische Investoren aufgrund seiner Größe, seines Binnenmarktes und seiner riesigen natürlichen Ressourcen”, zitiert die Financial Times Su Jung Ko, Gründer von Golden Hawk Consulting.
Brasiliens Niobium ist begehrt
Allerdings ist die brasilianische Regierung gespalten. Sie setzt sich aus zwei Lagern zusammen. Während der Vizepräsident Hamilton Mourão eindeutig für gute Beziehungen mit China einsteht, ist der Zirkel um Bolsonaro, insbesondere der familiäre Zirkel, anti-chinesisch eingestellt. Mittlerweile tendiert Bolsonaro eindeutig zu Mourão und ist gewillt, China einen Zugang zu Brasiliens Ressourcen zu geben. Peking ist vor allem an den brasilianischen Niobium-Vorkommen interessiert.
Der Metall-Förderer Cradle Resources berichtet, dass 90 Prozent des Metalls Niobium aus Brasilien kommen. Der weltweite Hauptförderer ist der brasilianische Konzern Brasileira de Metalurgia & Mineracao (CBMM). Darauf folgt nach Angaben der Financial Times die chinesische Firma China Molybdenum. „Ab 2010 war China der größte Niobium-Konsument der Welt, gefolgt von den USA und Europa. China ist der stärkste Wachstumsmarkt für den Niobium-Konsum. 25 Prozent des weltweiten Niobium-Konsums entfallen auf China, was die Größe und Bedeutung der chinesischen Stahlindustrie widerspiegelt”, berichtet die Methodistische Universität von Piracicaba und das Zentrum für Bildung und Technologie von Minas Gerais in einer gemeinsamen wissenschaftlichen Studie.
Wie ernst es Bolsonaro mit seiner Annäherung an China meint, hat er zu Beginn des aktuellen Jahres bewiesen. Am 15. Januar 2020 kündigte die brasilianische Außenhandelskammer (Camex) im Amtsblatt (Diário Oficial da União) an, dass die Anti-Dumpingzölle auf warmgewalzte Spulen mit Ursprung in China und Russland aufgehoben wurden. „Camex empfahl die endgültige Aufhebung der Antidumpingzölle auf die Einfuhren von HRC (warmgewalzte Spulen, Anm. d. Fed.) aus China und Russland, nachdem keine Auswirkungen auf die Volkswirtschaft festgestellt wurden”, heißt es im Amtsblatt.
In Brasilien stehen sich somit vor allem die USA und China als Konkurrenten gegenüber. Ob Bolsonaro mit seiner Öffnung in Richtung China erfolgreich sein wird, kann zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht festgelegt werden.
Er schwankt zwischen den USA und China, zwischen Ost und West, zwischen Demokratie und Autoritarismus.
In diesem Zusammenhang hat Bolsonaro zu keinem Zeitpunkt einen Hehl aus seiner Bewunderung und Unterstützung für das brasilianische Militär und den Militärputsch von 1964, der zum Tod von 3.000 Menschen geführt hatte, gemacht. Im brasilianischen Militär erkennt Bolsonaro den eigentlichen Garanten für die Demokratie und den Staat. Das ist allerdings keine Garantie dafür, dass die mittleren Offiziersränge oder die Teilstreitkräfte („factional groups”) immer geschlossen hinter Bolsonaros Außen- und Innenpolitik stehen werden.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass es in den kommenden Jahren in Lateinamerika zu weiteren Umstürzen und schlagartigen Entwicklungen kommen könnte. Neue politische Wenden sind nicht ausgeschlossen, sondern sehr wahrscheinlich.
Die Neue Welt muss sich auf turbulente Zeiten vorbereiten.