Der gigantische Schuldenturm, welchen Unternehmen auf der ganzen Welt in den vergangenen Jahren aufgebaut haben, droht einzustürzen. Die Risse in dessen Fundament, auf die Beobachter seit Jahren hinweisen, haben sich vor dem Hintergrund des Abschwungs in der Weltwirtschaft und des grassierenden Coronavirus in den vergangenen Tagen merklich vergrößert.
Ein untrügliches Anzeichen dafür, dass die Geldgeber zunehmend skeptisch auf die wirtschaftliche Entwicklung blicken, sind signifikante Renditesteigerungen im Markt für US-Unternehmensanleihen von wenig kreditwürdigen Firmen – den sogenannten „Junk Bonds“. Dort kam es in den vergangenen Tagen zu einem deutlichen Anstieg der Renditen und der Zinsunterschied zu US-Staatsanleihen mit vergleichbarer Laufzeit (welche von vielen Investoren als richtungsweisend für das Zinsniveau an den Finanzmärkten eingestuft werden) hat sich deutlich ausgeweitet.
Wie aus Daten von Ice Data Services hervorgeht, weitete sich dieser Zinsunterscheid („Spread“) zwischen vergangenem Freitag und Dienstag von 366 Basispunkten (3,66 Prozent) auf 418 Basispunkte (4,18 Prozent) aus. Es handelte sich dabei um den stärksten Anstieg innerhalb von zwei Tagen seit dem Brexit-Votum im Sommer 2016.
Was noch erstaunlicher ist: In der laufenden Woche soll es bislang (Stand 27. Februar) noch gar keine Emission einer Unternehmensanleihe in den USA gegeben haben – weder im riskanten Junk-Sektor noch im als „sicher“ geltenden Investment Grade-Sektor, was Beobachtern zufolge extrem selten ist. „Unter diesen Umständen wollen sie nicht in den Markt kommen. Sie kommen nur, wenn sie sich mit ihrer Verhandlungsmacht im Vorteil wähnen“, wird ein Analyst von der Financial Times zitiert.
Bloomberg zufolge kam es in der laufenden Woche darüber hinaus auch im europäischen Markt für Unternehmensanleihen zu einem Einbruch der Kreditvergabe auf Null. Der Mittwoch sei der erste Tag im laufenden Jahr gewesen, an dem keine Unternehmensanleihen emittiert wurden. Und auch die Schuldenvergabe in Asien sei massiv eingebrochen.
Der renommierte Finanzexperte Jeffrey Gundlach erkennt in den Vorgängen im Anleihemarkt ein deutliches Warnzeichen für das gesamte Finanzsystem und die Weltwirtschaft. Das Abrutschen der Anleihepreise im Junk Bond-Segment unter den gleitenden 200-Tage-Durchschnitt (Anleihepreise sinken, wenn die Renditen der Papiere steigen) sei der „Kanarienvogel in der Kohlemine“, der weitere bevorstehende Verwerfungen ankündige. Gundlach wies darauf hin, dass auch der amerikanische Aktienmarkt am Dienstag seinen gleitenden 200-Tage-Durchschnitt unterschritten habe, was durch die Entwicklung im Anleihemarkt „vorweggenommen“ worden sei.
Eine deutliche Verschlechterung der Stimmung im Junk Bond-Markt (und auch im Investment Grade-Bereich) gilt tatsächlich als eines der größten systemischen Risiken innerhalb des Weltfinanzsystems. Hier ballen sich massive Probleme zusammen, die einer kurzen Beleuchtung bedürfen.
Seit der Finanzkrise des Jahres 2008 haben Staaten, Unternehmen und Privathaushalte – ermutigt durch die dauerhafte und massive Versorgung der Wirtschaft mit aus dem Nichts geschaffenem (Kredit-)Geld durch die Zentralbanken – in enormem Umfang neue Schulden aufgenommen. Schätzungen des Institute of International Finance zufolge lag die Gesamtverschuldung im Jahr 2018 bei 317 Prozent der Welt-Wirtschaftsleistung. Inzwischen belaufen sich die Verbindlichkeiten wohl auf etwa 250 Billionen Dollar – exakte Zahlen dazu existieren nicht. Im Jahr 2007, dem Jahr vor Ausbruch der Krise, sollen es etwa 150 Billionen Dollar gewesen sein. Bemerkenswert ist, dass dem Schuldenanstieg von 100 Billionen seitdem nur ein Anstieg der globalen Wirtschaftsleistung von etwa 25 Billionen Dollar von 60 auf etwa 85 Billionen gegenübersteht – rund 4 Dollar Schulden generierten demnach seit 2008 nur noch einen Dollar an Wirtschaftskraft.
Auch die Unternehmen verschuldeten sich im Zuge der geldpolitischen Interventionen der Notenbanken kräftig – gerade auch die US-Unternehmen. Analysten von Metzler Asset Management zufolge erreichten die Schulden der Firmen in den USA im ersten Halbjahr 2019 mit über 95 Prozent der Bruttowertschöpfung ein neues historisches Hoch. Problematisch an den hohen Unternehmensschulden weltweit sind insbesondere zwei Faktoren: die Höhe der Verbindlichkeiten und ihr weiterer Anstieg einerseits sowie die Entwicklung der Bonität der Schuldner andererseits.
Die Gesamtschulden aller Unternehmen sollen 2017 weltweit rund 66 Billionen Dollar betragen haben und sie dürften in den vergangenen Jahren weiter gestiegen sein – 2007 waren es dem Datenspezialisten Creditreform zufolge nur rund 37 Billionen Dollar. Kommt es in einem solchen Umfeld stark steigender Schulden und vergleichbar verhaltenem Wirtschaftswachstum zu einer deutlichen Abschwächung in der Weltwirtschaft, häufen sich Insolvenzen und die nicht mehr einbringlichen Schulden verursachen große Löcher in den Bilanzen von Banken und Kapitalgesellschaften, welche sich schnell zu einer neuen Finanzkrise ausweiten können. Bereits jetzt wird deutlich, dass das Coronavirus die weltweiten Lieferketten massiv durcheinanderbringt und die ohnehin seit Jahren schwächelnden Weltwirtschaft in eine Rezession führen könnte.
Der zweite Faktor, welcher den Markt für Unternehmensanleihen zu einem Risiko für das Gesamtsystem macht, besteht in der schleichenden Verschlechterung der Bonität der Schuldner – ein Umstand, auf den Beobachter seit mehreren Jahren hinweisen. Denn im Zuge der koordinierten Absenkung der Marktzinsen als Folge der Zentralbankinterventionen (Senkung von Leitzinsen, Aufkauf von Staats- und Unternehmensanleihen, Notkredite TLTROs und vieles mehr) konnten sich zunehmend auch Unternehmen relativ günstig verschulden, denen der Gang an den Anleihemarkt in normalen Zeiten aufgrund ihrer mangelhaften Kreditwürdigkeit unmöglich oder zu teuer gewesen wäre. Es sind insbesondere die daraus resultierenden "Zombie"-Firmen, die Beobachtern Sorgen bereiten.
In den vergangenen Jahren sanken in den USA die durchschnittlichen Renditen, welche schwache Schuldner (High Yield) bezahlen mussten. „So lag im Jahr 2010 die durchschnittliche Rendite von High-Yield-Anleihen mit einem Rating von B bei 8,4 Prozent, im bisherigen Jahresverlauf jedoch nur bei etwa 7,0 Prozent. Im Trend war somit seit 2010 ein Rückgang der Rendite zu beobachten. Vielleicht hoffte die US-Notenbank, mithilfe der Leitzinserhöhungen die US-Wirtschaft von sogenannten Zombie-Unternehmen zu befreien und die Verschuldung einzudämmen; tatsächlich scheint sich diese Hoffnung aber nicht erfüllt zu haben. Die Vermutung liegt nahe, dass ausländische Investoren auf der Suche nach Rendite den restriktiven Impuls der US-Leitzinserhöhungen mit ihrer Nachfrage nach Anleihen mit einer hohen Rendite mehr als kompensiert haben, zumal die Steuerreform 2018 die Unternehmen merklich entlastete und die Konjunktur stimulierte“, schreiben die Metzler-Analysten mit Blick auf das Marktumfeld, in dem die Zombies gedeihen konnten.
Besondere Sprengkraft geht von dem wachsenden Anteil von mit dem Bonitätssigel „BBB“ bewerteten Unternehmen am gesamten Anleiheuniversum aus. Bei der Klasse „BBB“ handelt es sich um das schwächste Segment des als relativ sicher geltenden Investment Grade-Bereichs. Rund 3,8 Billionen Dollar an BBB-Anleihen stehen in den USA derzeit aus. Wie aus den unten als Grafik abgebildeten Daten von Standard & Poor's hervorgeht, ist der Anteil der mit A, AA oder AAA bewerteten Firmen am US-Anleihemarkt in den vergangenen Jahren schrittweise gesunken, während insbesondere die Klassen B und BBB starke Zuwächse erzielten.
Kommt es nun zu einer Rezession, rutschen die BBB-Unternehmen als erste aus dem Investment Grade-Bereich in den Junk Bond-Bereich. Aufgrund des erhöhten Anteils am Gesamtmarkt dürfte der Umfang dieser Massenabwertungen viel stärker ausfallen als früher. Es rutschen nun große Teile der Schuldner in eine schlechtere Bewertungsklasse, was dazu führt, dass die (potentiellen) Investoren höhere Renditen auf die von ihnen gekauften Anleihen fordern – neue finanzielle Belastungen, welche im Falle einer Rezession für viele Unternehmen nicht mehr zu tragen sein dürften.
Genau an diesem Punkt entsteht ein sich selbst verstärkender Abwärtsstrudel. Denn der Verlust des Investment Grade-Ratings führt dazu, dass die betroffenen Unternehmen von institutionellen Großinvestoren wie beispielsweise Renten- oder Lebensversicherungen sowie Pensionsfonds nicht mehr im Portfolio gehalten werden dürfen. Die Folge dieser von den Regulierungsbehörden zu verantwortenden Vorschrift: Es kommt zu Panikverkäufen der Anleihe-Titel, wodurch deren Rendite weiter steigt und die finanzielle Lage der Unternehmen weiter verschlechtert. Am Ende dieser Kaskade steht für viele Schuldner unweigerlich der Bankrott – was wiederum auf die Geldgeber (Banken, Großinvestoren, Hedgefonds etc.) zurückschlägt.
Europa ist von diesem Szenario ein Stück weiter entfernt als die USA, weil hier die Verschuldung der Firmen im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung seit 2009 eher sinkt - Ausnahme wie der spanische Telekommunikationskonzern Telefonica bestätigen hier die Regel. Und auch die Kreditausfallrate von High-Yield-Anleihen liegt in Europa nahe der 0 Prozent-Marke. Zu bedenken ist aber, dass die extrem niedrige Kreditausfallrate eine Folge der expansiven Geldpolitik der EZB ist, welche den durchschnittlichen Zinssatz für Junk-Unternehmen auf unter 4 Prozent und damit in die Nähe historischer Tiefstände gedrückt hat.
Dass der Stein, welcher diese Insolvenz-Kaskaden ins Rollen bringt, bereits kräftig wackelt, ist offensichtlich. Mit China hat das Coronavirus jenes Land teilweise lahmgelegt, welches noch immer als Werkbank der Welt und Handelszentrum von weltweiter Bedeutung gilt. Die Zerstörung oder empfindliche Störung von Lieferketten führt auf Unternehmensebene zu massiven Umsatzeinbußen, Produktionsstopps, Massenentlassungen sowie auf makroökonomischer Ebene zu Einbrüchen im Welthandel und zum Rückgang der weltweiten Wirtschaftsleistung.
Die neue Direktorin des Internationalen Währungsfonds, Kristalina Georgiewa, warnte in ihrer ersten Rede vor der Rückkehr einer schweren Finanzkrise. Demnach seien im Fall eines größeren Abschwungs Unternehmensschulden im Volumen von etwa 19 Billionen Dollar ausfallgefährdet, was 40 Prozent der Gesamtschulden der acht größten Industrienationen entspreche. Das Schuldenrisiko sei höher als während der Finanzkrise von 2008.
Der Ökonom Daniel Stelter schreibt dazu mit Blick auf das Coronavirus im Manager Magazin:
Schon ohne die Viruskrise kämpfen wir immer noch mit den Folgen der Finanzkrise. Das Wachstum im Aufschwung seit 2010 war das geringste seit dem Zweiten Weltkrieg. Trotz Rekordverschuldung, trotz eines ebenfalls auf Schulden gebauten Booms in China und trotz Null- und Negativzinspolitik der Notenbanken. Selbst in den USA muss die Regierung Trump ein Defizit von rund fünf Prozent vom BIP fahren, damit die Wirtschaft um rund zwei Prozent wächst. Kein gutes Zeichen. Auf diese Welt trifft nun das Virus. Zunächst nur ein Problem für China, das immerhin für 18 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung und rund 50 Prozent des Wachstums der Welt in den letzten Jahren steht. Nun auch ein Problem in Korea – immerhin die drittgrößte Volkswirtschaft Asiens – und mit Italien mitten in Europa. Egal, was uns die Politiker erzählen, wir müssen uns darauf einstellen, dass das Virus die Welt erobert und lähmt. Kommt es wider Erwarten anders, umso besser. Die Folgen wären für die Weltwirtschaft fatal, die Möglichkeiten, die Wirtschaft wiederzubeleben für Notenbanken und Staaten sind gering. Bei Null- und Negativzins bringen weitere Zinssenkungen wenig. Vor allem nimmt niemand einen Kredit auf, wenn die Wirtschaft stillsteht. Den braucht man erst, wenn die Wirtschaft wieder öffnet. Und das könnte dauern, muss man doch mit einer Dauer von mindestens sechs Wochen rechnen, bis eine Person wieder genesen ist. Auch Staatsausgaben bringen wenig, wenn niemand die Steuergutschriften ausgibt und niemand auf dem Bau arbeitet. Ein Szenario, welches wir zumindest in Erwägung ziehen sollten.