Wegweisendes Urteil aus Karlsruhe: Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die milliardenschweren Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank (EZB). Die Deutsche Bundesbank darf sich nach der am Dienstag verkündeten Entscheidung künftig nur unter bestimmten Bedingungen an dem Kaufprogramm beteiligen. Das oberste deutsche Gericht stellte sich erstmals gegen ein Urteil des höchsten EU-Gerichts. Die aktuellen Notprogramme der EZB in der Corona-Krise klammerten die Verfassungsrichter ausdrücklich aus (Az. 2 BvR 859/15 u.a.).
Um Konjunktur und Inflation anzukurbeln, stecken Europas Währungshüter seit März 2015 viele Milliarden Euro in den Kauf von Wertpapieren von Staaten und Unternehmen. Damit hat die Notenbank nach Auffassung der Verfassungsrichter ihr Mandat für die Geldpolitik überspannt.
Die Bundesbank darf künftig nur mitmachen, wenn der EZB-Rat nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem Kaufprogramm angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen. Die Bundesregierung hat nun drei Monate Zeit, die EZB zu einer Überprüfung des beanstandeten Kaufprogramms zu bewegen.
Bundesbank-Präsident Jens Weidmann, der auch Mitglied im EZB-Rat ist, erklärte: «Der EZB-Rat hat nun eine Frist von drei Monaten, seine Abwägungen der Verhältnismäßigkeit des Programms darzulegen. Die Erfüllung dieser Vorgabe unter Beachtung der Unabhängigkeit des EZB-Rats werde ich unterstützen.»
Nach den Worten von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) weisen die Karlsruher Richter deutlich auf die Grenzen der EZB hin. Dies sei auch institutionell von Bedeutung, denn das Gericht stelle sich bis zu einem gewissen Grad gegen den Europäischen Gerichtshof (EuGH), sagte Merkel in einer Sitzung der Unionsfraktion, wie die Deutsche Presse-Agentur von Teilnehmern erfuhr.
Das Urteil stellt nach Ansicht von Finanzminister Olaf Scholz (SPD) den Zusammenhalt in der Europäischen Währungsunion jedoch nicht in Frage. Er betonte zugleich: «Die Bundesbank darf sich vorerst weiterhin an dem gemeinsamen Kaufprogramm beteiligen.»
Die Bundesregierung will sich bei der EZB für eine gründliche Prüfung der Staatsanleihenkäufe einsetzen. «Darauf werden wir natürlich hinwirken, das ist klar», sagte Finanzstaatssekretär Jörg Kukies. «Wir gehen auch davon aus, dass die EZB das tun wird.» Der EZB-Rat wollte das Karlsruher Urteil am Dienstagabend in einer Sondersitzung bewerten. Danach werde es gegebenenfalls eine Stellungnahme geben, sagte ein Sprecher der Notenbank in Frankfurt.
In der Corona-Krise, die die europäische Solidarität in nie dagewesener Weise herausfordere, könne das Urteil «auf den ersten Blick irritierend wirken», sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle. Aber: «Um die Krise und ihre Folgen nachhaltig zu bewältigen, brauchen wir das Recht als festes gemeinsames Fundament.» Das Bundesverfassungsgericht schlage der EZB auch «keine Handlungsmöglichkeiten von vornherein aus der Hand».
Zwischen März 2015 und Ende 2018 hatte die Notenbank rund 2,6 Billionen Euro in Staatsanleihen und andere Wertpapiere gesteckt - den allergrößten Teil über das Programm PSPP (Public Sector Purchase Programme), auf das sich das Urteil bezieht. Zum 1. November 2019 wurden die umstrittenen Käufe neu aufgelegt, zunächst in vergleichsweise geringem Umfang von 20 Milliarden Euro im Monat.
Über Anleihenkäufe kommt viel Geld in Umlauf, das heizt normalerweise die Inflation an. Die EZB strebt mittelfristig eine Teuerungsrate knapp unter 2,0 Prozent an. Denn stagnierende oder fallende Preise können Verbraucher und Unternehmen verleiten, Investitionen aufzuschieben. Das kann die Konjunktur bremsen. Die Deutsche Bundesbank ist der größte Anteilseigner der EZB, mit etwas mehr als 26 Prozent. Entsprechend groß ist ihr Kaufvolumen.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte dem PSPP im Dezember 2018 recht pauschal seinen Segen erteilt. Massive Bedenken aus Karlsruhe ignorierten die Luxemburger Richter in ihrer Entscheidung.
An dieses Urteil sehen sich die deutschen Verfassungsrichter nicht gebunden. Es sei methodisch nicht mehr vertretbar und erscheine objektiv willkürlich, sagte Voßkuhle. In seinem 135-seitigen Urteil kommt der Karlsruher Senat zu dem Ergebnis, dass die Notenbank offensichtlich ihre Kompetenzen überschritten habe.
Das Programm habe «erhebliche ökonomische Auswirkungen auf nahezu alle Bürgerinnen und Bürger, die als Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer betroffen sind», sagte Voßkuhle. Für Sparvermögen ergäben sich deutliche Verlustrisiken, die Immobilienpreise stiegen überproportional. Außerdem begebe sich das Eurosystem in Abhängigkeit von der Politik der Mitgliedstaaten.
Diese Auswirkungen soll die EZB nun nachvollziehbar gewichten und mit ihren Zielen und den erhofften Vorteilen in Beziehung setzen. Anders sei eine effektive gerichtliche Kontrolle nicht möglich, urteilten die Karlsruher Richter.
Im Raum stand auch der Vorwurf, dass die Notenbank mit den Anleihenkäufen klammen Eurostaaten unter die Arme greift, also verbotenerweise Staatsfinanzierung betreibt. Eine offensichtliche Umgehung des Verbots sei nicht feststellbar, entschied Karlsruhe.
Um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise abzufedern, hat die EZB ihre Anleihenkäufe noch einmal deutlich ausgeweitet. Diese Hilfsmaßnahmen waren nicht Gegenstand der Entscheidung, wie Voßkuhle gleich zu Beginn ausdrücklich klarstellte.
Anlass für das Urteil waren vier Verfassungsbeschwerden aus den Jahren 2015 und 2016. Geklagt hatten unter anderen der frühere CSU-Vizeparteichef Peter Gauweiler sowie die Ex-AfD-Politiker Bernd Lucke und Hans-Olaf Henkel. Eine weitere Klägergruppe wurde von dem Berliner Finanzwissenschaftler Markus Kerber vertreten.
Die Kläger begrüßten das Urteil. «Ich bin sehr erfreut darüber, dass das Bundesverfassungsgericht uns im Wesentlichen Recht gegeben hat in unseren Klagen», sagte Lucke. Für den früheren CSU-Politiker Gauweiler zeigt die Entscheidung, dass Widerstand Sinn habe.
Die EU-Kommission erinnerte dagegen an den Vorrang europäischen Rechts. Die Urteile des EuGH seien für alle Mitgliedsstaaten bindend, betonte Kommissionssprecher Eric Mamer. Die Kommission achte die Unabhängigkeit der EZB bei der Umsetzung der Geldpolitik. Das Urteil müsse nun genau analysiert werden. Der EuGH selbst erklärte auf Anfrage, man kommentiere Urteile nationaler Gerichte nicht.
Ökonomen rechnen mit einer Fortsetzung der Staatsanleihenkäufe. Das Bundesverfassungsgericht halte den Druck auf die europäische Geldpolitik aufrecht, ohne aber «das schärfste Schwert der unmittelbaren Untersagung einer Teilnahme der Bundesbank zu schwingen», kommentierte Dekabank-Chefvolkswirt Ulrich Kater. Die nachträgliche Prüfung der Anleihenkäufe auf ihre Verhältnismäßigkeit sei zwar ein «Affront gegen die EZB. Aber mit ihrer Armada an Ökonomen und Juristen kann die EZB eine solche Prüfung problemlos bewältigen», argumentierte Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer.