Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie beurteilen Sie den "EU-Wiederaufbaufonds"?
Thomas Mayer: Der Fonds stellt insofern einen Dammbruch dar, als er zum ersten Mal eine Verschuldung der Europäischen Union in erheblichem Umfang vorsieht. Bisher konnten sich nur bestimmte Organisationen der EU, wie die Europäische Zentralbank oder der - auf zwischenstaatlichen Verträgen errichtete - Europäische Stabilitätsmechanismus in größerem Umfang verschulden. Die EU musste Ausgaben aus laufenden Einnahmen finanzieren. Wie eine eigene Verschuldung der EU mit den Europäischen Verträgen vereinbart werden kann, muss noch gezeigt werden. Aber die Juristen der EU sind ja bekanntlich recht erfinderisch und für den Europäischen Gerichtshof scheint zu gelten, dass grundsätzlich alle Maßnahmen rechtens sind, die zu einer stärkeren europäischen Integration führen. Dass die Südländer, zu denen sich neuerdings scheinbar auch Frankreich zählt, die Nordländer zu diesem weiteren Integrationsschritt erpresst haben, dürfte keine Rolle spielen. Ebenso dürfte unwichtig sein, dass die grundlegenden Probleme der Südländer, einschließlich Frankreichs, mit den durch den Fonds finanzierten Transfers nicht gelöst werden können. Dazu müssten diese Länder umfangreiche strukturelle Reformen durchführen. Die sind aber schmerzhaft, während man mit Transfers Wähler beglücken kann.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wer wird die Kosten für den "EU-Wiederaufbaufonds" schultern müssen?
Thomas Mayer: Weil man in besseren Zeiten keine Finanzreserven angesammelt hat, auf die man in der Krise hätte zurückgreifen können, holt man sich das Geld durch Verschuldung von der kommenden Generation. Die Anleihen der Union sollen bis zum Jahr 2058 zurückgezahlt werden, belasten also zukünftige Steuerzahler, die ihren Konsum einschränken müssen, damit das durch Verschuldung neu geschaffene Geld seine Kaufkraft behält. Das passt zu einer alternden Gesellschaft, die auch ihre steigenden Pensionsansprüche gnadenlos den Jungen aufbürdet. Man fragt sich, was die Politik überhaupt noch tun kann, wenn uns in ein paar Jahren ein ähnliches Unglück trifft. Aber die Umverteilung ist nicht auf die Generationen beschränkt. Auch unter den EU-Ländern soll umverteilt werden: vom eher sparsamen Norden zum finanziell immer klammeren Süden. Dabei sind die Bürger in den südeuropäischen Ländern nicht durchweg ärmer als die im Norden. Sie sind nur nicht bereit, ihre Staaten so zu finanzieren, dass sie den Ansprüchen der Bürger genügen. Da trifft es sich gut, wenn die Lücke durch Mittel der EU aufgefüllt werden kann.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Gleichzeitig betreibt die EZB eine de facto Nullzinspolitik. Welche volkswirtschaftlichen Konsequenzen hat das?
Thomas Mayer: Die Niedrigzinspolitik der EZB, die bis zu negativen Zinsen reicht, soll Unternehmen und private Haushalte zur Geldausgabe animieren: Die Unternehmen zu mehr Investitionen, die privaten Haushalte zu mehr Konsum. So soll das Wirtschaftswachstum gestärkt werden. In Wirklichkeit treibt diese Politik jedoch die Preise existierender Vermögenswerte in die Höhe und hält marode Unternehmen, die sich höhere Zinsen nicht leisten könnten, am Leben. Ohne neue Investitionen und Marktaustritt untoter „Zombie“-Unternehmen können keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Weil das Produktivitätswachstum schwach bleibt, können die Löhne nur mäßig steigen, der Konsum bleibt mau, und die Konsumentenpreisinflation niedrig. Mit fehlender Inflation rechtfertigt die EZB ihre Niedrigzinspolitik, so dass sich die Katze in den Schwanz beißt. So lange die für die Geldpolitik Verantwortlichen an ihren untauglichen ökonomischen Modellen festhalten, bleiben wir in diesem Teufelskreis gefangen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ist die Politik der EZB nötig, um den Euro zu retten? Sollte er überhaupt gerettet werden, koste es was es wolle?
Thomas Mayer: Weil die Eurozone kein optimaler Währungsraum ist und es keinen Eurostaat gibt, der mittels eines Länderfinanzausgleich die enormen Transfers zur Milderung der Folgen der ökonomischen Divergenzen mobilisieren könnte, fällt der Zentralbank die Rolle des Retters zu. In Zusammenarbeit mit den Banken kann sie über Kreditvergabe das nötige Geld schaffen, um die Schuldner zu finanzieren, die innerhalb der Währungsunion aus eigener Finanzkraft nicht überleben könnten. Dabei spielen die Staaten eine besondere Rolle. Passt die Wirtschaft eines Landes nicht in die EWU, muss sich der Staat verschulden, um die
dadurch geschaffenen Finanzlöcher zu stopfen. Da die Löcher immer größer werden, steigen die Schulden unablässig. Anleger könnten nicht mit der Rückzahlung rechnen, wenn die Europäische Zentralbank nicht als alternativer Kreditgeber auf Abruf bereitstünde. Finanz- und Geldpolitik sind in dieser Währungsunion also verbunden wie siamesische Zwillinge. Dafür aber wurden keine rechtlichen Grundlagen geschaffen. Aber nicht nur die mangelnde Rechtsgrundlage ist problematisch. Hinzu kommt, dass ein homogener Zins und Wechselkurs nicht zu den heterogenen Volkswirtschaften der Eurozone passt. Für Deutschland dürfte der Zins zu niedrig und der Wechselkurs des Euro zu schwach sein, für Italien ist aber der niedrige Zins lebenswichtig und der Wechselkurs immer noch zu stark. Transfers sollen Abhilfe schaffen, zementieren aber bloß die Unterschiede.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Laut einem kürzlich ergangenen Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist der Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB teilweise verfassungswidrig. Wir beurteilen Sie das?
Thomas Mayer: Vielleicht waren die Gründerväter der EWU einfach zu naiv. Es gab einen über viele Jahre dauernden Streit zwischen den Anhängern der sogenannten „Krönungstheorie“, die eine Währungsunion nur mit einer politischen Union wollten, und denen der sogenannten „Monetären Theorie“, die meinten, alles würde sich wohl ordnen, wenn man nur mal einheitliches Geld hätte. Faktisch ist man dann der „Monetären Theorie“ gefolgt - wenn auch nicht aus ökonomischen, sondern aus übergeordneten politischen Gründen. Damit stand die Überlegung im Raum, dass Geldemission „exogen“ erfolgen sollte, in einer Art virtuellem Goldstandard. Deshalb hat man vermeintlich sichere „Brandmauern“ gegenüber der Staatsfinanzierung und Fiskalpolitik in den Verträgen errichtet. Je weiter sich dann die EZB von der Vorstellung einer „exogenen“ Geldemission in einem virtuellen Goldstandard entfernt hat und je stärker sie das Gewicht auf die Verfolgung eines Inflationsziels legte, desto durchlässiger wurden die „Firewalls“. Und als der Bestand des Euro schließlich nur noch durch die Aufstellung der EZB als Kreditgeber der letzten Instanz für Staaten gesichert werden konnte, war die ursprüngliche, naive Blaupause Makulatur. Diese Entwicklung wurde rechtlich nie wirklich nachvollzogen. Insofern kommt mir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ungefähr so vor wie das einer Bauaufsicht, die moniert, dass sich das Gebäude im Zuge seiner Errichtung weit von den ursprünglich genehmigten Plänen entfernt hat. In der Bauwirtschaft steht man dann vor der Alternative: Nachträgliche Legitimierung des Schwarzbaus oder Abriss. Bei der EWU kann sich die Politik weder zum einen noch zum anderen durchringen. Manchem erscheint es einfacher, die Bauaufsicht zu demontieren.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ist die Krise des Euro nicht auch eine Krise des Kreditgeldsystems?
Thomas Mayer: Der Euro wurde im Kreditgeldsystem errichtet, das heißt, die Banken schaffen Geld, indem sie Kredite vergeben. Wie die Entwicklung gezeigt hat, ist dieses System inhärent instabil. Immer wieder entstehen Kredit- und Investitionszyklen, die dann zu Krisen wie der Finanzkrise von 2007/08 führen können. Das Kreditgeldsystem braucht aber auch einen Staat als Garant des durch Kreditvergabe der Banken geschaffenen Geldes und eine Zentralbank als Kreditgeber der letzten Instanz für Banken und den Staat. Der Euro ist also das Produkt eines instabilen Systems, das zudem mangels eines funktionierenden Eurostaats und rechtlichen Grundlage für eine im Notfall den Staat finanzierende Zentralbank auch noch unvollständig ist. Kurz: Er ist auf Sand gebaut.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was droht, wenn sich die Politik darauf verständigt, den Euro und das Geldsystem ständig zu "retten", anstatt es zu reformieren?
Thomas Mayer: Die Bedrohung entsteht auf zwei Ebenen: einer wirtschaftlichen und einer politischen. Auf der wirtschaftlichen Ebene droht der Zerfall der Kaufkraft des Geldes, weil zum Zusammenhalt der Eurozone immer mehr Geld zur Finanzierung schwächelnder Euroländer geschaffen werden muss. Am Ende dieser Entwicklung könnte die “Stagflation“ stehen, also mickriges reales Wirtschaftswachstum verbunden mit Inflationsraten im höheren einstelligen Bereich wie in den siebziger Jahren. Damit einher ginge höhere strukturelle Arbeitslosigkeit und die schleichende Enteignung der Geldsparer. Auf der politischen Ebene droht die Aushöhlung der Demokratie. Durch die Übergriffe der EZB und die Vergemeinschaftung der Schulden geht immer mehr politische Entscheidungsgewalt von den demokratisch gewählten nationalen Parlamenten auf die in politischen Hinterzimmern ernannten Bürokraten der EU über. Diese Bürokraten anerkennen nur noch die Autorität ihrer Kollegen im Europäischen Gerichtshof, auf deren Unterstützung sie sich verlassen können. Ob sich dieses hermetisch verschlossene System jemals wieder für demokratische Einflussnahme öffnen lässt, ist zweifelhaft. Der Ökonom Albert O. Hirschmann hat für unzufriedene Mitglieder eines Clubs zwei Wege aufgezeigt, ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen: Widerspruch oder Austritt. Großbritannien hat sich für den Austritt aus der EU entschieden. Wenn die Entwicklung so weitergeht wie bisher, werden ihm weitere Länder wohl folgen.
Info zur Person: Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des „Flossbach von Storch Research Institute“ mit Sitz in Köln. Zuvor war er Chefvolkswirt der „Deutsche Bank Gruppe“ und Leiter von „Deutsche Bank Research“. Davor bekleidete er verschiedene Funktionen bei Goldman Sachs, Salomon Brothers und – bevor er in die Privatwirtschaft wechselte—beim Internationalen Währungsfonds in Washington sowie beim „Institut für Weltwirtschaft“ in Kiel.