Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Lässt sich der Schaden bemessen, welcher der deutschen Wirtschaft durch Industriespionage entsteht?
Schmidt-Eenboom: Der Branchenverband „Bitkom“ bezifferte 2018 die Verluste der deutschen Industrie durch Wirtschaftsspionage für den Zeitraum der zurückliegenden zwei Jahre auf 43,4 Milliarden Euro. Die dicksten Brocken waren dabei der Imageschaden mit 8,8 Milliarden, Patentrechtsverletzungen mit 8,5 Milliarden und Umsatzeinbußen in Höhe von 7,7 Milliarden Euro.
Für das Abschmelzen des deutschen Technologie-Vorsprungs vor europäischen und anderen Mitbewerbern haben jedoch inzwischen andere Faktoren an Bedeutung gewonnen: Legale Firmenübernahmen wie beim Augsburger Unternehmen KUKA durch China oder Joint Ventures, die entweder freiwillig geschehen oder durch die Landesgesetzgebung erzwungen werden. Eine Blaupause für diese Entwicklung gibt das französisch-deutsche Verhältnis. War der französische Nachrichtendienst in den 1980er Jahren wegen des Know-how-Bedarfs der nationalen Rüstungsindustrie Frankreichs einer der aggressivsten Angreifer, ist durch die Fusionen bei der Luft- und Raumfahrt-Industrie die Spionage dem normalen Informationsaustausch gewichen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie funktioniert Industriespionage konkret, und was können Firmen tun, um sich vor ihr zu schützen?
Schmidt-Eenboom: Wirtschafts- und Industrie-Spionage durch Nachrichtendienste stützt sich in erster Linie auf die weitgefächerten Möglichkeiten der Überwachung jedweder Form der Telekommunikation und des geheimen Eindringens in Computer-Netzwerke. In begrenztem Umfang kommen Methoden der Spionage durch Menschen wie der Diebstahl oder das Auslesen von Laptops auf Dienstreisen, das Kopieren ganzer Geräte in Zoll-Lagern, die Durchforstung von Altpapier oder in der Spitze die Rekrutierung eines Agenten in der Zielfirma hinzu.
Großunternehmen verfügen häufig über Sicherheitsabteilungen, die von ehemaligen Top-Geheimdienstlern geleitet werden, und können sich damit weitaus besser schützen als Mittelständler. Aber auch solche Unternehmen sind nicht gegen Abhörmaßnahmen gefeit, wie das Beispiel Airbus zeigt. Für vier Hacker-Angriffe nutzten die Angreifer im Jahr 2019 den Umweg über Zuliefer-Firmen des Konzerns.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Erleichtert die 5G-Technologie Spionage-Attacken ausländischer Dienste?
Schmidt-Eenboom: Ausgerechnet von den Five-Eyes, dem Spionage-Verbund aus USA, Kanada, Großbritannien, Australien und Neuseeland, hören wir die lautesten Warnungen, dass der Ausbau des deutschen 5G-Netzes durch Huawei ein Einfallstor für chinesische Spionage sei. Technisch ist dieser Vorwurf nicht haltbar, weil nicht der Ausrüster, sondern der Provider den Zugang gewährt.
Allerdings kann ein Ausrüster beim Bau und bei der Wartung des Netzes erkennen, wo größere Datenströme ausgeleitet werden. Insofern fürchten die Staaten, die Spionage unter Freunden betreiben, dass Huawei quasi ein Hilfsorgan der deutschen Spionageabwehr werden könnte.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie sieht es mit dem Projekt Gaia X und seiner Datensicherheit aus?
Schmidt-Eenboom: Der Grundgedanke einer europäischen Cloud, die ein Stück digitaler Souveränität zurückerobert und einen Schutz vor Sanktionen der USA auf diesem Feld schafft, ist lobenswert. Zu glauben, dass damit auch eine deutlich höhere Datensicherheit verbunden sei, ist jedoch eine Illusion. Es gibt kaum eine Chiffrier-Technik, die nicht Einfallstore für Nachrichtendienste bietet. Eine europäische Cloud weckt zudem automatisch die Begehrlichkeiten der National Security Agency (NSA). Diese hat seit Jahrzehnten eine Reihe europäischer Regierungen, das Europa-Parlament, europäische Unternehmen und die SWIFT (Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication), die Finanztransaktionen zwischen circa 11.000 Banken, Brokerhäusern, Börsen und anderen Finanzinstituten in etwa 200 Ländern leitet, im Visier.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie wichtig wird Künstliche Intelligenz für die Spionage in Zukunft sein?
Schmidt-Eenboom: KI gehört bereits seit dem Ende der 1980er Jahre zum Werkzeugkasten der NSA. Die bloße Durchforstung der Datenströme mit Wortbanken ergab ein so großes Meldungsaufkommen, das es mit menschlicher Analyse nicht mehr zu bewältigen war. Seitdem ist das weltweite Kommunikations-Volumen durch das Internet um ein Vielfaches angewachsen. Nur eine Vorauslese der durch das Abhören von Internetknoten, Seekabeln oder Satelliten erfassten Verkehre durch Künstliche Intelligenz, die Inhalte analysiert, Absender- und Empfänger-Informationen dazu ins Verhältnis setzt und beim automatisierten Decodieren verschlüsselter Informationen hilft, kann den nachrichtendienstlichen Weizen von der lapidaren Spreu trennen; Tendenz steigend und auf Quantenrechner angewiesen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Worin unterscheiden sich China und die USA bei ihren Spionage-Schwerpunkten?
Schmidt-Eenboom: Die Chinesen – vor allem ihr Militärnachrichtendienst - betreiben massive Industrie-Spionage, die vor allem auf das Erbeuten von Know-how ausgerichtet ist. Ihr Hauptinstrument ist die technische Aufklärung. Typisch dafür ist der Hackerangriff auf den Göppinger Software-Hersteller "Teamviewer"; 2016 ausgeführt von der „Winnti-Gruppe“, die zuvor auch Thyssenkrupp und Bayer angegriffen hatte.
Die amerikanische Wirtschaftsspionage ist nicht auf Technologie-Raub aus, sondern verfolgt zwei andere Ziele. Zum einen geht es um politische Eingriffsmöglichkeiten, wenn amerikanische und deutsche Unternehmen in einem Bieterwettbewerb um Großaufträge aus einem Drittland stehen. In solchen Fällen wird der deutsche Konkurrent ausgeforscht, um im Vergabeland Wettbewerbsvorteile zu erzielen.
Zum anderen geht es darum, gerade gegenüber einer bedeutenden Exportnation wie der Bundesrepublik massiven Einfluss auf deren Außenwirtschaftspolitik zu nehmen.
In ihrem gemeinsamen Sondervotum zum NSA-Untersuchungsausschuss kamen die Fraktionen der Linken und des Bündnis 90/Die Grünen zu dem Ergebnis, dass Wirtschaftsspionage durch befreundete Staaten ein blinder Fleck bleibe, weil der Verfassungsschutz offenkundig wegsehe. Der Nachweis amerikanischer Wirtschaftsspionage gegen die Bundesrepublik war aus den Enthüllungen von Edward Snowden nicht zu erbringen. Er gelingt jedoch durch den Rückgriff auf einen weit größeren Fundus an geheimen US-Regierungsdokumenten, den 700.000 in Wikileaks publizierten Dokumenten. Für die Genehmigung von Ausfuhren, die internationalen oder nationalen Restriktionen unterliegen könnten, ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) zuständig. Deshalb wurde der Wikileaks-Bestand nach dem Stichwort BAFA respektive »Federal Economic and Export Licensing Agency« durchforstet. Diese Stichprobe ergab 101 als vertraulich oder geheim eingestufte Dokumente aus dem Zeitraum von 2006 bis 2010, in denen US-Diplomaten diese Behörde erwähnten. Der typische Vorgang bestand in einer Weisung des amerikanischen Außenministeriums an den US-Botschafter in Berlin, beim Auswärtigen Amt vorstellig zu werden, um in einem Non-Papier (ein inoffizielles Arbeitsdokument, das ein Diplomat dem Repräsentanten eines anderen Landes übergibt – Anm. d. Red.) auf anstehende deutsche Exporte zu verweisen, die nach Auffassung der US-Regierung kritisch waren. Das Auswärtige Amt prüfte zunächst, ob eine entsprechende Ausfuhrgenehmigung beantragt wurde, nahm Rücksprache mit dem betroffenen Unternehmen, holt gegebenenfalls Informationen beim Zollkriminalamt oder dem Bundesnachrichtendienst ein und legte dem US-Botschafter die gewonnenen Erkenntnisse in einem Non-Paper vor. Der US-Botschafter übermittelte die deutsche Antwort kommentiert an seinen Dienstherrn, dem State Department, und an eine Vielzahl amerikanischer Geheimdienstbehörden. Dazu einige Beispiele, die unterschiedliche Facetten der US-Überwachung deutscher Unternehmen beleuchten:
Ende Februar 2008 berichtete die US-Botschaft in Berlin nach Washington, dass es gelungen sei, das deutsche Unternehmen „Deckel Maho Gildemeister“ (DMG) für von der „Mohammad Ishaq Engineering Works“ in Karatschi gewünschte Lieferung von Ersatzteilen für die universelle Bohr- und Fräsmaschine vom Typ DMU 60P sowie entsprechende technische Hilfe zu sensibilisieren. Das Non-Paper des Auswärtigen Amts hatte auf eine amerikanische Protestnote hin mitgeteilt, 2002 sei der Export solcher Maschinen nach Pakistan genehmigt worden, weil zu diesem Zeitpunkt keine abträglichen Informationen über das Unternehmen in Karatschi vorgelegen hätte. DMG habe mitgeteilt, dass es bisher keine neue Anfrage bekommen habe und überdies zugesagt, die deutschen Behörden in einem solchen Falle zu unterrichten.
Am 23. Mai 2007 hat das Auswärtige Amt ein Non-Paper der US-Botschaft erhalten, das davor warnte, dass die schwedische Firma „Mahaco“ bei der „Alexander Wiegand GmhH & Co KG“ (WIKA) Druckmessumformer beschaffen wolle, deren Endverbleib im Iran liege. Das Auswärtige Amt teilte der US-Seite daraufhin mit, dass WIKA die Exportgenehmigung für 200 solcher Geräte vom Typ IS 20 F nach Schweden beantragt habe, aber dass der Antrag noch nicht endgültig beschieden sei. Man werde die US-Regierung jedoch über die endgültige Entscheidung unterrichten.
Am 5. Mai 2008 reagierte das Auswärtige Amt mit einem Non-Paper auf eine Intervention der US-Botschaft in Berlin vom 18. Januar, die darauf hingewiesen hatte, dass das iranische Unternehmen „Shahid Bagheri Industrial Group“ über die Iranian Khodro Company (IKCO) LKWs der Modelle 4053 und 3340 des Herstellers Mercedes Benz beschaffe. Die Exportkontrollabteilung des Auswärtigen Amts teilte dem Leiter der Abteilung »Internationale Angelegenheiten« in der Berliner US-Botschaft mit, dass für die sowohl zivil, als auch militärisch nutzbaren Lastkraftwagen kein Exportgenehmigungsantrag vorläge, und dass eine Firmenauskunft von Mercedes Benz nicht verfügbar sei. Das Auswärtige Amt schloss sein Non-Paper mit dem Satz: "We look forward to continuing our excellent cooperation in the field of export controls“ (Wir freuen uns darauf, unsere hervorragend Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Exportkontrolle fortzusetzen).
Ein Hauptfeld der amerikanisch-deutschen Auseinandersetzungen waren deutsche Exporte in den Iran. Die Bundesrepublik wollte sich nur an internationale Kontrollregime halten, die USA jedoch wollten auch legale Ausfuhren verhindern. Der gravierendste Fall ist der amerikanische Druck auf Angela Merkel im Juli 2008 bei der Ausfuhr von Erdgasverflüssigungsanlagen in den Ölstaat Iran. Das Bundesausfuhramt hatte keine rechtliche Handhabe, um den Export von drei kleineren Anlagen der Firma „Steiner-Prematechnic“ im Umfang von 67 Millionen Euro zu stoppen. Drei deutsche Konzerne – E.ON, Vattenfall und die BASF-Tochter Wintershall – wollten größere Anlagen in den Iran liefern und übten politischen Druck aus. Aber die Kanzlerin beugte sich der amerikanischen Linie und versprach »informellen Druck« zur Unterlassung der unter keine Embargobestimmungen fallenden Ausfuhren auszuüben.
Die USA betreiben also nicht nur Wirtschaftsspionage gegen Deutschland, sie benutzen die Ergebnisse ihrer Spionage-Tätigkeit auch erfolgreich, um die Bundesregierung unter Druck zu setzen. Wobei das Kanzler- und das Auswärtige Amt nicht die einzigen Ministerien waren, die mit US-Geheimdiensterkenntnissen über den ökonomischen Bereich der Bundesrepublik konfrontiert wurden. Im Oktober 2007 traf der Staatssekretär im US-Finanzministerium, Robert Kimmitt, in Hamburg mit dem damaligen Bundesfinanzminister, Peer Steinbrück, zusammen. Der als geheim eingestufte Bericht der US-Generalkonsulin Karen Johnson an das State Department über diese Besprechung vom 23. Oktober erläuterte unter Punkt 7, dass Kimmitt den deutschen Finanzminister über amerikanische Geheimdienst-Erkenntnisse unterrichtete, die deutlich machten, dass nach dem Rückzug von Deutscher Bank und Commerzbank aus dem Iran-Geschäft nunmehr zwei deutsche Privatbanken, und zwar die BHF-Bank (eine Tochter der Deutschen Bank) sowie die ebenfalls in Frankfurt ansässige Deutsche Zentral-Genossenschaftsbank in diese Lücke gesprungen seien. Der US-Staatssekretär bat Steinbrück, sich diese Informationen, die an sein (Steinbrücks) Büro und den BND gegangen seien, sorgfältig anzusehen. Steinbrück sagte zu, dies nach seiner Rückkehr nach Berlin zu tun. Damit ist evident, dass sowohl das Bundeswirtschaftsministerium als auch der BND Kenntnis davon hatten, dass die Auslandsaktivitäten deutscher Geldinstitute von den US-Nachrichtendiensten überwacht werden.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass die USA eher Wirtschafts-Spionage, die Chinesen eher Industrie-Spionage betreiben?
Schmidt-Eenboom: Die USA maßen sich an, ihre einseitig verhängten Sanktionsmaßnahmen gegenüber einzelnen Staaten auch anderen Akteuren – sowohl Staaten als auch Unternehmen – aufzuzwingen, aktuell zum Beispiel mit dem „Caesar Act“ gegenüber Syrien. Um das System dieses Drucks glaubhaft aufrechterhalten zu können, müssen die US-Nachrichtendienste in der Lage sein, jeden Geldgeber Assads und jede ausländische Beteiligung am unerwünschten Wiederaufbau des Landes aufzuspüren.
China betreibt – wie gesagt – vornehmlich Industriespionage, hat aber im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 begonnen, auch politische und wirtschaftspolitische Aufklärung in und an den Rändern der EU zu betreiben. Schon auf mittlere Sicht wird sich auch Pekings Augenmerk verstärkt auf außenwirtschaftliche Positionen in der EU richten.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Immer häufiger ist nicht nur von Geo-Politik, sondern auch von Geo-Ökonomie die Rede.
Schmidt-Eenboom: Dass die mit Abstand größte Militärmacht der Welt nicht in der Lage ist, die politischen Verhältnisse in Afghanistan oder dem Irak durch den Einsatz von Streitkräften in ihrem Sinne zu gestalten, hat diesen Paradigmenwechsel befördert. Die waffenstarrende Ohnmacht der USA gegenüber Umweltkatastrophen, Rassenunruhen und Pandemien tut ein Übriges.
Die Bataillone, die über einen zukünftigen Supermacht-Status entscheiden, heißen Wirtschaftskraft, Währungsreserven beziehungsweise im Umkehrschluss Staatsverschuldung sowie die Kontrolle und Finanzierung von Handels- und Rohstoff-Routen – Stichwort Neue Seidenstraße oder Nord Stream II. Wenn die Geo-Ökonomie die Zukunft der Machtverhältnisse wesentlich mitbestimmt, läuft die langfristige Entwicklung auf ein „China first“ hinaus.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Haben die Staaten der EU die Möglichkeit, in einer bald multipolaren Welt eine eigenständige Kraft zu sein oder drohen sie, zwischen den beiden Giganten USA und China zerrieben zu werden?
Schmidt-Eenboom: Der EU fehlt es dazu an politischer Geschlossenheit. Insbesondere die nationalen Eigeninteressen der mittelosteuropäischen Staaten an ökonomischen Wohltaten aus der VR China erweisen sich als Achillesferse. Kerneuropa ist zu klein, um allein ein Gegengewicht gegen eine von den USA und China beherrschte bipolare Welt auf die Beine zu stellen. Nur die Renaissance einer Blockfreien-Bewegung, die eine globale Allianz demokratischer Staaten schafft, die weder Vasall Washingtons noch Pekings sein wollen, wäre dazu in der Lage. Die Achse Paris-Berlin müsste dazu Verbündete wie Indien, Kanada oder Schweden finden.
Zum Autor: Erich Schmidt-Eenboom ist Leiter des „Forschungsinstituts für Friedenspolitik“ in Weilheim (Oberbayern) und konzentriert seine Arbeit auf westliche Nachrichtendienste, vornehmlich den BND. Das jüngste Buch des ehemaligen Bundeswehr-Offiziers heißt „Spionage unter Freunden – Partnerdienstbeziehungen und Westaufklärung der Organisation Gehlen und des BND“ (Berlin 2017).
ANMERKUNG: Dieser Artikel erschien bereits im Juni letzten Jahres. Auf Wunsch einer ganzen Reihe von Lesern veröffentlichen wir ihn heute nochmal