Politik

Großbritannien: Wo Think Tanks Wahlen entscheiden können

Lesezeit: 7 min
31.07.2020 11:27  Aktualisiert: 31.07.2020 11:27
In keinem anderen europäischen Land gibt es so viele Denkfabriken wie in Großbritannien. Doch nicht nur ihre Zahl ist beeindruckend, sondern auch ihr enormer Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung.
Großbritannien: Wo Think Tanks Wahlen entscheiden können
Auch die ehemalige Premierministerin Großbritanniens, Margaret Thatcher, ist eng mit Denkfabriken verbunden. (Foto: dpa)
Foto: John_Giles

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Laut einer Zählung des Global Go To Think Tank Index Report für 2019 gab es dort zuletzt 321 Denkfabriken und somit deutlich mehr als in den folgenden Staaten Deutschland mit 218 und Frankreich mit 203 Denkfabriken. Weltweit haben demnach nur die USA (1871), Indien (509) und China (507) mehr Think Tanks als Großbritannien. Doch nicht nur die Zahl der britischen Denkfabriken ist beeindruckend, sondern auch die Wirksamkeit ihrer Arbeit. In dem genannten Bericht haben die Autoren eine Liste der 176 besten Denkfabriken der Welt erstellt, auf der sich immerhin 14 britische Organisationen finden. Dies sind:

  • Chatham House – Platz 6
  • International Institute for Strategic Studies (IISS) – Platz 7
  • Amnesty International (AI) – Platz 40
  • IDEAS – Platz 45
  • Centre for Economic Policy Research (CEPR) – Platz 46
  • Royal United Services Institute (RUSI) – Platz 54
  • Institute of Economic Affairs (IEA) – Platz 65
  • Overseas Development Institute (ODI) – Platz 72
  • Centre for European Reform (CER) – Platz 76
  • Institute of Development Studies (IDS) – Platz 77
  • Demos – Platz 90
  • Civitas: Institute for the Study of Civil Society – Platz 97
  • Centre for Policy Studies (CPS) – Platz 101
  • Adam Smith Institute (ASI) – Platz 130

Die Vielfalt der in dieser Liste aufgezählten Organisationen erklärt sich daraus, dass die Autoren des Berichts den Begriff „Think Tank“ durchaus großzügig fassen. So beschreibt sich etwa das International Institute for Strategic Studies als ein „internationales Forschungsinstitut, das objektive Informationen über militärische, geopolitische und geoökonomische Entwicklungen liefert, die zu Konflikten führen könnten“. Chatham House hingegen will „Regierungen und Gesellschaften beim Aufbau einer nachhaltig sicheren, wohlhabenden und gerechten Welt unterstützen“. Amnesty International hingegen setzt sich nach eigenen Angaben für die weltweite Einhaltung der Menschenrechte ein.

Die Autoren des Berichts schreiben: „Think Tanks sind Organisationen zur Analyse und zum Engagement in der öffentlichen Politikforschung, die politikorientierte Forschung, Analysen und Ratschläge zu nationalen und internationalen Fragen erstellen und dadurch politische Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit in die Lage versetzen, fundierte Entscheidungen über die öffentliche Politik zu treffen.“ Daher betrachten sie im Übrigen hierzulande zum Beispiel auch die Stiftungen der verschiedenen Parteien, Transparency International oder das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) als Think Tanks.

In Großbritannien, dessen Parlament bereits seit mehr als drei Jahrhunderten durchgängig besteht, gibt es Think Tanks schon deutlich länger als in den meisten anderen Ländern. Die Fabian Society, die im Jahr 1884 gegründet wurde und die in der Folge erfolgreich dazu beigetragen hat, das einst größte Kolonialreich der Weltgeschichte in ein mittelmäßiges Land sozialistischer Prägung umzuwandeln, nimmt für sich in Anspruch, der älteste Think Tank des Landes zu sein. Wie stark der Einfluss der Fabian Society war und ist, zeigt sich darin, dass viele ihrer Mitglieder im Jahr 1900 an der Gründung der britischen Labour-Partei mitwirkten. Denkfabrik und Partei arbeiteten im Verlauf der Jahrzehnte Hand in Hand und sind bis heute eng miteinander verbunden.

Doch erst Mitte des 20. Jahrhunderts kamen Think Tanks nach amerikanischem Vorbild auch in Großbritannien immer mehr in Mode. Legendär ist der Einfluss, den das 1955 gegründete Institute of Economic Affairs (IEA) auf Margaret Thatcher hatte, die im Jahr 1975 Chefin der Konservativen Partei wurde und dann von 1979 bis 1990 britische Premierministerin war. Thatcher wurde bereits 1959 ins Parlament gewählt. In ihren frühen Jahren war sie vor allem eine Kämpferin gegen die ökonomische Ineffizienz, die mit staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft einhergeht. Dementsprechend sollte das erste Gesetz, das sie ins Parlament einbrachte, der Presse mehr Rechte bei der Recherche zu den Ausgaben der lokalen Behörden einräumen. Das Gesetz wurde beschlossen, und Thatcher machte sich damit sowohl Freunde als auch Feinde.

Erst Ende der 60er Jahre kam Thatcher erstmals in Kontakt mit dem Institute of Economic Affairs. Das IEA ist der erste einer ganzen Reihe marktwirtschaftlich orientierter Think Tanks in Großbritannien. „Unsere Aufgabe besteht darin, das Verständnis für die grundlegenden Institutionen einer freien Gesellschaft zu verbessern, indem wir die Rolle der Märkte bei der Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme analysieren und erläutern“, heißt es auf seiner Webseite. Und weiter: „Angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Herausforderungen, denen Großbritannien und das globale Umfeld im weiteren Sinne gegenüberstehen, ist es wichtiger denn je, dass wir die intellektuellen Argumente für eine freie Wirtschaft, niedrige Steuern, Freiheit im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen und ein geringeres Maß an Regulierung fördern.“

Als Margaret Thatcher 1979 in die Downing Street einzog, schrieb sie an den IEA-Gründer und Vorsitzenden Antony Fisher, er habe „das Meinungsklima geschaffen, das unseren Sieg möglich gemacht hat“. Und in der Dokumentarserie „Commanding Heights“ des amerikanischen Fernsehsenders PBS sagte sie einmal: „Es begann mit Sir Keith [Keith Jospeph, Mitgründer des CPS] und mir, mit dem Centre for Policy Studies und Lord Harris am Institute of Economic Affairs. Ja, es begann mit Ideen, mit Überzeugungen. So ist es. Sie müssen mit Überzeugungen beginnen. Ja, immer mit Überzeugungen.“

Das von Margaret Thatcher hier genannte Centre for Policy Studies (CPS) ist ebenfalls ein marktwirtschaftlich orientierter Think Tank. Er wurde im Jahr 1974 von Keith Jospeph und Thatcher selbst gegründet. Auf seiner Webseite ordnet sich das CPS selbst als Mitte-rechts ein und sagt, dass sein Ziel darin bestehe, „eine neue Generation konservativen Denkens zu entwickeln, das auf der Förderung von Unternehmertum, Eigentum und Wohlstand aufbaut“. Wie das Institute of Economic Affairs so nimmt auch das Centre for Policy Studies für sich in Anspruch, die treibende Kraft hinter der Thatcher-Revolution gewesen zu sein, die das Fortschreiten des Landes immer weiter nach links zumindest um etwa ein Jahrzehnt aufhalten konnte.

Wenn man den Think Tanks glauben mag, so orientiert sich die Zielrichtung ihrer politischen Einflussnahme einzig und allein an ihren jeweiligen Prinzipien oder Überzeugungen. Doch es halten sich die Vorwürfe, dass bei der Gestaltung der ausgeklügelten Empfehlungen, die der Politik von den Think Tanks heute zur Verfügung gestellt werden, auch deren große Geldgeber ein entscheidendes Wort mitzureden haben. Und es sorgt mitunter für Empörung, dass teils so wenig über die Geldgeber bekannt ist. Denn die großen Denkfabriken lassen sich bei diesem Thema nur wenig in die Karten schauen.

Der britische Fernsehsender BBC hat letztes Jahr im Rahmen einer Reportage bei mehreren großen Think Tanks nachgefragt, wer denn eigentlich ihre großen Geldgeber sind. Doch bei mehreren Think Tanks erhielten die Reporter dazu keine Auskunft, ihre entsprechenden Fragen wurden – wenn auch höflich – in aller Deutlichkeit zurückgewiesen. Zwar müssen Regierungsmitglieder in Großbritannien offenlegen, wenn sie sich mit Vertretern der Wirtschaft treffen. Doch wenn sie sich mit Vertretern von Think Tanks treffen, so können diese Treffen stattfinden, ohne dass die Öffentlichkeit jemals etwas davon erfährt. Wegen dieses Mangels an Transparenz ist es auch schwer einzuschätzen, wie groß der Einfluss der Denkfabriken bei welchen Entscheidungen tatsächlich gewesen ist.

Manche Think Tanks wie das Institute for Government und Policy Network veröffentlichen die Namen ihrer Geldgeber. Das Institute of Economic Affairs hingegen gibt zwar die Höhe seiner Einnahmen an. Doch die Namen der Geldgeber und erst recht die Höhe der einzelnen Spenden hält man hier geheim. Das Adam Smith Institute und die TaxPayers' Alliance (TPA) geben noch nicht einmal Auskunft über die Höhe ihrer Einnahmen.

„Wir respektieren die Privatsphäre jedes einzelnen, der für TPA Geld spendet“, sagte ein Mitarbeiter der TaxPayers' Alliance gegenüber der BBC. Tatsächlich ist der Think Tank nicht verpflichtet, seine Geldgeber offenzulegen, da er als privates Unternehmen organisiert ist. Viele der Spenden sind nach Angaben des Mitarbeiters klein. Und wenn jemand misstrauisch ist, weil TPA seine Geldgeber nicht nennt, dann könne er auch nichts machen. Zudem kritisiert der Mitarbeiter, dass Gegner der TaxPayers' Alliance sich mitunter nicht mit den Argumenten des Think Tanks auseinandersetzen, sondern stattdessen dessen geheime Finanzierung anprangern.

Auch beim Institute of Economic Affairs werden die Forderungen zurückgewiesen, Auskunft über ihre Geldgeber zu geben: „Die Leute, die nicht aufhören, diese Fragen zu stellen, mögen einfach unsere Ansichten nicht“, sagt dort ein Mitarbeiter. Von dem Think Tank ist zumindest bekannt, dass er sechsstellige Geldsummen aus den USA erhalten hat.

Im Jahr 2018 ging Greenpeace mit einer versteckten Kamera zum Institute of Economic Affairs und zeichnete dort auf, wie ein Mitarbeiter mit den sehr guten Kontakten des Think Tanks zur damaligen britischen Regierung prahlte. Diese Prahlerei hat sicherlich einen wahren Kern, ist möglicherweise aber auch darauf zurückzuführen, dass man hier versucht, sich selbst wichtiger und mächtiger darzustellen, als man tatsächlich ist.

Auch Margaret Thatcher scheint die Prahlerei des Institute of Economic Affairs irgendwann einmal zu viel geworden zu sein. Denn der Think Tank prahlte nicht nur immer wieder mit seinen guten Kontakten zu der Ikone der britischen Politik, sondern schrieb auch einen Großteil des Erfolgs der Thatcher-Revolution dem eigenen Wirken am IEA zu.

Auf der Festveranstaltung zum 30. Jahrestag des Institute of Economic Affairs sprach Thatcher als letzte Rednerin, nachdem vor ihr bereits zehn Männer gesprochen hatten. Sehr liebenswürdig sagte sie über IEA-Gründer Antony Fisher und über Ralph Harris und Arthur Seldon, die ersten beiden Leiter des Instituts, dass sie „Großbritannien gerettet haben“. Und dann fügte sie mit ihrer legendären Schärfe hinzu: „Aber vergessen Sie nicht, auch wenn die Hähne krähen mögen, es ist die Henne, die das Ei legt.“


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