Zu Beginn des aktuellen Jahres entflammte ein Ölstreit zwischen Minsk und Moskau, als Weißrussland die von Russland vorgeschlagenen Lieferbedingungen in Frage stellte und zusätzliche Rabatte und Entschädigungen forderte. Moskau war dagegen, und infolgedessen wurden die russischen Lieferungen an die weißrussischen Raffinerien für das gesamte Quartal drastisch begrenzt.
Dies führte zu einer schweren Krise in der weißrussischen Ölindustrie, die die Raffinerien dazu zwang, die Nutzungsraten zu senken, die meisten Exporte von Erdölprodukten zu stoppen, nationale Ölvorräte zu verarbeiten und (viel teureres) Rohöl aus alternativen Quellen zu importieren.
Weißrussland hatte anschließend beschlossen, eine neue heimische Ölpipeline zu bauen und mehr nicht-russisches Öl zu importieren, einschließlich der allerersten Lieferungen von Rohöl aus Saudi-Arabien und den USA. Darüber hinaus gaben die Weißrussen Anfang Juni 2020 an, mit ihren saudischen und aserbaidschanischen Amtskollegen über mögliche langfristige Rohöllieferverträge gesprochen zu haben. Seit Anfang des Jahres hat Weißrussland zusätzlich Öl aus Norwegen und Aserbaidschan - und durch Swap-Deals mit Kasachstan - und Saudi-Arabien gekauft.
Zu dieser Diversifizierungs-Strategie gehörte auch der von Präsident Lukaschenko geplante Schritt, einen möglichen Rückfluss auf der Druzhba-Pipeline aus Richtung Polen als eine wirtschaftlichste Option anzusehen.
Darüber hinaus hatte Lukaschenko Ende April 2020 beschlossen, eine neue Ölpipeline zu bauen, die die Städte Gomel und Gorki miteinander verbindet. Die Idee hinter der Investition war, mögliche Öllieferungen aus Richtung Ukraine und Polen zu ermöglichen, um nicht nur die Mazyr-Raffinerie, sondern auch die Raffinerie in Nowopolotsk zu beliefern. Für solche Sendungen müsste das Rohöl derzeit durch den russischen Abschnitt des Druzhba-Systems gepumpt werden, teilt die staatliche weißrussische Nachrichtenagentur Belta mit. Regierungsbeamte aus Warschau und Minsk führten diesbezügliche Gespräche.
Am 15. Mai 2020 kündigte Außenminister Uladzimir Makey an, dass die USA beginnen würden, Weißrussland mit Öl zu versorgen. Die erste Lieferung erfolgte im Juni an den Hafen in Klaipeda.
Am selben Tag hatte US-Außenminister Mike Pompeo mitgeteilt: „Diese Woche wird die erste Lieferung von US-Rohöl nach Weißrussland versendet. Dieses wettbewerbsfähige Abkommen des US-amerikanischen Energiehändlers United Energy Trading mit Unterstützung des US-amerikanischen Unternehmens Getka und seines polnischen Partners UNIMOT stärkt die belarussische Souveränität und Unabhängigkeit und zeigt, dass die Vereinigten Staaten bereit sind, US-amerikanischen Unternehmen, die an einem Eintritt in das belarussische Land interessiert sind, Handelsmöglichkeiten zu bieten.“
Machtkampf um Weißrussland
Im Zusammenhang mit den aktuellen Ereignissen in Weißrussland agieren die USA vorsichtiger als die EU. Auf Nachfrage von Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL), ob Sanktionen gegen Weißrussland in Planung seien, antwortete Pompeo: „Wir haben noch nicht entschieden, wie die angemessene Reaktion aussehen wird, aber ich kann Ihnen sagen, dass wir mit unseren europäischen Freunden, unseren freiheitsliebenden Freunden, zusammenarbeiten werden, die gleichermaßen besorgt darüber sind, was passiert ist. Wir wollen gute Ergebnisse für das belarussische Volk und werden handeln in Übereinstimmung damit.“
Die EU wirft Lukaschenko offen vor, die Präsidentenwahl gefälscht zu haben und mit Einsatz von Gewalt die Versammlungs-, Medien- und Meinungsfreiheit einzuschränken. Bereits am Freitag hatten die Außenminister deswegen neue Sanktionen auf den Weg gebracht. Russlands Präsident Wladimir Putin warnte unterdessen bei mehreren Telefonaten mit Spitzenpolitikern der EU vor einer Einflussnahme aus dem Ausland auf Weißrussland. Das könnte die Lage verschlechtern, meinte er dem Kreml zufolge bei einem Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sagte der Deutschen Welle: „Wenn ein Diktator am Ende ist, ist es das Beste, man findet einen Weg ohne weitere Gewalttaten.“ Europa müsse deutlich zum Ausdruck bringen, dass es „alle seine Möglichkeiten nutzt, um auf die Einhaltung von Menschenrechten und Demokratie und auf Gewaltfreiheit zu setzen“.
Die offensiven Worte der EU und Deutschlands werden aber sicherlich nicht dazu führen, dass die Demonstranten im Land gestärkt werden. Ganz im Gegenteil. Die Regierung in Minsk wird sich aufgrund des Drucks der EU erneut stärker in Richtung Russland orientieren, um von seinen Plänen russische Ölimporte durch Energieimporte aus den USA, Saudi-Arabien, Norwegen, Polen (Rückfluss-Importe) abzulassen.
Am 15. August 2020 sagte Lukaschenko: „In Bezug auf die militärische Komponente haben wir eine Vereinbarung mit der Russischen Föderation im Rahmen des Unionsstaats und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit. Diese Momente passen zu dieser Vereinbarung. Deshalb hatte ich heute ein langes, detailliertes Gespräch mit dem russischen Präsidenten über die Situation. Ich muss sagen, ich war sogar etwas überrascht - [Putin] ist sich absolut bewusst, was passiert.“
Putin sagte hingegen, dass Russland alles tun werde, um die Sicherheit Weißrusslands zu garantieren. Dabei waren die Beziehungen zwischen Moskau und Minsk im Verlauf der Präsidentschaftswahlen an einem Tiefpunkt gelangt, zumal kurz vor den Wahlen 33 russische Söldner von den Sicherheitskräften in Minsk festgenommen wurde. Ihnen wurde vorgeworfen, Aktionen durchführen zu wollen, um die Wahlen zu sabotieren.
Vor den Wahlen und den Protesten in Weißrussland war Lukaschenko darauf bedacht, einen Balanceakt zwischen dem Westen und Russland beizubehalten. Doch die aktuellen Ereignisse haben dazu geführt, dass die EU den weißrussischen „Pufferstaat“ zwischen Ost und West in die Arme Russland gedrängt hat. Doch die Schritte der EU haben noch etwas anderes bewirkt: eine mögliche wichtigere energiepolitische Rolle Polens und der Ukraine bei der Energieversorgung Weißrusslands wurde zunichte gemacht.
Weißrusslands Strategie zur Diversifizierung seiner Ölimporte wurde damit nahezu unmöglich gemacht. Das Land wird sich künftig sicherlich nicht mehr trauen, auf eine energiepolitische Unabhängigkeit von Russland zu pochen, indem es Öl aus anderen Staaten importiert.
Es ist noch nicht abzusehen, ob Russland die persönliche Zukunft Lukaschenkos sichern wird. Allerdings ist das völlig unerheblich. Denn künftig wird sich Weißrussland noch stärker in der Einflusssphäre Russlands befinden - egal, wer regiert. Dabei hatte es bisher den Anspruch gehabt, sich politisch weitgehend neutral zu verhalten.
Die Geostrategen in Moskau dürfen sich bei den selbst ernannten Top-Diplomaten aus Brüssel bedanken. Doch auch den USA dürfte diese Entwicklung entgegenkommen, weil US-amerikanische Geopolitiker kein Interesse daran haben können, dass die EU in Weißrussland an Einfluss gewinnt.
Dieses Land wird sich auch künftig im Spannungsfeld zwischen Ost und West befinden, was in erster Linie mit seiner geographischen Lage zusammenhängt.
Die geopolitische Lage Weißrusslands
Weißrussland verfügt über eine Topographie, die fast vollständig flach ist - mit wenig geografischen Barrieren oder Schutzmerkmalen. Die weißrussischen Grenzen im Osten zu Russland und im Westen zu Polen und Litauen sind praktisch weit offen. Eine Ausnahme bilden jedoch die Pripet-Sümpfe an der südlichen Grenze zur Ukraine. Aufgrund des Fehlens dieser Barrieren und der Präsenz mächtigerer Staaten in der Region war Weißrussland historisch ein Staat, das seine Unabhängigkeit nur schwer bewahren konnte.
Das Land liegt in der nordeuropäischen Ebene, der geopolitischen Autobahn Europas. Dies ist das Gebiet, das historisch gesehen der wichtigste Invasionsweg europäischer Mächte wie Deutschland und Frankreich nach Russland und umgekehrt war. Russland übernahm im 18. Jahrhundert die Kontrolle über Weißrussland von der polnisch-litauischen Union und baute es in das russische Reich und dann in die Sowjetunion ein.
Das Land wurde während des Zweiten Weltkriegs durch Deutschland unterworfen und verlor etwa 25 Prozent seiner Bevölkerung. Mit der Niederlage der Deutschen wurde es wieder in die Sowjetunion eingegliedert.
Seit dem Zerfall der Sowjetunion ist Weißrussland unabhängig, doch faktisch dient es in vielerlei Hinsicht immer noch als De-facto-Pufferstaat zwischen Russland und Europa. Im Verlauf der Sowjet-Ära gehörte es zu jenen Ländern innerhalb des Blocks, das am stärksten industrialisiert gewesen war. Es verfügt nach wie vor insbesondere in der Hauptstadt Minsk über eine große industrielle Grundlage. Weißrussland verfügt zudem über fruchtbare landwirtschaftliche Flächen und ist einer der weltweit führenden Produzenten von Kali und anderen Düngemitteln.
Als wichtiger Handels- und Transitknotenpunkt für russische Energieträger nach Europa, ist das Land ein dauerhafter Wettbewerbsschwerpunkt zwischen Russland und dem Westen.