Streit in der Bundesregierung um die Vergemeinschaftung von Schulden in der EU: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sieht die im Zuge der Corona-Krise vereinbarte gemeinsame Schuldenaufnahme in Europa als eine begrenzte Maßnahme an. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte heute, es handle sich um eine außergewöhnliche Antwort auf eine ganz außergewöhnliche Notsituation, in der sich Europa befinde. Die Befugnisse der EU-Kommission, im Namen der EU Mittel am Kapitalmarkt aufnehmen zu dürfen, seien zeitlich und hinsichtlich Höhe und Umfang «klar begrenzt». Sie seien ausgerichtet auf die Bewältigung der aktuellen Krise – es handele sich daher um eine „temporäre Maßnahme“.
Dagegen ist aus Sicht von Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) die gemeinsame Schuldenaufnahme in Europa keine krisenbedingte Eintagsfliege. «Der Wiederaufbaufonds ist ein echter Fortschritt für Deutschland und Europa, der sich nicht mehr zurückdrehen lässt», sagte der SPD-Kanzlerkandidat den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Sonntag). Die EU nehme erstmals gemeinsame Schulden auf, setze diese gezielt gegen die Krise ein und verpflichte sich, bald mit der Rückzahlung zu beginnen: «All das sind tiefgreifende Veränderungen, vielleicht die größten Veränderungen seit Einführung des Euro.» Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron betont, dass nun der Einstieg in eine gemeinsame Verschuldung in der EU erreicht sei.
Die Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedsländer hatten sich vor einem Monat auf ein Corona-Krisenprogramm im Umfang von 750 Milliarden Euro geeinigt. 390 Milliarden Euro sollen als direkte Zuschüsse und 360 Milliarden Euro als Kredite gewährt werden. Außerdem wird die EU-Kommission erstmals europäische Schulden an den Finanzmärkten aufnehmen, die bis 2058 zurückgezahlt werden sollen.
Deutschland hatte sich jahrelang gegen eine gemeinsame Schuldenaufnahme und Zuschüsse an überschuldete Länder wie Italien, Frankreich und Spanien gestemmt. Angesichts der Corona-Pandemie hatten Merkel und Scholz dann aber in enger Abstimmung mit Frankreich einen Kursschwenk vollzogen.
Dass die Große Koalition schwer angeschlagen ist, ist allgemein bekannt (die DWN haben dazu kürzlich eine ausführliche Analyse veröffentlicht). Hält man sich die Aussagen von Merkel und Scholz vor der Entscheidung für die gemeinsame Schuldenaufnahme vor Augen, kommt man nicht umhin, zu konstatieren, dass Merkel die Entscheidung sehr viel schwerer gefallen ist als Scholz. Am Wochenende ist es zu ersten Annäherungen von Grünen und FDP gekommen, eine rot-grün-liberale Koalition wurde zumindest nicht mehr völlig ausgeschlossen. Die FDP ist strikt gegen die Vergemeinschaftung der Schulden - vielleicht verschwindet die Idee einer Ampel-Koalition genauso rasch von der Bildfläche, wie sie aufgetaucht ist.