Die Welthandelsorganisation (WTO) steht inmitten der größten Krise ihrer 25-jährigen Geschichte führungslos da. Ihr bisheriger Generaldirektor Roberto Azevedo trat wie angekündigt am Montag zurück. Der Brasilianer wechselt zum Getränkekonzern PepsiCo. Wer seine Nachfolge antreten wird, ist nach wie vor unklar. Bislang haben sich acht Kandidaten um den Führungsposten beworben, doch will die US-Regierung einen Amerikaner ins Amt hieven. Das wiederum trifft auf den Widerstand aus China und Europa. Dadurch droht ein monatelanges Führungsvakuum - ausgerechnet zu einer Zeit mit wachsenden Handelskonflikten und -hemmnissen.
"Dies ist in der Tat ein neuer - wenn auch leider nicht unerwarteter - Tiefpunkt für die WTO", sagte der kanadische Ökonom Rohinton Medhora, Präsident des Instituts Centre for International Governance Innovation. "Die Organisation ist seit einiger Zeit, genauer gesagt seit mehreren Jahren, richtungslos und wird nun funktional führungslos sein." Das Berufungsgericht der WTO, das über internationale Handelsstreitigkeiten entscheidet, ist durch die Blockade Washingtons bei der Ernennung neuer Richter ohnehin gelähmt.
Eigentlich sollte ein Nachfolger Azevedos bis zum 7. November ausgewählt werden. In der Praxis könnten sich die Dinge durch die Ungewissheit vor der US-Präsidentenwahl am 3. November in den Vereinigten Staaten weiter verzögern, sagen Experten. Schwierig ist aber nicht nur die Besetzung des Chefpostens. Der Haushalt für 2021 muss bis Jahresende stehen. Auch hier könnten die USA blockieren.
US-Präsident Donald Trump hält nicht viel von der WTO. Er wirft ihr etwa vor, China nicht für unlautere Handelspraktiken zur Rechenschaft zu ziehen. Auch sieht er sein Land durch das WTO-Zollsystem benachteiligt. Trump hat sogar erwogen, aus der WTO auszusteigen.
Ex-Chef: WTO überlebt nur, wenn man jetzt schnell handelt
Die Welthandelsorganisation muss nach Überzeugung ihres scheidenden Generaldirektors Roberto Azevêdo deutlich agiler werden. Sein Rat an seine Nachfolgerin oder seinen Nachfolger lautet deshalb: "Sorgen Sie dafür, dass die Mitgliedsländer verstehen, dass sie schnell handeln müssen. Der Luxus der Zeit ist nicht auf unserer Seite. Die WTO kann wie andere internationale Organisationen nur überleben, wenn die Mitgliedsländer schnell reagieren."
Die Welt erlebe wegen der Coronavirus-Pandemie "die größte Rezession in Friedenszeiten". Der Reflex sei, zunächst die eigene Umgebung zu schützen, das eigene Land, die engsten Partnerländer. Das sei nicht immer die Reaktion, die nötig sei, wenn eine Krise die ganze Welt betreffe. Die Länder müssten sich bereits jetzt auf die nächste Krise vorbereiten und einen Mechanismus finden, der automatisch dafür sorge, dass in einer Krise allen geholfen werde.
Azevêdo scheidet Ende August ein Jahr früher als geplant aus dem Amt aus. Er machte dafür persönliche Gründe geltend. Er habe mehrere Projekte vor sich, sagte er, ohne Einzelheiten zu nennen. Er werde aber nicht in Genf bleiben und nicht in seine Heimat Brasilien zurückkehren. Seine Frau Maria Nazareth Farani Azevêdo ist Botschafterin Brasiliens bei den Vereinten Nationen in Genf. Ihr Name fiel in diplomatischen Zirkeln unter anderem im Zusammenhang mit einem möglichen Botschafterposten in Washington.
Um Azevêdos Nachfolge bewerben sich Kandidatinnen und Kandidaten aus Mexiko, Nigeria, Kenia, Ägypten, Südkorea, Saudi-Arabien, Moldau und Großbritannien. Handelsdiplomaten in Genf glauben nicht, dass die Entscheidung über die Nachfolge vor den US-Wahlen am 3. November fällt.