Die EZB könnte im Zuge ihres Strategiechecks dazu übergehen, ihr Inflationsziel flexibler anzusteuern. EZB-Präsidentin Christine Lagarde verwies am Mittwoch in einer Videoschalte auf der Finanzkonferenz "The ECB and Its Watchers" darauf, dass es dazu derzeit eine Debatte unter Währungshütern gebe. Dabei stelle sich die Frage, ob Zentralbanken sich verpflichten sollten, nach längeren Zeiten mit zu niedriger Inflation danach entsprechend auch einen höheren Preisdruck zu tolerieren. Einen solchen Strategieschwenk hatte zuletzt die US-Notenbank vollzogen.
Die EZB strebt knapp unter zwei Prozent Inflation als Idealwert für die Wirtschaft an. Dieses Ziel wird aber seit Jahren verfehlt - mindest den offiziellen Daten zufolge. Diese sind jedoch aus Sicht des Finanzexperten Michael Bernegger viel zu niedrig angesetzt. Bei der laufenden Strategieüberprüfung stellt die EZB auch das Maß für die Inflationsmessung auf den Prüfstand.
Bislang legt die EZB ihr Hauptaugenmerk dabei auf den für den europäischen Vergleich angelegten Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI). Lagarde sagte, dieses Maß habe zwar gute Dienste getan und sei auch kontinuierlich weiter entwickelt worden. Doch da sich die Wirtschaft veränderte, müssten auch Konzepte entwickelt werden, die die Kosten der Menschen in ihrem Alltagsleben stärker abbildeten - dazu gehörten etwa Kennzahlen zum selbst genutzten Wohneigentum.
Im Unterschied zu anderen Währungsräumen wie beispielsweise den USA ist selbst genutztes Wohneigentum nicht im Warenkorb des Europäischen Statistikamts (EZB) Eurostat enthalten. Bislang werden dort nur Mieten erfasst - mit einem Gewicht von 6,5 Prozent. Bei vielen Haushalten machen jedoch die Kosten für das Wohnen mehr als ein Drittel des verfügbaren Monatseinkommens aus - ein Punkt, auf den auch Bernegger in der Vergangenheit immer wieder hingewiesen hatte. Lagarde sagte, es gehe der EZB nicht darum, die Koordinaten der Inflationsmessung zu verrücken. Vielmehr solle das Konzept "zukunftssicher" sein.
Auf dem Forum diskutieren Notenbanker, Finanzmarktteilnehmer und Wissenschaftler aktuelle Fragen der Geldpolitik. Die Beiträge aus der diesjährigen Konferenz werden in die Strategieüberprüfung der EZB einfließen. Der Strategiecheck soll im zweiten Halbjahr 2021 abgeschlossen werden. Die EZB hatte letztmalig im Jahr 2003 ihre Strategie überarbeitet.