Der chinesische Außenminister Wang Yi hat kürzlich erklärt, Aggression und Expansionsdrang habe es in den „Genen“ der chinesischen Nation nie gegeben. Dass er dies sagen konnte, ohne eine Miene zu verziehen, ist erstaunlich.
Aggression und Expansionsdrang sind offensichtlich keine genetischen Eigenschaften, sondern Markenzeichen der Amtszeit von Präsident Xi Jinping. Xi, der sich in mancherlei Hinsicht die expansionistischen Tendenzen Mao Zedongs zu eigen gemacht hat, versucht, eine moderne Version des Tributsystems einzuführen, das die chinesischen Kaiser dazu verwendet haben, ihre Autorität über ihre Vasallenstaaten zu sichern: Unterwarf man sich dem Kaiser, konnte man gleichzeitig von den Vorteilen des Friedens und des Handels mit dem Kaiserreich profitieren.
Für Xi schien die COVID-19-Pandemie – die die weltweiten Regierungen seit Monaten auf Trab hält – eine ideale Gelegenheit, bei seiner Agenda schnelle Fortschritte zu machen. Daher wies er die Volksbefreiungsarmee (VBA) im April und Mai an, heimlich in die eisigen Grenzregionen des indischen Ladakh einzudringen, wo sie stark befestigte Lager baute.
Der Plan war aber nicht ganz so klug, wie Xi wahrscheinlich glaubte. Anstatt Chinas regionale Vorherrschaft zu festigen, hat er den Widerstand der indopazifischen Mächte intensiviert, die dabei sind, ihre Sicherheitszusammenarbeit zu vertiefen. Dazu gehört auch Chinas mächtigster Konkurrent, die Vereinigten Staaten, und so hat das Reich der Mitte eine bilaterale strategische Konfrontation verschärft, die technologische, wirtschaftliche, diplomatische und militärische Dimensionen besitzt. Jetzt wird China von internationaler Isolation und Lieferausfällen bedroht, was Xi zu Plänen veranlasst, enorme Mengen mineralischer Ressourcen und Landwirtschaftsprodukte zu horten.
Aber Xis wirkliche Fehleinschätzung an der Grenze im Himalaya bezieht sich auf Indien, das seine Besänftigungspolitik gegenüber China beendet hat. Es überrascht nicht, dass China die Vorstöße der VBA immer noch fortsetzt und als defensiv darstellt: Erst Ende letzten Monats forderte Xi führende Beamte auf, in der Himalaya-Region die „Grenzverteidigungen zu verstärken“ und „Grenzsicherheit herzustellen“.
Indien ist allerdings bereit zu kämpfen. Im Juni, nachdem die VBA im ladakhischen Galwan-Tal indische Patrouillen überfallen und getötet hatte, führte ein Handgemenge zum Tod mehrerer chinesischer Soldaten – der ersten VBA-Kräfte, die seit über vier Jahrzehnten, abgesehen von UN-Friedenseinsätzen, im Dienst gefallen sind. Xi war darüber so schockiert, dass sich China, während Indien seine 20 gefallenen Soldaten als Märtyrer ehrte, weigerte, seine genaue Opferzahl bekannt zu geben.
Die Wahrheit ist, dass China ohne Überraschungseffekt nicht dazu in der Lage ist, Indien in einer militärischen Konfrontation zu besiegen. Und Indien stellt sicher, dass es nicht noch einmal auf dem falschen Fuß erwischt wird. Das Land hat sich nun an die chinesischen Militärbewegungen an der Grenze im Himalaya angepasst und sein gesamtes logistisches Netzwerk aktiviert, um den nötigen Nachschub für Truppen und Ausrüstung im kommenden strengen Winter gewährleisten zu können.
In einem weiteren Schlag gegen China haben indische Spezialkräfte kürzlich strategische Bergpositionen besetzt, von denen aus sie wichtige chinesische Manöver auf der Südseite des Pangong-Sees überwachen können. Im Gegensatz zur VBA, die es bevorzugt, in unbewachte Grenzgebiete einzudringen, agierten die indischen Streitkräfte direkt vor Chinas Nase inmitten einer großen VBA-Mobilmachung.
Und als wäre das für China noch nicht demütigend genug gewesen, machten die Inder nur zu gern öffentlich, dass ihrer Sondereinsatztruppe an der Grenze, die die Operation leitete, auch tibetische Flüchtlinge angehören. Ein tibetischer Soldat, der bei dem Einsatz von einer Landmine getötet worden war, wurde mit einem gut besuchten Militärbegräbnis geehrt.
Indiens Botschaft ist klar: Chinas Ansprüche auf Tibet, das zwischen Indien und China lag, bis es von Mao Zedongs Regime 1951 annektiert wurde, sind nicht annähernd so begründet wie behauptet. Die Tibeter betrachten China als brutale und repressive Besatzungsmacht, und jene von ihnen, die den Kampf gegen die Besatzer aufnehmen wollten, traten scharenweise den indischen Grenztruppen bei, die nach Maos Krieg gegen Indien im Jahr 1962 gegründet worden waren.
Und hier liegt das Problem: Chinas Ansprüche auf die riesigen indischen Himalaya-Grenzgebiete gründen auf seinen angeblichen historischen Verbindungen zu Tibet. Aber wenn China Tibet einfach nur besetzt hält, wie kann es dann Souveränität über diese Grenzgebiete fordern?
Auf jeden Fall waren Xis jüngste Bemühungen, Gebiete unter Kontrolle bekommen, die nicht China gehören, viel schwieriger zu beenden als zu beginnen. Wie seine Aktionen im Südchinesischen Meer zeigen, bevorzugt Xi asymmetrische oder hybride Kriegsführung, die konventionelle und irreguläre Taktiken mit psychologischer und medienorientierter Manipulation, Desinformation, Rechtsstreitigkeiten und Zwangsdiplomatie verbindet.
Aber während es Xi auf See gelungen ist, die geopolitische Landkarte zu verändern, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern, scheint es klar, dass dies an der chinesischen Grenze im Himalaya nicht funktionieren wird. Stattdessen setzt Xis Vorgehen die sino-indischen Beziehungen aufs Spiel, die für die regionale Stabilität von entscheidender Bedeutung sind. Er will weder aufgeben noch einen offenen Krieg führen – den er wahrscheinlich nicht eindeutig genug gewinnen könnte, um nach dem Grenzdebakel seinen Ruf wiederherzustellen.
China mag zwar über die weltweit größte Berufsarmee verfügen, aber die indische ist auch beachtlich. Und wichtiger ist noch, dass Indiens kampferprobte Truppen Erfahrung mit niedrigintensiven Konflikten in großer Höhe haben. Die VBA hingegen hat seit ihrer verheerenden Invasion in Vietnam 1979 keinerlei Kampferfahrungen mehr gemacht. Angesichts dessen würde ein sino-indischer Krieg im Himalaya wahrscheinlich in einer Pattsituation enden, bei der beide Seiten große Verluste erleiden.
Xi scheint zu hoffen, dass er Indien einfach zermürben kann. In einer Zeit, in der die indische Wirtschaft aufgrund der immer noch eskalierenden COVID-19-Krise ihren bis dahin schlimmsten Rückschlag erleidet, hat er Indien gezwungen, immer mehr Ressourcen in die nationale Verteidigung zu stecken. Unterdessen sind die Verletzungen des Waffenstillstands durch Pakistan, Chinas engen Verbündeten, auf ein Rekordhoch gestiegen, was Indien der Gefahr eines Zweifrontenkriegs aussetzt. Wie einige chinesische Militäranalysten vorgeschlagen haben, könnte Xi die Beschäftigung der Amerikaner mit ihrer bevorstehenden Präsidentschaftswahl ausnutzen, um gegen Indien einen schnellen, örtlich begrenzten Schlag zu führen, ohne direkt einen Krieg zu beginnen.
Aber es scheint weniger wahrscheinlich, dass Indien dem chinesischen Druck nachgibt, als dass Xi ein Erbe kostspieliger Fehler hinterlassen wird. Mit seinem gescheiterten Abenteuer im Himalaya hat er einen mächtigen Gegner provoziert und sich selbst ins Abseits manövriert.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
Brahma Chellaney ist Professor für Strategische Studien am Zentrum für Politikforschung in Neu-Delhi, Mitarbeiter der Robert-Bosch-Akademie in Berlin und Verfasser von neun Büchern, darunter Asian Juggernaut, Water: Asia’s New Battleground und Water, Peace, and War: Confronting the Global Water Crisis.
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