Finanzen

Derivate - Finanzielle Massenvernichtungswaffe oder wichtige Stütze der Wirtschaft? Teil 1

Die Finanz-Instrumente sind heftig umstritten. Einige sehen sie als notwendige Absicherungs-Vehikel, andere nur als reine Spekulationsobjekte ohne realwirtschaftlichen Mehrwert.
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22.10.2020 09:00
Lesezeit: 5 min
Derivate - Finanzielle Massenvernichtungswaffe oder wichtige Stütze der Wirtschaft? Teil 1
Großinvestor Warren Buffett. (Foto: dpa)

Der legendäre Investor Warren Buffett ist einer der bekanntesten Kritiker der Derivate. Bereits 2002 schrieb er im Jahresbericht von Berkshire Hathaway, dass er und sein Unternehmen Derivate als „Zeitbomben“ betrachten – und zwar nicht nur für die beteiligten Vertragspartner, sondern auch für das Wirtschaftssystem insgesamt. Derivate seien „finanzielle Massenvernichtungswaffen, die Gefahren bergen, die jetzt zwar verborgen, aber potenziell tödlich sind“.

Doch unbeeindruckt von diesen Warnungen der „Orakels von Omaha“ aus dem Jahr 2002 ist das Handelsvolumen von Derivaten in der Folge rapide angestiegen. Trotz eines starken Rückgangs nach der Weltfinanzkrise ab 2007, welche die Gefahren der Derivate offenbarte, handeln Unternehmen in aller Welt weiterhin mit einer großen Zahl dieser Papiere. Zu den am meisten gehandelten Derivaten gehören Terminkontrakte, Optionen, Differenzkontrakte und Swaps.

Hunderte Billionen Dollar an (Buch)-Ansprüchen

Laut Zahlen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) betrug allein der Marktwert – nicht zu verwechseln mit dem Nominalwert – aller außerbörslich vereinbarten Derivatekontrakte Ende letzten Jahres rund 11,6 Billionen (= 11.600 Milliarden) Dollar, wobei der Großteil (72 Prozent) auf Zinskontrakte entfiel. Der Nominalwert (auch Bruttomarktwert genannt) hat sich in den letzten Jahren stabilisiert und liegt heute deutlich niedriger als auf seinem Hochpunkt während der Finanzkrise im Jahr 2008.

Zum Vergleich: Der gesamte Marktwert aller außerbörslich gehandelten Derivate, die auch „over the counter“ oder OTC-Derivate genannt werden, liegt etwas höher als der Gesamtwert allen weltweit vorhandenen Goldes von aktuell rund 10 Billionen Dollar, aber zum Beispiel etwa um den Faktor zehn niedriger als der Wert aller weltweit an den Börsen gehandelten Unternehmen mit grob 100 Billionen Dollar.

Mitunter wird der Gesamt-Nominalwert aller Derivate sogar auf 1 Billiarde Dollar oder mehr geschätzt. Doch diese Schätzungen beziehen sich nicht auf den Marktwert der Papiere, sondern auf ihren Nennwert. Dazu ein Beispiel: Eine Kaufoption, die den Besitzer berechtigt, eine bestimmte Aktie zu einem bestimmten Termin zum Preis von 50 Dollar vom Vertragspartner zu kaufen, hat zwar den Nennwert 50 Dollar, aber zum Beispiel einen Marktwert von nur 1 Dollar.

Derivate: Abgeleitete Werte auf eine Referenzgröße

Als Derivate bezeichnet man Verträge, die auf dem Wert eines zugrundeliegenden Vermögenswertes beruhen. Zu den zugrundeliegenden Vermögenswerten gehören Anleihen, Währungen, Zinssätze, Marktindizes und – wie im Beispiel von eben – Aktien. Dabei ist der eine Vertragspartner bestrebt, sich gegen ein bestimmtes Risiko abzusichern oder (meistens mit Hebel) auf gewisse Kursentwicklungen des Basiswertes zu spekulieren.

Der andere Vertragspartner ist üblicherweise ein Marktmacher mit einem Derivatebuch, welches er zentral bewirtschaftet. Wichtige Voraussetzung dafür ist, dass der Marktmacher sowohl im Derivate- als auch im Kassamarkt eine genügend große Aktivität hat, um sich abzusichern und um das Gesamtrisiko des Buchs zu steuern. Typische Marktmacher sind die großen Investmentbanken.

Derivate als Absicherung

Derivate sind für viele Unternehmen in der Realwirtschaft, aber auch für Versicherungen, Pensionskassen oder Banken unabdingbar als Instrument der finanziellen Kontrolle. Gängige Verwendungszwecke von Derivaten in Unternehmen ist die Absicherung gegen Wertverluste wichtiger Aktiven, oder gegen eine ungewollte Zunahme bestimmter Verpflichtungen (Passiven) in der Bilanz. Auch sollen damit in der Erfolgsrechnung Einkommensströme gesichert oder Ausgabenströme kontrolliert und eingegrenzt werden.

Beispiele dafür sind die Absicherung von Währungsrisiken bei Einkünften oder Ausgaben/Verpflichtungen in fremder Währung. Dies wird üblicherweise über Terminkontrakte oder über Währungs-Optionen gemacht. Schon mittelständische Exporteure oder Importeure haben unter Umständen erhebliche Wechselkursrisiken, weil ihre Kosten in der Währung ihres Landes anfallen, ihre Einnahmen aber in Fremdwährungen erfolgen. Noch bedeutender können diese Risiken für multinationale Unternehmen mit sehr großen Auslandsoperationen sein.

Unternehmen mit sehr großen Bilanzen wie Banken, Lebensversicherungen oder Pensionskassen müssen die Zinsrisiken auf der Aktiv- und Passivseite absichern. Das Zinsrisiko entsteht dadurch, dass die Banken etwa Kredite mit langer Laufzeit und Zinsbindung – zum Beispiel Hypotheken oder Investitionskredite an Unternehmen – vergeben, und diese mit Kundengeldern mit sehr kurzen Laufzeiten wie Sichtguthaben oder Termin- und Spareinlagen finanzieren.

Bei Lebensversicherungen und Pensionskassen ist es genau umgekehrt. Sie haben extrem langfristige Verpflichtungen, etwa 20 bis 40 Jahre in die Zukunft, wenn die Versicherten ins Pensionsalter eintreten, aber häufig Aktiven mit viel kürzeren Laufzeiten. Die Absicherung dieser ungleichen Zinsrisiken ist nicht nur eine unternehmensinterne Entscheidung, sie wird ihnen auch durch die Bilanzvorschriften der Regulatoren vorgegeben bzw. nahegelegt.

Versicherungen und andere Verwalter großer Vermögenswerte wie Pensionskassen oder Staatsfonds müssen auch die Schwankungsrisiken ihrer Anlagen begrenzen. So macht es etwa Sinn, die Extremrisiken gegen scharf sinkende Aktienkurse in einem Crash durch den mehr oder weniger systematischen Kauf von Put-Optionen abzusichern, die weit aus dem Geld, also weit vom aktuellen Kassakurs entfernt sind.

Sehr große Risiken entstehen auch im Rohstoffbereich, einerseits für die Produzenten, die typischerweise sehr hohe Fixkosten haben, und andererseits für die verarbeitende Industrie solcher Rohstoffe, welche die Schwankungen ihrer Einkaufspreise nicht eins zu eins auf ihre Kunden abwälzen können. Gerade in diesem Bereich ist oft eine sehr hohe Absicherungsaktivität über Derivate – üblicherweise unbedingte (Futures) oder bedingte (Optionen) Termingeschäfte – feststellbar. Dadurch kann beispielsweise ein Mineralöl-Konzern einen Verkaufspreis für einen Termin in der Zukunft schon heute vereinbaren (Absicherung vor Preisrückgang) oder ein Mehlproduzent einen bestimmten in der Zukunft zu bezahlenden Weizenpreis schon heute festlegen (Absicherung vor Preisanstieg).

Die Absicherung von Preisänderungen durch Termingeschäfte ist letztlich der Ursprung des gesamten Derivate-Sektors, auch wenn einige der komplexen Finanzprodukte von heute nicht mehr viel mit dem Ursprungsgedanken gemein haben.

Zusammengefasst sind Derivate unabdingbar in einer Welt mit flexiblen Wechselkursen und divergierenden Wirtschaftspolitiken, mit internationaler Wirtschaftsaktivität und mit Anlagen der Vorsorgegelder oder des Staatsvermögens in Finanzmärkten. Sie sind mit anderen Worten keineswegs des Teufels, sondern entsprechen einem Bedürfnis der finanziellen Kontrolle. Ohne Derivate gäbe es immense Bilanzverluste, Konkurse und keine oder viel weniger internationale Wirtschaftsaktivität.

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Jede Anlage am Kapitalmarkt ist mit Chancen und Risiken behaftet. Der Wert der genannten Aktien, ETFs oder Investmentfonds unterliegt auf dem Markt Schwankungen. Der Kurs der Anlagen kann steigen oder fallen. Im äußersten Fall kann es zu einem vollständigen Verlust des angelegten Betrages kommen. Mehr Informationen finden Sie in den jeweiligen Unterlagen und insbesondere in den Prospekten der Kapitalverwaltungsgesellschaften.

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