Verkehrte Wirtschaftswelt in der Corona-Krise: Der seit Jahrzehnten starke Süden Deutschlands ist seit Beginn der Pandemie besonders schwach. Bayern und Baden-Württemberg liegen auf einmal mit Negativzahlen in der Spitzengruppe. Die Kurzarbeiterzahlen sind in den zwei erfolgsverwöhnten Bundesländern ebenso überdurchschnittlich wie der Einbruch des Bruttoinlandsprodukts. Woran liegt's - und zeichnet sich da ein größeres Problem ab als nur Corona?
Die nackten Zahlen: In Baden-Württemberg schrumpfte die Wirtschaftsleistung im ersten Halbjahr um 7,7 Prozent, in Bayern um 7 Prozent - beides schlechtere Werte als der Bundesdurchschnitt von minus 6,6 Prozent. Und in Sachen Kurzarbeit lagen Bayern und Baden-Württemberg im August nach Schätzung des Münchner Ifo-Instituts bundesweit auf Platz eins und zwei. Nirgendwo anders war der Anteil betroffener Arbeitnehmer höher.
Das Wohl und Wehe der in beiden Südländern sehr starken Industrie hängt an den Exporten, die in der Krise eingebrochen sind. «Die Wirtschaftsstärke ist da Fluch und Segen zugleich: In diesen Bereichen schlägt eine Krise viel stärker durch als im Dienstleistungssektor, der das leichter verkraften kann», sagt Achim Wambach, der Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts ZEW in Mannheim. «Wenn Lieferketten unterbrochen sind, betrifft das den Dienstleistungssektor weniger als das verarbeitende Gewerbe.»
Der Ökonom verweist darauf, dass Baden-Württemberg auch in der Finanzkrise 2008/2009 überdurchschnittlich hart getroffen wurde. «Umgekehrt ist die Produktion danach aber auch schnell wieder hochgefahren.»
Der Süden ist Maschinenbau- und Industrieland
Im Gegensatz zu vielen anderen Regionen Europas ist in Süddeutschland die Bedeutung des verarbeitenden Gewerbes im vergangenen Jahrzehnt sogar wieder gewachsen. Allein in Bayern baute die Metall- und Elektroindustrie (M+E) nach Zahlen der dortigen Branchenverbände bayme und vbm von 2010 bis 2019 über 160 000 neue Arbeitsplätze auf. «Wir haben in Bayern und Baden-Württemberg sehr exportabhängige Industrien, insbesondere eine starke Abhängigkeit vom Automobilsektor», meint Jürgen Michels, der Chefvolkswirt der BayernLB. «Das macht es jetzt schwerer, schnell wieder zu alter Stärke zurückzufinden.»
Die Autobranche war schon vor Corona in Schwierigkeiten: Der allmähliche Abschied vom Verbrennungsmotor bedeutet für die süddeutschen Hersteller Daimler, BMW und Audi eine große Herausforderung, ebenso internationale Handelskonflikte oder die Alterung der Bevölkerung in den Industrienationen. «Ich sehe eher das Problem, dass die Struktur der Wirtschaft insgesamt sehr stark auf wenige Produkte ausgerichtet ist», sagt Robert Lehmann vom Münchner Ifo-Institut. «Wenn Sie nur wenige Standbeine haben, dann stürzen Sie im Falle einer Krise in eine tiefe Rezession. Von daher wäre es begrüßenswert, eine breiter aufgestellte Wirtschaftsstruktur zu etablieren.»
Die BayernLB hat in einer gemeinsamen Studie mit dem Prognos-Institut eine Neuorientierung empfohlen - weg von der bisherigen Exportabhängigkeit und hin zu einer größeren Bedeutung des Inlands.
Doch bedeutet dies, dass Süddeutschland jetzt zu allmählichem Niedergang verurteilt wäre? Das glaubt zwar keiner der befragten Ökonomen, aber wirtschaftlicher Erfolg ist naturgemäß kein Selbstläufer. «Wenn man keine Gegenmaßnahmen ergreift, könnten wir in eine Situation geraten, in der wir länger am unteren Ende der Wachstumsskala stehen», sagt BayernLB-Chefvolkswirt Michels. «Ich denke aber auch, dass wir nach einer Schwächephase wieder zu alter Stärke zurückfinden können, wenn man rechtzeitig in Zukunftsbereiche investiert. Erste Schritte hierzu sind bereits unternommen worden.»
Zu den Zukunftsbereichen zählen BayernLB und Prognos-Institut in ihrer Studie etwa die erneuerbaren Energien und die Umwelttechnik. Deutschland insgesamt sei vom Finanzspielraum her in einer besseren Lage als beispielsweise Italien oder Griechenland und könne Investitionen in die Infrastruktur fördern, sagt Michels. «Das spielt durchaus eine Rolle.»
Eine schnelle Erholung wird es nicht geben
Im deutschen Maschinenbau schwindet indes die Hoffnung auf eine schnelle Branchenerholung. Nur 18 Prozent der Unternehmen erwarten eine Rückkehr auf das Umsatzniveau von 2019 bereits im kommenden Jahr, erklärte der Branchenverband VDMA Ende Seotember nach einer Umfrage unter 522 Mitgliedsfirmen. Mitte Juni waren es noch mehr als 30 Prozent gewesen. "Zuletzt hat sich die konjunkturelle Dynamik im Maschinenbau wieder etwas abgeschwächt, ein "V" scheint zunehmend unwahrscheinlich", sagte VDMA-Chefvolkswirt Ralph Wiechers in Frankfurt. "Viele Unternehmen rechnen mit einem länger andauernden, fragilen Weg aus der Krise und richten ihre Unternehmensstrategie danach aus."
Entscheidender Faktor für Ausmaß und Tempo der Erholung sei die Bereitschaft der Kunden, wieder zu investieren und neue Projekte anzugehen. Seit Ende Mai sei der Anteil der Unternehmen mit gravierenden Auftragseinbußen und Stornierungen zwar deutlich gesunken. "Dennoch macht die anhaltende Auftragsflaute vielen Maschinen- und Anlagenbauern weiter zu schaffen", sagte Wiechers. 80 Prozent der Firmen erwarten bei der Nachfrage in den nächsten drei Monaten keine Besserung. Es gebe jedoch auch einige Maschinen- und Anlagenbauer, die weitgehend gut durch die Krise gekommen seien und dieses Jahr wohl keine Umsatzrückgänge verbuchen würden.
Die Unsicherheit angesichts steigender Corona-Infektionen belaste auch die Investitionsbereitschaft in der Branche. Wenn überhaupt, wüchsen die Investitionen nur geringfügig. Fast jede vierte Firma habe zudem einen weitergehenden Personalabbau in die Wege geleitet oder plane das in absehbarer Zeit. "Neben Kurzarbeit (64 Prozent) und Einstellungsstopps (62 Prozent) planen etwa drei Viertel der angesprochenen Unternehmen einen Stellenabbau im Umfang von 5 bis 15 Prozent der Gesamtbelegschaft", erläutert der VDMA-Chefvolkswirt.
Die Hoffnungen ruhen auf China
Auch die Situation der Exporteure wird sich voraussichtlich wieder verbessern. Potenzial bietet nach Einschätzung von ZEW-Präsident Wambach nach wie vor China. «Die Chinesen haben ein Pro-Kopf-Einkommen von 25 Prozent des OECD-Durchschnitts. Da werden wir noch viel Wachstum sehen, und Deutschland ist sehr gut positioniert, daran teilzuhaben.» Es sei richtig, dass die internationalen Spannungen zunähmen - aber auf der anderen Seite sei das Potenzial vorhanden. «Wenn die US-Wahl und der Brexit vorbei sind, das Investitionsabkommen der EU mit China abgeschlossen ist – wenn es also positive Signale gibt, wird der Exportbereich eine Stärke bleiben.»
Das sieht Robert Lehmann vom Ifo-Institut ähnlich. «Der größte Exportmarkt für die deutsche Industrie ist nach wie vor die EU», sagt der Ökonom. «Und im europäischen Ausland sehen wir, dass die Industrien, die deutsche Produkte nachfragen, sich kräftig erholen.» Der zweitwichtigste Exportmarkt seien die USA. «Wenn es dort einen Regierungswechsel gibt, könnte der derzeitige Protektionismus auch wieder enden.»
Die Industrie selbst hält eine Abkehr von der Industrie jedenfalls nicht für sinnvoll. In der Gesamtbetrachtung führe die starke Industriestruktur zu einer dynamischeren Wirtschaftsentwicklung - und damit zu weiterhin relativ niedrigen Arbeitslosenzahlen und insgesamt deutlich höherem Wohlstandsniveau als in Bundesländern mit niedrigerem Industrieanteil, argumentiert die vbw, die Dachorganisation der M+E-Branche in Bayern.