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Psychotherapeuten-Vereinigung: "Die Bundesregierung muss umfangreich und differenziert aufklären und die Menschen beteiligen"

Die ständig schlechten Nachrichten sind eine massive Bedrohung für die psychische Gesundheit. Der Bundesvorsitzende der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung, Gebhard Hentschel, äußert sich im Gespräch mit den DWN zu den Auswirkungen der Pandemie aus therapeutischer Sicht.
28.10.2020 07:42
Aktualisiert: 28.10.2020 07:42
Lesezeit: 3 min
Psychotherapeuten-Vereinigung: "Die Bundesregierung muss umfangreich und differenziert aufklären und die Menschen beteiligen"
Corona bedeutet für viele eine immense psychische Belastung. (Foto: dpa)

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Deutschland hat eine neue Etappe bei der Bekämpfung der Pandemie erreicht und die Restriktionen wieder verschärft. Kam das für Sie überraschend?

Gebhard Hentschel: Die Zunahme der Infektionsraten kam nicht überraschend, zumindest haben Virologen bereits mit den Lockerungen der Corona-Maßnahmen im Sommer darauf hingewiesen, dass mit einer zweiten Welle im Herbst/Winter 2020 zu rechnen sei.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Die psychische Belastung ist für die gesamte Bevölkerung kaum auszuhalten. Die permanente Angst vor einer Ansteckung, die dauerhafte Isolation zuhause und das ständige Gebot, von seinem Mitmenschen Abstand zu halten, müssen Gift für die psychische Gesundheit sein. Wie bewerten Sie die Auswirkungen der Pandemie?

Gebhard Hentschel: Die psychische Belastung für die Menschen ist erheblich. Insbesondere Alleinlebende und Menschen aus Risikogruppen sind durch die Kontakteinschränkungen belastet. Es trifft Menschen, deren berufliche Existenz gefährdet ist und Kinder und Jugendliche, die für eine gesunde Entwicklung den ungezwungenen Kontakt und die Orientierung in einer Peergroup benötigen (Anmerkung der Redaktion: In der Psychologie ein Ausdruck für eine Gruppe, die großen Einfluss auf den Menschen hat – beispielsweise Gleichaltrige bei Jugendlichen). Es trifft auch die Menschen, die in Gesundheitsberufen tätig sind und täglich mit einer sehr konkreten Ansteckungsgefahr umgehen müssen. Arbeiten unter langanhaltenden Stressbedingungen kann zu einer tiefen Erschöpfung oder auch depressiven Gefühlen führen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Aus unserer Sicht orientieren sich die politisch Verantwortlichen bei ihren Entscheidungen überwiegend an der Meinung der Virologen, die einen bestimmten Ansatz zur Bekämpfung der Krankheit verfolgen. Wenn Psychotherapeuten die Vorgaben machen würden, wäre das Konzept dann anders? Gäbe es dann beispielsweise weniger Kontaktverbote?

Gebhard Hentschel: Die Strategien der Virologen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie waren bisher sehr erfolgreich, vergleicht man die Infektionszahlen und Todeszahlen mit denen anderer europäischer Länder. Die Bevölkerung hat die Maßnahmen mit einer großen Solidarität mitgetragen und umgesetzt. Die Bereitschaft in der Bevölkerung zur aktiven Beteiligung, wenn es darum geht, die Ausbreitung des Virus einzudämmen und Risikogruppen zu schützen, ist immer noch hoch und sollte auch jetzt aufgegriffen und gefördert werden. Aus der Psychologie wissen wir, dass die Mitwirkung der Bevölkerung insbesondere mit positiver Verstärkung gefördert werden kann.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was sollte die Bundesregierung in ihrer Strategie zur Bekämpfung des Virus unbedingt bedenken?

Gebhard Hentschel: Die Menschen sollten umfangreich und differenziert aufgeklärt und beteiligt werden. Die pandemische Situation und die einschränkenden Maßnahmen sind notwendig, bedeuten aber für jeden Einzelnen einen Verlust an gewohnter Struktur und Kontrolle. Ständig müssen wir uns auf neue Bedingungen einstellen. Umso wichtiger ist es, dass geltende Regelungen einheitlich, transparent und nachvollziehbar dargestellt werden, sodass die Menschen mitgenommen werden und die Möglichkeit besteht, sich eigenverantwortlich zu beteiligen. Wenn die Menschen erleben, wie sie selber wirksam gegen das Virus und die Krise werden können, ist dies das beste Gegenmittel zu Resignation und Frust in der Bekämpfung der Pandemie.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was kann jeder Einzelne tun, damit seine psychische Gesundheit durch die Pandemie keinen nachhaltigen Schaden erleidet?

Gebhard Hentschel: Sozialer Kontakt und Austausch stehen für uns Menschen an erster Stelle, wenn es um den Erhalt der seelischen Ausgeglichenheit und Gesundheit geht. Kontaktbeschränkungen regeln eine physische Distanz, nicht eine soziale Distanz. Die Menschen sollten soziale Kontaktmöglichkeiten, persönlich oder über elektronische Medien, aufsuchen und pflegen, sich austauschen mit Familie, Freund*innen und Bekannten. Miteinander zu sprechen, Gedanken und Gefühle mitzuteilen, entlastet und schafft Verständnis.

Wichtig ist auch die Aufrechterhaltung einer Tagesstruktur. Das schafft Sicherheit und Halt. Menschen im Homeoffice sollten die berufliche Tätigkeit von der Freizeit, der Zeit für Familie, Freunde und Hobby gut abgrenzen. Dazu gehört ein zeitlicher Rahmen mit festgelegten Pausen, den Raum zu wechseln und gegebenenfalls auch die Kleidung zu wechseln – so als gingen Sie morgens ins Büro, wenn Sie den Computer im Homeoffice hochfahren.

Auch für die Kinder ist eine Tagesstruktur wichtig. Eine Schul- und Lernzeit wechselt mit einer Zeit für Spielen, Freunde und Freizeit. Dabei sollten Sie den Kindern die derzeitige Situation erklären, sodass es ihnen nach und nach gelingt, der erlebten Bedrohung durch eine angemessene Haltung zu notwendigen Schutzmaßnahmen und sozialen Kontaktmöglichkeiten zu entwickeln.

Bewegung im Sport, beim Yoga oder der Spaziergang an der frischen Luft, macht den Kopf frei und sorgt für ein Gleichgewicht von seelischem und körperlichem Wohlbefinden. Gehen Sie neue Wege, entdecken Sie Wanderwege in der Region und nutzen Sie kleine Spaziergänge um den Block und im Wohnviertel.

Begrenzen Sie die aufzunehmende Informationsflut zur Corona-Pandemie. Verschließen Sie nicht die Augen vor den neuesten Entwicklungen – aber suchen Sie sich solide Informationsquellen, auf die Sie Ihr Handeln ausrichten können. Und dann: Lenken Sie sich ab. Permanentes Grübeln über die Situation bringt keinen Fortschritt, ängstigt und deprimiert. Gönnen Sie der Psyche eine Pause.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Hentschel, herzlichen Dank für das Gespräch.

Hinweis der Redaktion:

Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe bietet auf www.diskussionsforum-depression.de die Möglichkeit, Erfahrungen zum Thema auszutauschen. Das Forum wird fachlich moderiert. Menschen, die sich in einer seelischen Notlage befinden, erhalten unter 08 00 11 10 11 sowie 08 00 11 10 222 Beistand. Der Anruf ist kostenlos, 24 Stunden am Tag ist jemand erreichbar.

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