Die schwelende Finanzkrise in der Türkei scheint zunehmend außer Kontrolle zu geraten. Während der Wechselkurs der Landeswährung Lira zu US-Dollar und Euro seit einigen Wochen beinahe täglich neue Allzeit-Tiefstände markiert, verschlechtern sich auch viele andere ökonomische Kennziffern kontinuierlich. Sollte es zu Kreditausfällen im Unternehmenssektor oder einer Welle von Privatinsolvenzen kommen, wären auch europäische Banken direkt von der Krise betroffen.
Ulrich Leuchtmann, Währungsspezialist der Commerzbank, sagte den Deutschen Wirtschaftsnachrichten auf Anfrage zur Situation des Landes:
Die jüngste Abwertung der türkischen Lira hat in der Tat die Refinanzierungs-Situation insbesondere derjenigen Wirtschaftssubjekte gestresst, die in ausländischer Währung verschuldet sind. Das betrifft in der Türkei weniger den Staat als vielmehr Unternehmen und Banken. Allerdings wirkt die lockere Geldpolitik in Industrieländern bislang als Dämpfer für diese Entwicklung. Steigeden Refinanzierungsrisiken türkischer Schuldner steht ein höherer Risikoappetit in Gläubiger-Volkswirtschaften gegenüber. Natürlich, das muss so nicht bleiben, insbesondere dann nicht, wenn die Lira weiter mit ähnlicher Geschwindigkeit abwertet oder die Abwertungsdynamik sich sogar noch beschleunigt.
Insbesondere ist diesmal zweifelhaft, ob eine massive Zinserhöhung dauerhaft zur Stabilisierung der Lage führen kann. Was in 2018 klappte, muss nicht wieder gelingen. Denn etliche Marktteilnehmer dürften gelernt haben, dass die Not-Zinserhöhung damals nicht zu einer nachhaltig TRY-freundlicheren Geldpolitik führten.
In einem worst-case-Szenario kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Fremdwährungs-Finanzierung einiger türkischer Schuldner abreißt. Das würde auch Euroraum-Banken belasten. Allerdings zeigen aggregierte Daten der BIS nicht ein so hohes Exposure an, dass systemische Risiken daraus abgeleitet werden können. Eine massive TRY-Abwertung hätte das Potenzial, die Importe der türkischen Volkswirtschaft einbrechen zu lassen. Wir haben bereits in 2018 gesehen, dass das sichtbare Effekte auf die Euroraum- und deutschen Exporte insgesamt haben kann. Allerdings gilt auch hier: Andere Treiber der Euroraum-Exporte (wie die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Importnachfrage deutscher Handelspartner) sind derzeit weitaus wichtiger. Für einzelne Unternehmen mag ein möglicher Einbruch der Exporte in die Türkei signifikant sein; signifikante makroökonomische Risiken für den Euroraum erwarten wir nicht.
Lira-Absturz mit Folgen
Die größte Aufmerksamkeit schenken die Medien derzeit dem massiven Einbruch des Lira-Außenkurses. Die türkische Landeswährung hat seit Jahresbeginn etwa 53 Prozent ihres Wertes im Tauschhandel mit dem Euro und 45 Prozent zum Dollar verloren. Der Einbruch ist dramatisch: So sackte das Wechselkursverhältnis in den vergangenen 12 Monaten zum Euro von etwa 6,20 Lira auf aktuell rund 9,75 Lira ab, zum Dollar von etwa 5,80 Lira auf jetzt 8,30 Lira.
Die Folgen der Entwertung sind vielfältig: So verteuern sich dadurch erst einmal unmittelbar all jene Importe, welche in Euro oder Dollar abgewickelt werden und heizen damit die im internationalen Vergleich ohnehin schon hohe Inflation in der Türkei weiter an. Daten aus dem September zufolge liegt die Jahres-Inflationsrate derzeit bei fast 12 Prozent – Tendenz aufgrund des Lira-Verfalls steigend.
Für die Bürger bedeutet dies seit Monaten stetig steigende Kosten – insbesondere für Dinge des täglichen Bedarfs wie Lebensmittel oder Kleider – die Kostensteigerungen fressen verfügbare Liquidität auf, welche folglich nicht für mögliche andere Anschaffungen zur Verfügung steht und somit den Binnenkonsum und das Wirtschaftswachstum belastet. Zum anderen schreckt der Wertverfall der Lira ausländische Investoren ab, weil alle in Lira generierten Erlöse schnell zusammenschmelzen.
Die Schwierigkeiten im Währungsbereich dürften der wichtigste Treiber der seit einigen Monaten zu beobachtenden Kapitalflucht aus dem Land sein. So lag der Anteil ausländischer Anleihebesitzer im türkischen Anleihemarkt im Juli bei nur noch 4 Prozent – verglichen mit dem Höhepunkt im Jahr 2013 von 28 Prozent ein deutlicher Einbruch. Alleine bis August sollen Schätzungen von Bloomberg zufolge netto 12 Milliarden Dollar aus dem Land abgezogen worden sein. Paradoxerweise halten wahrscheinlich nicht zuletzt auch die von der Zentralbank zur Rettung der Lira erlassenen Verbote und Einschränkungen von Währungs- und Finanzspekulationen potenzielle ausländische Investoren und Geldgeber davon ab, im Land zu investieren.
Die Abwertung der Landeswährung hat auch Vorteile, nämlich für jene türkischen Produzenten, die ihre Waren ins Ausland exportieren. Sie genießen einen sich ständig verstärkenden Vorteil im Preiswettbewerb mit ihren Konkurrenten. Nachteilig ist jedoch, dass die wichtigsten Exportbranchen der Türkei – der Automobilsektor, Weiße Waren wie beispielsweise Waschmaschinen oder Kühlschränke sowie Textilien und landwirtschaftliche Produkte – stark vom Import ausländischer Grundstoffe oder Vorprodukte abhängig sind, was den Preisvorteil in vielen Fällen zunichtemachen dürfte. „Fast alle Materialen, die wir nutzen, wie etwa Chemikalien, Düngemittel und Treibstoffe werden importiert. Unsere Bauern werden von den Kosten erdrückt“, sagte der Vorsitzende der landwirtschaftlichen Kooperative der südtürkischen Provinz Adana vor einigen Tagen im Interview mit einer oppositionsnahen Zeitung.
Devisenreserven nähern sich der Nullmarke
Ein anderer Effekt der Lira-Schwäche trifft direkt die Staatsfinanzen. Um den Kursverfall zu verhindern oder abzuschwächen hatte die Zentralbank in den vergangenen Monaten in großem Stil eigene Dollar- und Euro-Reserven verkauft und Lira gekauft. Als Folge der Interventionen schmolzen die Devisenreserven der Türkei in bedrohlichem Maße zusammen – etwa 134 Milliarden Dollar an Fremdwährungen sollen in den vergangenen 18 Monaten verbrannt worden sein, schreibt die Financial Times unter Bezug auf Schätzungen der Investmentbank Goldman Sachs. Verbrannt deswegen, weil der Absturz der Lira höchstens hinausgezögert, aber nicht verhindert werden konnte.
Offiziellen Daten zufolge beliefen sich die Reserven ausländischer Währung Mitte Oktober auf nur noch 43 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: noch Anfang des Jahres betrugen sie etwa 80 Milliarden Dollar, Anfang 2016 noch rund 100 Milliarden Dollar.
Die sinkenden Fremdwährungsreserven sind auch eine Konsequenz aus dem Zusammenbruch des wichtigen Tourismusgeschäfts im Zuge der Corona-Pandemie. Die Zahl der Übernachtungen brach in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres um etwa 75 Prozent ein und schmälerte entsprechend den durch den Tourismussektor generierten Zufluss an Devisen, welcher sich 2019 insgesamt auf umgerechnet 35 Milliarden Dollar belaufen haben soll. Diese Einkünfte werden aber dringend gebraucht, um das inzwischen chronische Handelsbilanzdefizit auszugleichen, welches sich seit Ende des Zweiten Weltkrieges fast durchweg im negativen Bereich bewegt hatte und das im August etwa 6,3 Milliarden Dollar betrug.
Auch die weiter gefasste Leistungsbilanz der Türkei ist mit Beginn des laufenden Jahres wieder in den negativen Bereich gerutscht, nachdem ab Mitte 2018 Überschüsse erzielt werden konnten. Gegenwärtig erwarten Ökonomen ein Defizit für das gesamte Jahr in der Größenordnung von 30 Milliarden Dollar in der Leistungsbilanz.
Der Balanceakt der Zentralbank
Zum Problem-Cocktail bestehend aus Währungsverfall, den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Tourismus und defizitären Handels- und Leistungsbilanzen gesellt sich noch eine enorme Schuldenblase. Diese hatte sich in den vergangenen Jahren in den Märkten für Privat- und Unternehmenskredite gebildet, die Staatsverschuldung der Türkei stellt sich hingegen mit etwa 30 Prozent zur jährlichen Wirtschaftsleistung im internationalen Vergleich als sehr solide dar.
Der enorme Zuwachs der Verbindlichkeiten von Firmen und Bürgern resultiert aus dem schuldenbasierten Wirtschaftsmodell der Regierung. Auch heute noch fördert die Regierung in Ankara aktiv die Kreditvergabe in großem Stil und ist bei Bedarf sogar bereit, Druck auf die Zentralbank auszuüben. Teilweise extreme Werte wie der 24-prozentige Anstieg der Löhne innerhalb nur eines Jahres (Daten der britischen Barclays Bank) spiegeln die immense Kreditflut und damit einhergehende Exzesse bei der Mittelverwendung wider.
Präsident Recep Tayyib Erdogan gilt als Gegner hoher Zinssätze und wechselte den früheren Zentralbankchef Murat Cetinkaya Mitte 2019 kurzerhand aus, nachdem dieser eine aus Sicht des Präsidenten zu straffe Geldpolitik gefahren hatte. Die Entlassung Cetinkayas wirkt noch immer nach. Denn viele Analysten und Investoren glauben seitdem nicht mehr, dass die Zentralbank unabhängig von politischen Weisungen ist – ein weiterer Faktor, der auf dem Wechselkurs der Lira lastet. Cetinkayas Nachfolger Murat Uysal senkte die Leitzinsen schließlich schrittweise von 24 Prozent auf 8,25 Prozent.
Besonders riskant sind in Fremdwährung aufgenommene Kredite, weil diese aufgrund des Lira-Verfalls immer schwieriger zu bedienen sind. Türkischen Firmen sollen insgesamt Verbindlichkeiten in fremder Währung von 246 Milliarden Dollar in den Büchern haben. Berichten der Financial Times zufolge müssen türkische Banken und Unternehmen zwischen August 2020 und Juli 2021 zudem Kredite im Gesamtumfang von etwa 170 Milliarden Dollar zurückzahlen. Auch viele Bürger haben (Fremdwährungs-)Kredite aufgenommen und kommen damit nun unter die Räder.
Eigentlich müsste die türkische Notenbank die Leitzinsen deutlich über das Inflationsniveau von derzeit rund 12 Prozent anheben, um renditesuchenden Investoren die Rückkehr ins Land zu ebnen und den Kursverfall der Lira zu stoppen. Weil dies aber zu Konflikten mit der politischen Führung führen würde, gleicht die Geldpolitik einem Balanceakt, der bisweilen zu einem sonderbaren Zickzackkurs führt. So hob Uysal den Leitzins Ende September von 8,25 auf 10,25 Prozent an, was zu deutlichen Kursanstiegen der Lira führte, hielt bei der darauffolgenden Sitzung Ende Oktober jedoch die Füße still, was den neuerlichen Ausverkauf der Landeswährung ausgelöst haben soll.
Geopolitische Abenteuer: Sanktionen im Tausch für innenpolitischen Zuspruch?
Zusätzlich verkompliziert werden die beschriebenen Fehlentwicklungen im Finanzsystem und in der Realwirtschaft durch die geopolitisch motivierte Außenpolitik der Regierung. Unübersehbar ist, dass Ankara seit mehreren Monaten eine konfrontative Haltung in der Region des gesamten Nahen Ostens eingenommen hat.
Diese äußert sich konkret in einem spannungsgeladenen Verhältnis zur EU in der Migrationsfrage, dem Konflikt mit Griechenland und Zypern wegen Energievorkommen im östlichen Mittelmeer, der Beteiligung am Stellvertreterkrieg in Libyen, dem Engagement im Stellvertreterkrieg in Syrien, der Unterstützung Aserbaidschans im Bergkarabach-Krieg, dem Kauf russischer S-400-Raketensysteme sowie der jüngsten Eskalation im Verhältnis zu Frankreich.
Beobachtern zufolge zielt Erdogan darauf ab, die außenpolitische Spannung in innenpolitische Zustimmung umzumünzen, um sich als starker Mann und Beschützer der Nation in Szene zu setzen und die jüngst von der Opposition erzielten Wahlerfolge (insbesondere in den Metropolen) zu neutralisieren.
Umfragen zufolge konnte die AKP-Regierung tatsächlich Boden in den vergangenen Wochen gutmachen. Erkauft werden diese innenpolitischen Triumphe allerdings mit einer gestiegenen Wahrscheinlichkeit, dass die Europäische Union oder die US-Regierung Sanktionen erlassen werden. Auch wenn diese nie kommen sollten, so wirkt allein die Möglichkeit der Verhängung von Strafmaßnahmen wie ein Damoklesschwert, welches die Risikoaversion von Investoren nährt und den dringend benötigten Import von Kapital ins Land (siehe die strukturellen Handelsbilanz- und Leistungsbilanzdefizite) behindert.
Europäische Banken in der Türkei
Sollte die seit Langem schwelende Finanzkrise eskalieren, werden die Auswirkungen auch in europäischen Banken zu spüren sein. Denn kommt es zu einer Welle an Kreditausfällen im Privatkunden- und/oder Unternehmensbereich, drohen den heimischen Banken hohe Abschreiber – Banken, an denen sich mehrere europäische Institute beteiligt haben.
Bekannt ist etwa, dass die spanische BBVA an der zweitgrößten Bank der Türkei, der Türkiye Garantie Bankasi, beteiligt ist – ebenso wie die Banco Bilbao Vizcaya Argentaria. Für die Franzosen ist die BNP Paribas sehr aktiv, für die Italiener die Unicredit-Gruppe, für die Briten die HSBC und für die Niederländer die ING Groep. In allen Fällen handelt es sich um Beteiligungen im mittleren bis niedrigen zweistelligen Milliardenbereich.
Mögliche Kreditausfälle würden demnach europäische Banken zur Unzeit treffen – nämlich wenn diese ohnehin aufgrund der Lockdown-Politik ihrer Regierungen mit massiven Ertragseinbrüchen rechnen müssen. „Die von der Türkei ausgehenden Risiken für Europa manifestieren sich in den Rückkopplungseffekten, die sich aus den Investitionen europäischer Banken in türkischen Instituten ergeben. Der vom Corona-Stillstand ausgelöste Schock ist viel schwerwiegender, als die Stresstests der EZB es abbilden und deshalb ist das Bankensystem ohnehin angeschlagen“, zitierte Bloomberg jüngst einen Hedgefonds-Insider zum Thema.
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