Politik

"Europa braucht Bodentruppen": Die US-Einheiten müssen bleiben - und Deutschland muss mehr in seine Verteidigung investieren

Deutschland, Frankreich und die USA müssen sich zusammenraufen, wenn sie ihr gemeinsames Ziel - die Gewährleistung der Sicherheit Europas - erreichen wollen. Das schreibt der Ökonom und Geopolitiker Melvyn Krauss in einem meinungsstarken Beitrag.
19.12.2020 09:53
Lesezeit: 4 min
"Europa braucht Bodentruppen": Die US-Einheiten müssen bleiben - und Deutschland muss mehr in seine Verteidigung investieren
Zwei Scharfschützen bei der Übung «Landoperationen 2017» im niedersächsischen Bergen. (Foto: dpa) Foto: Philipp Schulze

Die Nominierung des erst kürzlich in den Ruhestand getretenen 4-Sterne-Generals Lloyd Austin als Verteidigungsminister durch den designierten US-Präsidenten Joe Biden ist ein weiteres begrüßenswertes Signal, dass Amerika wieder zur Vernunft gekommen ist und nach dem 20. Januar nicht länger versuchen wird, seine Freunde zu bestrafen und seine Feinde zu belohnen. Um diesen Wandel zu demonstrieren, sollte Biden unmittelbar nach seinem Amtsantritt Präsident Donald Trumps Anordnung zum Abzug von 12.000 US-Soldaten aus Deutschland vom vergangenen Juli aufheben.

Ohne dass es die USA einen Cent kosten würde, würde sich Biden damit auf dramatische Weise von Trumps Isolationismus distanzieren und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin bei seiner Strategie des divide et impera in Europa in die Parade fahren. Die Abkehr vom Truppenabzug würde zudem die NATO, Deutschland und Bundeskanzlerin Angela Merkel – deren potenzieller Nachfolger von der CDU Mitte Januar bestimmt werden soll – bei ihrem Kampf gegen Putin und einheimische antiwestliche Populisten stärken.

Trump behauptet, wolle er die US-Truppen abziehen, weil Deutschland die NATO bei den Verteidigungsausgaben übers Ohr gehauen habe, was Amerika zwinge, den Fehlbetrag auszugleichen. Aber das ist Unsinn. Und als jemand, der diesen Unsinn früher selbst vertreten hat, sollte ich das wissen.

Jahrzehntelang war es republikanischen und demokratischen Präsidenten egal, dass Amerika - anteilmäßig - deutlich mehr für die NATO ausgab als Deutschland. Eine Weile war ich überzeugt, dass die USA das stören sollte; daher schrieb ich 1986 How NATO Weakens the West (Wie die NATO den Westen schwächt), ein Buch über deutsche Trittbrettfahrerei im Bereich der Verteidigung. Ich hatte mich derart in diese Vorstellung verrannt, dass ich zudem einen Kommentar für das Wall Street Journal mit dem Titel „It’s Time to Change the Atlantic Alliance“ (Es ist Zeit, das Atlantische Bündnis zu ändern) schrieb.

Doch hätte ich mir nie träumen lassen, dass Trump mein inzwischen uraltes strategisches Argument als Abrissbirne nutzen würde, um die Solidarität innerhalb der NATO zu zerstören und Putin zu stärken. Es mag stimmen, dass Deutschland nicht genug für seine Verteidigung ausgibt; die Franzosen jedenfalls sind davon überzeugt. Doch das Argument, dass Deutschland die USA mit seinen sparsamen Verteidigungsausgaben zum Narren halte, ist lediglich ein Feigenblatt für Trumps Entschlossenheit, Putin zu belohnen und Merkel zu maßregeln. Putin wünscht sich seit langem eine Verringerung der US-Truppenpräsenz in Europa, und in Trump hatte er einen US-Präsidenten gefunden, der bereit war, mit ihm zu kollaborieren.

Mein eigenes Denken über die NATO und den deutschen NATO-Beitrag begann sich kurz nach Veröffentlichung meines Buches weiterzuentwickeln. Bei Werbemaßnahmen für das Buch hatte ich eine Diskussion mit Lawrence Eagleburger, der dann unter Präsident George H.W. Bush US-Außenminister wurde, und traf viele ernstzunehmende, gut informierte Militärs. Ich erkannte, dass für die USA die Kontrolle über Struktur und Zweck der europäischen Verteidigung, und nicht die Kosten, am wichtigsten waren (das gilt nach wie vor). Die transatlantische „Übereinkunft“ während der Ära des Kalten Krieges bestand laut den meisten US-Militärexperten darin, dass Amerika im Gegenzug für seine bestimmende Rolle innerhalb der europäischen Verteidigung den Löwenanteil der NATO-Kosten übernehmen würde.

Ich ließ den – aus meinem Wunsch nach einem effektiven transatlantischen Bündnis herrührenden – Gedanken „Die Deutschen verkaufen uns für dumm“ fallen, als ich den konservativen Populismus aufgab, der mein frühes Denken beeinflusst hatte. Zudem zeigen die Entwicklungen der 1980er Jahre, dass die Militärexperten, die mein Buch kritisierten, Recht hatten. Es ging bei den transatlantischen Streitigkeiten dieser Zeit nicht um Geld, sondern vielmehr um Fragen wie die Stationierung von Pershing-II-Raketen in der Bundesrepublik, um den ballistischen Raketen der Sowjetunion Paroli zu bieten. Die Bundesrepublik zauderte in dieser Frage, vor allem aufgrund der problematischen deutschen Geschichte und der starken Friedensbewegung.

Nach einer Menge Tumult und dank der Führungsstärke des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Helmut Schmidt und seines CDU-Nachfolgers Helmut Kohl wurden die Pershing-II-Raketen im Jahr 1983 stationiert. Und sie erfüllten ihren Zweck: Im Rahmen der Verhandlungen 1987 über den INF-Vertrag mit der Sowjetunion, einem zentralen Vertrag zur Verringerung der nuklearen Bedrohung, waren sie eine wichtige Verhandlungsmasse. Die NATO gab sie dort auf, und sie wurden dann verschrottet; Gerüchten zufolge wurde ein Teil des Schrotts zu Kugelschreibern für die Ronald Reagan Presidential Library verarbeitet, die sie als Geschenke verteilte.

Obwohl Trump es nicht geschafft hat, die deutschen Verteidigungsausgaben in den USA zu einem wichtigen politischen Thema zu machen, entwickelten sie sich in Europa zu einer strittigen Frage. In einem jüngsten Interview mit der Zeitschrift Le Grand Continent hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron – ein eingefleischter Befürworter stärkerer europäischer Souveränität im Bereich der Verteidigung – Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer scharf kritisiert, weil sie in Politico einen Kommentar mit dem Titel „Europe still needs America“ (Europa braucht Amerika noch immer) veröffentlicht hatte. Europa würde Amerika weniger brauchen, so deutete Macron an, wenn Deutschland mehr für Verteidigung ausgeben würde.

Es ist eindeutig schlecht für die NATO und die Einheit der EU, wenn sich die beiden wichtigsten Mitglieder der Union über Amerikas Rolle in Europa uneinig sind. Das westliche Bündnis braucht eine US-Sicherheitsgarantie für Deutschland und andere europäische Länder. Aber dies darf nicht auf Kosten einer deutsch-französischen Spaltung gehen; das wäre ein weiteres Geschenk an Putin.

Frankreich und Deutschland müssen ihr Zerwürfnis im Bereich der Verteidigung beilegen, und Amerika muss seine Sicherheitsgarantie für Europa aufrechterhalten. Der Kontinent braucht US-Bodentruppen, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Baltischen Staaten. Ein möglicher Ausweg bestünde darin, dass Deutschland mehr zu den europäischen Verteidigungshaushalten beitrüge und so für das von Frankreich angestrebte Maß an Unabhängigkeit sorgt, während es zugleich die US-Truppen behält, die es haben will.

Biden könnte diesen Prozess der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland – und, wichtiger noch, zwischen den USA und ihren NATO-Partnern – in Gang bringen, indem er Trumps geplanten Truppenabzug stoppt. Er könnte den daraus resultierenden Einfluss nutzen – und auch seine persönlichen Kontakte (Biden nimmt seit Jahrzehnten an der Münchener Sicherheitskonferenz teil und kennt fast alle wichtigen deutschen Außenpolitiker) –, um Deutschland zu überreden, mehr für die europäische Verteidigung auszugeben. Das Hauptziel eines derartigen Engagements bestünde nicht darin, Amerika besänftigen, sondern vielmehr, eine Einigung mit Deutschlands wichtigsten europäischen Partner, nämlich Frankreich, zu erzielen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Melvyn Krauss ist Senior Fellow an der Hoover Institution der Universität Stanford.

Copyright: Project Syndicate, 2020.

www.project-syndicate.org

Lesen Sie morgen in der großen DWN-Analyse:

  • Wie die Bundesregierung die Zahlen ihres Wehretats frisiert, um die Bevölkerung zu beruhigen
  • Wie Deutschlands Wehretat wächst - allen anderslautenden Behauptungen zum Trotz
  • Wie Deutschland und Frankreich das teuerste Rüstungsprojekt aller Zeiten vorantreiben
  • Wie die USA ihre Nato-Kosten senken, ihre Kontrolle über das Bündnis aber aufrechterhalten wollen

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen MTS Money Transfer System – Sicherheit beginnt mit Eigentum.

In Zeiten wachsender Unsicherheit und wirtschaftlicher Instabilität werden glaubwürdige Werte wieder zum entscheidenden Erfolgsfaktor....

X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.

E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung sowie die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

avtor1
Melvyn Krauss

Melvyn Krauss ist emeritierter Professor der "New York University" und leitender Mitarbeiter der Denkfabrik "Hoover Institution". 
DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Europas Industrie im Umbruch: Produktion wächst, Aufträge und Beschäftigung sinken
05.11.2025

Die Industrie in Europa zeigt ein uneinheitliches Bild. Einige Länder steigern ihre Produktion, während andernorts Aufträge und...

DWN
Technologie
Technologie „DeepL Agent“: Start-up DeepL startet autonomen KI-Agenten
05.11.2025

Der Kölner KI-Übersetzungsspezialist DeepL hat bislang selbst großen Tech-Konzernen erfolgreich die Stirn geboten. Nun fordert das...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Stellenabbau Mittelstand: Jedes vierte Familienunternehmen baut Jobs ab
05.11.2025

Auch bei den Familienunternehmen in Deutschland sind zunehmend Jobs in Gefahr: 23 Prozent der Unternehmer wollen in diesem Quartal...

DWN
Politik
Politik New York: Demokrat Mamdani wird Bürgermeister - eine Niederlage für US-Präsident Trump
05.11.2025

Die liberale Hochburg New York bekommt einen neuen Bürgermeister: Zohran Mamdani ist 34 Jahre alt, Muslim – und präsentiert sich schon...

DWN
Technologie
Technologie Reduzierung von CO2: Deutsche Bahn setzt erstmals Schienen aus „grünem“ Stahl ein
05.11.2025

Die Deutsche Bahn schließt einen Liefervertrag mit dem saarländischen Hersteller Saarstahl für klimafreundlich produzierte Schienen....

DWN
Unternehmen
Unternehmen Hybrides Arbeiten: Freiheit mit Nebenwirkungen? Wie Flexibilität nicht zur Belastung wird
05.11.2025

Homeoffice und Büro im Wechsel galten lange als Zukunftsmodell. Doch die vermeintliche Freiheit zeigt zunehmend Risse – von sinkender...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Black Friday 2025: So tricksen Händler Kunden weltweit aus
05.11.2025

Die Jagd nach Schnäppchen wird zur Täuschung. Immer mehr Händler erhöhen ihre Preise schon Wochen vor dem Black Friday, um sie später...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Rennen um autonomes Fahren: VW baut in China eigene KI-Chips
05.11.2025

Sorgen vor ausbleibenden China-Chiplieferungen und Entwicklungsdruck bei autonomem Fahren plagen die Autoindustrie. Warum VW nun einen...