Politik

Schweizer Dilemma: Wälder sollen Autobahnen weichen

In Kanton Bern soll ein Teil des Waldes für Wohnungen gerodet werden. Die Wirtschaft fordert mehr Straßen, weil die Infrastruktur der extremen Mobilität nicht standhält. Doch die Gegner machen mobil: In der Schweiz stellt sich die Frage, ob das Land Wachstum oder Lebensqualität braucht.
29.10.2013 01:27
Lesezeit: 2 min

Immer mehr Menschen leben in der Schweiz. Durch Zuwanderung und Geburtenüberschuss bekommt die Schweiz 100.000 neue Einwohner pro Jahr. Die Bevölkerung wächst stetig und wird im Jahr 2035 die zehn Millionen Einwohnergrenze überschreiten. Das bringt Herausforderungen in der Städteentwicklung und der Verkehrspolitik mit sich. Unterschiedliche Konzepte lassen erkennen, dass es in der Schweiz grundlegende Veränderungen geben wird, um diese Herausforderungen zu meistern.

Der Wohn- und Lebensraum in der Schweiz ist begrenzt. Der Regierungspräsident des Kantons Bern, Christoph Neuhaus, fordert daher eine „Flexibilisierung der Waldfläche. Man muss sich überlegen, ob der Kanton Bern die 700 Hektaren Wald, die in den letzten zehn Jahren zusätzlich wuchsen, kompensieren kann, sagte Neuhaus einem Bericht von Sonntag Online zufolge. Ein Teil des Waldes im dicht besiedelten Mittelland, solle für neue Wohn- und Arbeitsviertel gerodet werden.

In den nächsten 20 Jahren werden 1,3 Millionen neue Wohnungen gebraucht. Viele Schweizer sind für den Bau neuer Hochhäuser. Mit den Einwohnerzahlen steigt auch das Verkehrsaufkommen. Wirtschaftsvertreter wollen das Straßennetz ausbauen. „Es braucht deutlich mehr Kapazitäten, auch bei den Autobahnen. Es braucht mehr Parkplätze“, sagte Morten Hannesbo, Chef der Amag-Gruppe. „Die Schweiz wächst, die Bevölkerung wächst, die Wirtschaft wächst“, der Ausbau des Straßennetzes dürfe daher nicht gebremst werden. Die Schweiz müsse das Wachstum umarmen.

Ganz anders sehen das die Vertreter alternativer Verkehrskonzepte, die im Richtungsstreit um die Entwicklung des Landes für den Erhalt Schweizer Waldflächen plädieren.

Wie etwa ETH-Professor und Verkehrsexperte Anton Gunzinger. Mobilität soll verteuert werden, um das Verkehrsvolumen zu reduzieren: In diesem System (Mobility Pricing) zahlen die Verkehrsteilnehmer die vollen Kosten oder einen größeren Anteil als bisher. Eine Reduzierung des Betrages von 3.000 auf 800 Franken, die Pendler von den Steuern abziehen können, ist jedoch im Parlament gescheitert.

„Die Mobilität macht inzwischen 40 Prozent des Energieverbrauchs in der Schweiz aus“ sagte Günzinger dem Tagesanzeiger. „Wir müssen das System umkehren, also jene belohnen, welche die Ressourcen schonen. „Die Automobilität ist der größte Landverbraucher der Schweiz.“

Die Fläche für Infrastruktur beanspruche drei Mal so viel Platz wie die Wohnfläche der Schweiz. Der öffentliche Verkehr wächst überdurchschnittlich, der motorisierte Individualverkehr behält aber seine dominante Stellung. Die Staus in der Schweiz kosten jährlich 1,2 Milliarden Franken. Im Kanton Zürich werden sich die Kosten bis 2025 mehr als verdoppeln. Pro Jahr fließen 4,5 Milliarden Franken in neue Infrastrukturprojekte, die Unterhaltungskosten betragen 3 Milliarden Franken. Das ist deutlich zu viel für Gunzinger.

Den Systemwechsel hält er für möglich, weil die Autofahrer überwiegend kurze Strecken zurücklegen. Solche „Entfernungen lassen sich problemlos zu Fuß, per Velo oder mit dem ÖV zurücklegen.“ Die Politiker dürften keine Angst davor haben, abgewählt zu werden. Wegen des maßlosen Verhaltens würden nachfolgende Generationen „uns deshalb dereinst als dekadente Schweine bezeichnen“, so Gunzinger.

Parkplätze sollen reduziert werden, Betriebe sollen helfen, vom Dogma Autofahren wegzukommen. Die Fahrzeugsteuer soll auf den Benzinpreis umgelegt werden. Unfallkosten und Kosten für die Kantonalstraßen ebenso. Kantons- und Gemeindesteuern sinken. Bis 2020 sollen eine Gemeingutabgeltung für Raum Lärm an alle Einwohner zurückerstattet werden. Das alles führt jedoch zu einem Anstieg des Literpreises für Benzin um das Fünffache, auf etwa zehn Franken. Der Preis für Bahnfahrten würde sich verdoppeln.

Wie die Schweiz in Zukunft aussehen soll, ist unklar. Die Debatte um die Entwicklung des Landes ist aber im vollen Gange.

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