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Großbritannien ist endlich frei - der Rest von Europa verbleibt im starren Korsett der EU-Bürokratie

Lesezeit: 6 min
02.01.2021 10:01  Aktualisiert: 02.01.2021 10:01
DWN-Kolumnist Roland Barazon argumentiert, dass es Großbritannien nach dem Brexit besser gehen wird.
Großbritannien ist endlich frei - der Rest von Europa verbleibt im starren Korsett der EU-Bürokratie
Ein patriotischer Brite freut sich über den Brexit. (Foto: dpa)

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Das Gezerre um den Austritt Großbritanniens aus der EU ist endlich vorbei. Das Vereinigte Königreich ist von den Fesseln der Union befreit, vor allem England findet zu sich selbst. Schottland bedauert den Austritt, und auch Nordirland ist skeptisch, ob das Verhältnis zu Irland sich gut einspielen wird, doch insgesamt geht das Inselreich nun seinen eigenen Weg. Die entscheidenden Fragen sind gelöst: Zwischen der EU und dem UK funktioniert weiterhin der freie Handel. Im Finanzbereich, in dem Großbritannien international führend ist, gilt der freie Kapitalverkehr. Touristen können ohne Visum drei Monate im Vereinigten Königreich unterwegs sein. Arbeiten im UK wird man jedoch nur mehr unter bestimmten Bedingungen und mit entsprechenden Genehmigungen können, das Gleiche gilt für die Briten auf dem Kontinent. Und auch in den Bereichen, wo eigentlich Freiheit vereinbart wurde, kommt es zu Hürden: Für die Jahre 2021, 2022 und 2023 gilt noch eine Übergangsfrist, in der die Bürokratie von beiden Seiten wuchern wird, bei einigen Position sogar noch für 2025 und 2026.

In Brüssel wird die entscheidende Frage nicht gestellt: Warum ist Großbritannien ausgetreten?

Man könnte zur Tagesordnung übergehen und zur Kenntnis nehmen, dass in Zukunft Großbritannien wie die Schweiz und Norwegen ein weiteres europäisches Land mit demokratischer und marktwirtschaftlicher Verfassung ist, aber nicht Mitglied der EU. Damit ist es aber nicht getan. In der EU wird die entscheidende Frage nicht gestellt und nicht beantwortet: Warum ist Großbritannien ausgetreten? In Brüssel wird die Aktion als Ausdruck allgemeiner britischer Verwirrung abgetan und stereotyp erklärt, man werde es jenseits des Ärmelkanals noch bereuen. Man hört nicht zu, wenn der britische Premierminister Boris Johnson davon spricht, dass das Vereinigte Königreich seine Souveränität zurückerobert hat.

Das Wort Souveränität ist der Schlüssel. Die EU-Kommission hat sich zu einem unerträglichen Moloch entwickelt, der ganz Europa mit oft unsinnigen Vorschriften quält und deren Einhaltung mit gigantischen Strafen durchsetzt. Und diese Politik ärgert nicht nur die Briten. In Brüssel wurde auch nicht zur Kenntnis genommen, dass Frankreich und die Niederlande bereits 2005 in Volksabstimmungen die damals vorgeschlagene EU-Verfassung ablehnten, um eine Stärkung der Zentralbehörden zu unterbinden. Dass in der Folge trickreich der Zentralismus über die Hintertüre mit dem Lissabonner Vertrag ab 2009 ausgebaut wurde, rächt sich nun: Die Briten sind gegangen, Polen und Ungarn sind immer noch in der EU, doch ignorieren sie als Mitglieder der Gemeinschaft die Gemeinschaftsregeln und die Vorgaben der Zentralstellen. In Italien wurde knapp eine Anti-EU-Regierung verhindert.

Die EU müsste schon längst und spätestens jetzt nach dem Brexit eine umfassende Reform starten, die den Haufen von 27 in alle Richtungen strebenden Staaten zu einer funktionierenden demokratischen und liberalen Organisation macht. Davon ist aber nicht einmal die Rede, von einer entsprechenden Absicht oder gar einem Konzept schon gar nicht. Man interessiert sich mehr dafür, wie denn England sich in Zukunft aufstellen will, und blickt gespannt über den Kanal, was auf der Insel wohl passiert. In einem irrt man sich: Dann die Briten schon den Austritt bedauern.

Großbritannien schließt derzeit ein Handelsabkommen nach dem anderen ab

In dem traditionell liberalen England gilt der freie Handel als Grundprinzip. Seit längerem erweist sich aber die britische Industrie als zu schwach, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können, und so kommt es kontinuierlich zu extrem hohen Handelsbilanzdefiziten. Auch zugunsten der restlichen EU und besonders zugunsten von Deutschland. Somit war es grotesk, dass das EU-Verhandlungsteam ständig den Briten gedroht hat, man werde Zollmauern nach dem Brexit hochziehen, womit man sich selbst mehr geschadet hätte. Auch die in der nun beginnenden Übergangsperiode verbleibenden Beschränkungen werden nicht halten, weil sie die Exporte vom Kontinent zur Insel behindern.

Weltweit ist die Londoner Regierung unterwegs, um das große Netz von Handelsbeziehungen im Rahmen des Commonwealth wieder stärker zu aktivieren und auch mit anderen Partnern neue Verträge abzuschließen. Die bereits lange Liste neuer Abkommen reicht von Kanada über Japan bis zur Schweiz und Israel. Allerdings wird UK in allen Beziehungen unter seiner industriellen Schwäche leiden.

Attraktive Perspektiven für die Londoner City und die britischen Banken

In den Tagen rund um den Abschluss des Brexit-Abkommens ertönte ein Klageruf, wonach man die Interessen der City of London nicht berücksichtigt hätte. Dieser Ruf kann wohl nur als Schutzbehauptung gewertet werden. Tatsächlich statuiert das Abkommen den freien Kapitalverkehr zwischen der EU und UK. Somit wird das Londoner Finanzzentrum blühen wie bisher und vermutlich noch besser abschneiden, weil es sich nicht mehr gegen die - allerdings meist sowie zahnlosen - Attacken der EU-Kommission wehren muss. Aus der City werden die vielen Steueroasen auf britischen Inseln rund um den Globus organisiert, die schon beim Beitritt Großbritanniens zur EU 1972 außen vor geblieben sind und nun nicht einmal mehr indirekt aus Brüssel behelligt werden können. Die Halbinsel Gibraltar an der Südspitze Spaniens ist seit 1713 britisches Gebiet und soll nach den Wünschen von Brüssel nun in einem Sondervertrag an die Union gebunden werden, damit nicht zwischen Spanien und Gibraltar eine EU-Außengrenze entsteht. Aus London kommen zwar zustimmende Signale, wenn aber Brüssel nicht klug agiert, macht London noch das 1,5 Quadratkilometer kleine Eiland zu einer weiteren Steueroase.

Aber nicht nur für die Steuersparer wird sich der Weg zu einer britischen Bank lohnen. Das Königreich verabschiedet sich jetzt auch von den EU-Bankregeln, die die Aufnahme eines Kredits und andere Transaktionen zu einer mühsamen Odyssee machen. Somit ist zu erwarten, dass die oft und laut beschworene Abwanderung der Banken aus Großbritannien nicht stattfinden wird, sondern dass sich das Gegenteil abzeichnet. Die Banken der EU-Staaten sind seit der Finanzkrise 2008 schon gegenüber den US-amerikanischen Konkurrenten weit zurückgefallen: Während jenseits des Atlantiks Umsätze und Gewinne blühen, stolpern die europäische Institute durch eine Periode der Stagnation und der Verluste. Die Entwicklung wurde nicht zuletzt durch die US-Regulierung begünstigt, die Spekulationen bremst und das Kommerzgeschäft begünstigt – im Gegensatz zu den europäischen Bedingungen. Jetzt stehen die Zeichen zugunsten der britischen Banken, die von jedem Kontinentaleuropäer in einer minimalen Flugzeit zu erreichen sind.

Das Fliegen zwischen dem Inselreich und dem Kontinent wird, so steht es im Vertrag, auch in Zukunft nicht behindert. Also werden auch die beliebten Einkaufs-Trips nach London weiter stattfinden, zumal man drei Monate ohne Visum im Königreich unterwegs sein kann. Kurzum, der Kontinentaleuropäer wird ungehindert exportieren, einen Kredit aufnehmen und ein verlängertes Wochenende in London oder Brighton oder auch im EU-freundlichen Edinburgh verbringen können.

Die Bürokraten haben nun ein vielfältiges Betätigungsfeld

Also alles bestens? Nicht ganz. Denn bei all diesen Freiheiten besteht die Möglichkeit für beide Seiten, für das United Kingdom und für die EU „bei Bedarf, unter Umständen“ bürokratische Behinderungen zu erfinden, zumal nicht nur die EU einen schrecklichen Regulierungs-Fetischismus entwickelt hat, sondern auch die Briten bei aller Liberalität unendlich mühsam sein können.

Ein Beispiel aus dem traditionell protektionistischen Frankreich: Als Ausgleich für die Freiheit von Zöllen und Quoten werden die französischen Behörden besonders genau kontrollieren, ob die Waren aus UK bei den Produktions-, Hygiene-, Umwelt- und sonstigen Standards den Vorgaben der EU entsprechen. Aus den Verhandlungen: Man wird genau darauf achten, ob die gegenseitigen Lieferungen tatsächlich aus den Partnern EU und UK kommen und nicht aus einem Drittland oder zu welchem Anteil sie aus einem Drittland stammen. Also: Genug Möglichkeiten, um den freien Handel unfrei zu machen.

Die Niederlassungsfreiheit gibt es zwischen UK und EU nicht mehr

Während sich die Abläufe beim Handel, den Finanzen und dem Tourismus nach kurzer Zeit den Bürokraten zum Trotz einspielen werden, gilt das nicht in anderen Bereichen. Vor allem für die Beschäftigten wird es schwierig. Großbritannien hat zwar seit längerem ein Anmeldesystem laufen, das vielen EU-Bürgern bereits die Möglichkeit eröffnet hat, im UK zu bleiben, doch eines ist klar: Es gibt die Niederlassungsfreiheit nicht mehr, die allen EU-Bürgern den Zugang zum britischen Arbeitsmarkt ermöglicht hat. Jetzt entscheidet die jeweilige Regelung aus London, ob man kommen oder bleiben darf. Das Gleiche gilt umgekehrt für die Briten auf dem Kontinent. Großbritannien hat jetzt die Entscheidungsfreiheit in der Ausländerpolitik, die sich viele Regierungen in der verbleibenden EU wünschen.

Englisch lernen und im United Kingdom studieren wird teuer

Das große Atout des Landes bleibt die Sprache, die de facto jede und jeder auf dem Globus heute können sollte. Somit ist die Nachfrage nach Sprachkursen in England groß. Außerdem ist auch ein Studium im Königreich attraktiv. Schon bisher waren die Preise der Sprachschulen nicht gerade niedrig. Vor allem sind die Gebühren der Universitäten hoch, aber die EU-Europäer genossen bisher noch die Vorteile der niedrigeren Sätze für Inländer. Ab jetzt gelten die Tarife für Ausländer, die für viele unerschwinglich sind. Dazu kommt, dass in den Universitätsstädten die Mieten hoch sind. Der Weg zur perfekten Beherrschung der englischen Sprache ist nun mit teuren Stolpersteinen gepflastert. Wie es derzeit aussieht, werden auch die Erasmus-Programme der EU den Jungen nicht mehr den Weg nach England erleichtern.

Die Rechtsanwälte werden über den Brexit jubeln

Großbritannien hat zwar durchgesetzt, dass künftig britisches Recht maßgeblich ist und die Urteile britischer Gerichte gelten, doch ist dies angesichts zahlloser Verträge und Auseinandersetzungen auf den verschiedensten Ebenen nicht einfach über Nacht zu realisieren. Die Neuordnung wird noch Jahre dauern. Außerdem werden weiterhin die Beziehungen zwischen den Staaten und zwischen Firmen sowie die Regelungen innerhalb der Konzerne und anderes mehr rechtlich zu regeln sein. Die EU-Bestimmungen und EU-Gerichte, die nationalen Rechtsordnungen der einzelnen EU-Staaten und die britischen Gesetze und Gerichtspraktiken werden das ohnehin reiche Betätigungsfeld für Rechtsanwälte, vor allem für Advokaten, die diesseits und jenseits des Ärmelkanals akkreditiert sind, noch kräftig erweitern.

Angesichts der zahlreichen vielschichtigen Themen ist es erstaunlich, dass man wochenlang über die Rechte der Fischer diskutiert hat, obwohl diese Branche nur eine geringe wirtschaftliche Bedeutung hat. Jetzt hat man einfach die Fangquoten nach bisherigen Erfahrungen für fünf Jahre festgelegt. Dann mögen Frankreich und England eine Lösung finden. So pragmatisch und einfach agieren Verhandlungsteams nur, wenn sie nicht mehr weiter wissen. Und so wird man alle noch offenen Fragen zwischen UK und EU lösen – so kräfte- und zeitraubend die Streitereien auch sein mögen.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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